Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 8,87 €
Produktdetails
  • Verlag: McSweeney's
  • ISBN-13: 9781934781135
  • Artikelnr.: 23539392
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2009

Ich bin am Leben und du bist am Leben
Niemand weiß genau, was in Darfur vor sich geht, deswegen hat der Schriftsteller Dave Eggers die Methode der Oral History bemüht
Das Buch geht sofort an die Nieren. Im wörtlichen Sinne: „In den Krankenhäusern in Kairo setzen die Ärzte den Kaiserschnitt höher an als hier in Amerika. Sie machen den Kaiserschnitt und nehmen dabei eine Niere raus. Sie stehlen sie dir einfach. Viele sudanesische Frauen, die in Kairo entbunden haben und hier nochmal schwanger werden, hören von den Ärzten nach dem Ultraschall diese Frage: ,Wo ist denn Ihre Niere?’ Gut, ich bin also in dieses Krankenhaus gegangen und habe am 27. Juni 1999 meinen Sohn Majak per Kaiserschnitt zur Welt gebracht.”
Abuk Bak Macham stammt aus einem kleinen Dorf im Süden des Sudan. Als Kind hütete sie Kühe, es gab keine Schule, wie hätte sie da je von einer Sudan People’s Liberation Army hören sollen? Deren Soldaten standen eines Morgens, Abuk war zehn, bei ihnen im Hof, erschossen den Großvater und die Hälfte des Dorfes, banden die Überlebenden an den Hälsen zusammen und brachten sie in einem Tagesmarsch zu einem Pferdemarkt, wo Abuk Bak Macham noch am selben Tag an einen Mann namens Mohammed Adam verkauft wurde, in dessen Haus sie dann als Sklavin arbeitete.
Zehn Jahre kein Wort
Der Terminus Oral History wird oft übersetzt als Geschichte von unten. In diesem Fall trifft das zu, „Out of Exile – Narratives from The Abducted and Displaced People of Sudan” (McSweeney’s, San Francisco, 2009, 465 Seiten, 20 US-Dollar) versammelt Geschichten von ganz unten, Biographien aus dem Sudan. Von analphabetischen Bauerntöchtern, die vor dem Darfurkonflikt geflohen sind. Von Informatikstudenten, die einfach nur in Karthoum an der Universität eine Arbeitsgruppe zum Thema Demokratie aufziehen wollten, deshalb gefoltert wurden, heute in Kairo sitzen und sagen: „Ich weiß oft am Abend nicht, ob ich am Morgen gefrühstückt habe. Ich esse ein oder zweimal am Tag. Wir verlieren alle unseren Appetit.” Oder die, so wie Abuk Bak Macham, die letzten Überlebenden aus einem Dorf sind, durch den irgendwann der Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd zog.
Insgesamt 17 Menschen erzählen hier ihre Geschichte, 17 Menschen, die heute in Kairo leben oder in den USA, in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum oder in einem Dorf am Fuße der Nubaberge, die aber allesamt umhergeweht wurden wie Sand oder Zweige, völlig willkürlich, und alle erzählen sie davon sehr lakonisch, als sei das alles ganz normal.
Ist es ja auch: Mehr als drei Millionen Menschen sind in dem größten aller afrikanischen Länder in den vergangenen Jahrzehnten durch Kriegshandlungen gestorben, acht Millionen Vertriebene leben im Sudan, mehr als in jedem anderen Land der Erde, wahrscheinlich der einzige Weltrekord, den der Sudan zur Zeit hält. Ach nein, noch einen, in Gestalt seines Präsidenten: Umar Hasan Ahmed al-Baschir ist der erste amtierende Staatschef, gegen den der Internationale Strafgerichtshof am Mittwoch Haftbefehl erlassen hat. Baschir soll sich wegen Kriegsverbrechen in Darfur verantworten.
Darfur. Ein sandgraues Hintergrundrauschen der Weltpolitik. 300 000 Tote? 400 000? Genau weiß das keiner. Man liest dazu Leitartikel, Reportagen und Dossiers, denkt sich schlimmschlimm und hat am nächsten Tag vergessen, wie nochmal diese arabischen Reitermilizen genannt werden, die, ausgerüstet von der Zentralregierung, in die Dörfer einfallen. Und dann erzählt einem Nadia El-Kareem, eine 17-jährige Analphabetin ihre Geschichte, ein Mädchen, das von sich sagt: „Ich komme aus dem Dorf Greda; wo das genau liegt in Darfur, weiß ich nicht, ich war nie auf der Schule und weiß nicht, wo Osten, Süden, Norden sind.” Die Milizen heißen Dschandschawid-Milizen und was sie ihrer Familie angetan haben, muss man hier jetzt nicht erzählen, es reicht zu sagen, dass sich das Buch beim Lesen manchmal anfühlt, als würde man Glassplitter kauen, aber man weiß danach mehr als nach all den Artikeln und Nachrichtenclips. Am Ende des Überfalls durch die Milizen rennt Nadia davon, „mein Bruder bewegte sich nicht mal, da bin ich aufgesprungen und losgerannt. I kept crying, running, and crying and running.”
Dieses Rennen unter Tränen ist eines der Leitmotive dieses Buchs. Immer wieder heißt es, wir rannten los, immer wieder hören die Davonrennenden noch Schüsse und immer wieder ist derjenige, der da erzählt, nach diesem Wettlauf mit dem Tod alleine auf der Welt und hat nach der Flucht nichts mehr, nichts außer seiner Geschichte.
Wenn es schlecht geht, verlieren sie eine Niere oder verschwinden für zehn Jahre in der Sklaverei. Wenn es gut geht, klingt es wie bei dem Informatiker und Politiker Tarig Omer, der am Ende seiner Geschichte, in einem Cafe in Kairo sagt: „Vielleicht werden das hier Leute lesen und denken, ich sei ein starker Mann. Vielleicht werden sie denken, ich sei unglücklich – Sie können Ihnen sagen, ich bin jemand, der versucht hat zu kämpfen, aber der bisher gescheitert ist. Meine Geschichte ist nicht aufregend. Es gibt darin kein Feuer. Keine Hölle. Kein Paradies. Nur ein Zwischendrin.”
Ein Nichtort also, der an den theologischen Limbus erinnert, jenen Teil der Hölle, in dem die Seelen herumgeistern, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind, nicht erlöst, nicht Schreckliches leidend, aber doch zombiehaft: „Ich leide nicht wirklich”, sagt Omer, „aber die Zeit hier ist ungefähr wie eine Steuer. Ich zahle diese Steuer ab, ich sitze die Zeit ab, im Gegenzug bin ich noch nicht tot. Trotzdem fehlen mir aber vier Jahre meines Lebens.”
Die meisten den Befragten erzählen hier erstmals ihre Geschichte. Wem sollten sie sie vorher auch erzählen? Im Sudan will sie keiner hören, hat ja jeder genug mit den eigenen Traumata zu tun. Aber so bricht es sozusagen unplugged aus ihnen heraus, roh, unbehauen, karg, verknappt. So sagt Abuk, die Frau vom Anfang dieses Textes, die als Sklavin verkauft wurde: „Ich war dann zehn Jahre bei Mohammed Adam. Da ich kein Wort Arabisch sprach, habe ich in dieser Zeit mit niemandem geredet.” Zehn Jahre Einsamkeit in zwei kurzen Sätzen. Es ist oftmals gerade dieses stoisch klaglose elliptische Erzählen, das die Berichte so grausam macht. Man liest das unweigerlich ein zweites Mal: Wie bitte, zehn Jahre? Als Sklavin?
„Out of Exile” ist der vierte Teil der „Voices of Witness”, einer von dem amerikanischen Schriftsteller Dave Eggers initiierten Serie von dokumentarischen Bänden, in denen jeweils Zeugen humanitärer Krisen eine Stimme erhalten. In den ersten drei Büchern kamen Opfer von Katrina, Illegale in den USA und unschuldig Verurteilte zu Wort, insgesamt ergeben diese drei Bände einen dunklen Schattenchor des amerikanischen Traumes.
Vom Roman zum Dokument
Diesen vierten Band nun hat der Harvardstudent Craig Walzer herausgegeben, der dafür monatelang Interviews geführt hat, in Kairo und Boston, Khartoum und kleinen sudanesischen Dörfern, die auf keiner Landkarte zu finden sind. Die Berichte hat er jeweils zu 20 bis 40 Seiten Text kompiliert, langen Erzählungen also, die nicht auf funktionale Elendsprosa verkürzt werden, sondern ruhig durch die Erinnerungen mäandern, so dass man auch einen anderen Sudan kennenlernt als nur das immergleiche staubbedeckte Weltgemeinschaftsghetto aus den CNN-Clips: „Als ich 15 war, verliebte ich mich in einen Nachbarsjungen, was streng verboten war. Atbara ist berühmt für seine Fahrräder, es gibt in unserer Stadt überall Fahrräder. Wenn er an meinem Balkon vorbeifuhr, klingelte er. Unter all den hundert Klingeln erkannte ich seine immer heraus.”
Einige Gespräche hat auch Dave Eggers selbst geführt, zusammen mit dem Sudanesen Valentino Achak Deng, einem der vielen sogenannten „Lost Boys”. Das sind sudanesische Jungen, die vor dem Bürgerkrieg zu Fuß 1 000 Kilometer bis nach Äthiopien flüchteten und später teilweise in die USA gelangten. Eggers schrieb vor zwei Jahren Dengs Fluchtgeschichte in „Weit gegangen” auf, einem Roman, der mit ein paar Sätzen endet, die sich an ein Du richten: „Ich bin am Leben und du bist am Leben, und deshalb müssen wir die Luft mit unseren Wörtern füllen. Ich werde sie heute füllen und morgen, jeden Tag, bis ich zu Gott zurückgenommen werde.” Ein pathetischer Pakt wird hier beschworen, ein Pakt zwischen dem Augenzeugen Valentino Achak Deng und dem westlichen Leser seiner Geschichte. Ein Pakt in der Hoffnung, dass das Erzählen etwas bewirken möge. „Out of Exile” kann man schon aufgrund seiner Entstehungsgeschichte als dokumentarisches Supplement zu diesem Roman lesen. Eggers und Deng fassten den Entschluss zu dem Band (und der Voice of Witness-Serie), als sie für den Roman in Dengs südsudanesischer Heimat recherchierten und täglich neue haarsträubende Geschichten zu hören bekamen.
Viel wichtiger aber ist, dass das Buch einen genauso jäh anspringt wie es Deng sich in seinem Roman erhofft. Gerade weil darin kein einziges Mal geklagt wird. Keine Hollywood-Geigen, keine Elendsprosa. Geschichten, hart und glatt wie vom Wüstensand polierte Kiesel. ALEX RÜHLE
„Und dann rannte ich und weinte und rannte und weinte”: Fotowand von Vermissten in einem sudanesischen Flüchtlingscamp im Tschad. Foto: Thomas Dworzak/Magnum/Ag. Focus
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr