Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000Familie als Exil
Glanzstück der Selbstanalyse – die Autobiografie von Edward Said
Ein Name, der viel verspricht, ein Name, der wirkt wie ein rotes Tuch, ein großer Name: Edward Said. Eine Last, sagt der so Getaufte nun in seinen Memoiren, fünfzig Jahre habe er gebraucht, um sich an Edward zu gewöhnen, den albernen englischen Namen eines Prinzen von Wales, verkuppelt mit dem unverwechselbar arabischen Familiennamen Said.
Dabei hängt die Welt, in Verehrung oder im Hass, an seinen Lippen. Dabei machte seine Autobiografie Schlagzeilen noch vor dem Erscheinen: Edward Said, erklärte ein Israeli voriges Jahr in der jüdischen Zeitschrift Commentary, habe seine Biografie verfälscht. Er sei gar kein in Jerusalem aufgewachsener Palästinenser, der 1948 durch die Gründung Israels (für Araber: die Katastrophe) ins Exil getrieben wurde! Es gab Tumult, eine Gegendarstellung von Said – im Tenor, dies habe er so nie behauptet, weil das in der Tat – siehe Memoiren! – so nicht stimme. Dazu der süffisante Hinweis auf den vorigen Versuch des Commentary, Said zu diskreditieren, 1989, als „Professor des Terrors”. Mancher im stillen Kämmerlein vor sich hin arbeitende Intellektuelle gäbe was drum, so umstritten zu sein.
Umstritten von Anbeginn. Das Buch, das Edward Said 1978 zum Star machte, hieß schlicht Orientalismus. Darin standen Sätze wie: „Jeder Europäer war in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist, und fast vollkommen ethnozentrisch. ” Mancher rechtschaffene Orientalist schäumte vor Wut. Heute ist Orientalist ein Schimpfwort, und Worte wie „der Orient”, „die Araber” und „der Islam” kommen uns nur noch in Anführungszeichen über die Lippen: Saids Analyse der Rede über den Orient als Form der Machtausübung hat den Diskurs mächtig verändert. Und eine neue Wissenschaft ins Leben gerufen – die postkolonialen Studien. Die ihren Vater längst kritisieren: weil das Bild vom rassistischen Westler selbst ein Stereotyp ist, die Stereotype vom Orientalen viel ambivalenter sind, als Said – aus taktischen Gründen? – zugeben mochte. Womit sie natürlich recht haben.
1978 war das noch anders. Damals genügte manchem Gegner noch die simple Feststellung, dass Said dem Exil-Parlament der PLO angehörte. Jeder Palästinenser ein Terrorist – und später, 1979, nach der Revolution in Iran: Jeder Muslim ein blutrünstiger Fundamentalist. Dagegen lief der Kulturkritiker Sturm, Buch um Buch. Gleichzeitig ergriff er als Palästinenser Wort für sein vertriebenes Volk, mit seltener Wortgewalt, und daher umso heftiger angefeindet. Schließlich dachte er über die Rolle des Intellektuellen nach, über das Exil als Metapher des Intellektuellen-Daseins, des Neinsagers und Außenseiters.
Noch lieber in Amerika
Am falschen Ort sagt schon im Titel, wie Said sein Leben verstehen möchte: als Außenseiterschicksal. Aber gleich als Exil? Der Text gibt folgenden Hergang zu erkennen: Der Vater, ein christlicher Palästinenser aus Jerusalem, wandert mit sechzehn in die Vereinigten Staaten aus, wird US-Bürger, kehrt 1920 widerwillig auf Geheiß der Mutter nach Jerusalem zurück und setzt sich 1929 nach Kairo ab, um dort eine Filiale des Familienunternehmens zu gründen. Noch lieber wäre er in Amerika. So hisst er an Festtagen die amerikanische Flagge. Die Mutter, geboren in Nazareth, ausgebildet in Beirut und Protestantin wie der Vater, geht zur Geburt ihres ersten Sohns Edward 1935 nach Jerusalem, das der Vater hasst, weil sie den Kairoer Krankenhäusern nicht traut. Die Familie Said lebt in Kairo, verbringt von 1943 bis 1971 ihre Sommer in einem libanesischen Bergdorf und macht Familienbesuche in Jerusalem. 1947 geht Edward dort auch zur Schule. Fünf Monate vor Kriegsausbruch kehren die Saids nach Kairo zurück. Von Flucht und Exil kann keine Rede sein, auch wenn ihnen Jerusalem seither verwehrt ist: Während andere Palästinenser daraus vertrieben werden, machen die Saids anlässlich einer Operation des Vaters ihre erste Amerikareise.
Von Flucht und Exil habe er nie gesprochen, sagt Said. Im Internet zugängliche Interviews von 1998 widerlegen das. Zum Beispiel das „Faculty Profile” der Columbia University in New York, seit 37 Jahren die akademische Heimat des Literaturwissenschaftlers. Dort heißt es von der angekündigten Autobiografie, sie berichtete von seinen frühen Jahren in Jerusalem und der Exilierung seiner Familie nach der Gründung Israels. Kein Mensch würde das auf die vertriebenen Vettern und Tanten beziehen, die Said nun vorschiebt . . . Der taktische Grund für das vor 1999 gepflegte Image liegt auf der Hand: Der Fürsprecher Palästinas hatte natürlich recht, wo er recht hatte – aber, wie Menschen nun mal sind, seine Stimme hatte mehr Gewicht, bei Freund und Feind, wenn es so schien, als teilte er das Schicksal seines Volks.
Das ist aber noch nicht alles. Nochmals: Wie möchte Said sein Leben verstehen? Indem er seine Anfänge erzählt, und nur davon handelt das Buch, seine Familien- und Schulgeschichte – die Welt jenseits davon kommt fast nicht vor, so abgeschottet verlief dieses Leben. Nicht, weil die auf einen europäischen Lebensstil versessenen Saids weder zur einheimischen noch zur kolonialen High Society wirklich dazugehörten. Nie war Kairo kosmopolitischer als damals, und es gab reiche arabische Zuwanderer genug, denen sie sich hätten anschließen können. Nein, es waren die puritanischen Eltern, die sich und die Ihren auf geradezu absurde Weise isolierten. Es hätte ein Leben in Saus und Braus sein können – und war ein Alptraum: ohne Freunde, ohne Freude, ohne Trost. Einzig Musik und Literatur boten kleine Fluchten aus einer viktorianischen Dressur von Leib und Seele, einer im strengsten Zeitregiment verwirklichten Dauerdisziplinierung, die vieles erklärt: den Menschen, der bis heute keine Muße kennt, unter Angst und Schlaflosigkeit leidet, und den Gelehrten, der sich für Foucault begeistert und die Analyse diskursiver Machtausübung zu seinem Lebensthema macht. Jetzt analysiert Said das Regime seiner Eltern, nach einer Psychoanalyse 1991 und der Leukämie-Diagnose 1992, unter dem Diktat von Krankheit und Therapie.
Der Vater: ein genialer Geschäftsmann, der keine Gefühle zeigt. Edward ist für ihn das schwarze Schaf, das nie sein Bestes gibt. Noch dem 21-jährigen Examenskandidaten kauft er ein Korsett, weil die Haltung nicht stimmt, Widerrede zwecklos. Die Mutter schwankt zwischen Beistand und Abweisung. Die erste Liebe hintertreibt sie mit dem Satz: Mein Sohn ist nicht gut genug für Sie. Den Kindern sagt sie: Ihr habt mich alle enttäuscht. Man versteht, dass Said darüber bis heute nicht lachen kann. Man spürt die Mühe des Erinnerns. Man begreift den distanzierten Ton, der trotz anrührender Augenblicke vorherrscht. Kinder werden erfunden, sagt Said. In Kairo schreiben die Eltern das Script für Edward – sein anderes, wahres Ich duldet im Verborgenen. Nach dem Rauswurf aus dem englischen Elite-College für Araber muss Edward nach Amerika. Dort erwacht sein anderes Ich zur Stärke, er wird Bester und erfindet sich neu. Das Engagement für Palästina, bei den Eltern ein Tabu wie Sex und Geld, gehört dazu. Und die Erinnerung. Jedes Mal, wenn Edward für eine Missetat von englischen oder amerikanischen Lehrern zurechtgewiesen wird, erfindet Said einen unausgesprochenen Subtext: Du bist Araber, du bist hier fehl am Platz, ein Außenseiter! Said gibt seinem sehr privaten Leiden Sinn, indem er es zum politischen umstilisiert, sich als palästinensisches Opfer imperialer Machtausübung begreift, bis hin zur Exillegende.
Aber dieses Buch geht weiter. Es zerstört die Legende, es opfert die angenommene Stammesloyalität der – bitteren – Wahrheit. Das macht es groß. Not quite right hätte es doppelzüngig heißen sollen. Jetzt heißt es Out of place. Nicht dazugehörig. Aus Überzeugung.
LUDWIG AMMANN
EDWARD W. SAID: Am falschen Ort. Autobiografie. Aus dem Englischen von Meinhard Büning. Berlin Verlag 2000. 468 Seiten, 48 Mark.
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Glanzstück der Selbstanalyse – die Autobiografie von Edward Said
Ein Name, der viel verspricht, ein Name, der wirkt wie ein rotes Tuch, ein großer Name: Edward Said. Eine Last, sagt der so Getaufte nun in seinen Memoiren, fünfzig Jahre habe er gebraucht, um sich an Edward zu gewöhnen, den albernen englischen Namen eines Prinzen von Wales, verkuppelt mit dem unverwechselbar arabischen Familiennamen Said.
Dabei hängt die Welt, in Verehrung oder im Hass, an seinen Lippen. Dabei machte seine Autobiografie Schlagzeilen noch vor dem Erscheinen: Edward Said, erklärte ein Israeli voriges Jahr in der jüdischen Zeitschrift Commentary, habe seine Biografie verfälscht. Er sei gar kein in Jerusalem aufgewachsener Palästinenser, der 1948 durch die Gründung Israels (für Araber: die Katastrophe) ins Exil getrieben wurde! Es gab Tumult, eine Gegendarstellung von Said – im Tenor, dies habe er so nie behauptet, weil das in der Tat – siehe Memoiren! – so nicht stimme. Dazu der süffisante Hinweis auf den vorigen Versuch des Commentary, Said zu diskreditieren, 1989, als „Professor des Terrors”. Mancher im stillen Kämmerlein vor sich hin arbeitende Intellektuelle gäbe was drum, so umstritten zu sein.
Umstritten von Anbeginn. Das Buch, das Edward Said 1978 zum Star machte, hieß schlicht Orientalismus. Darin standen Sätze wie: „Jeder Europäer war in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist, und fast vollkommen ethnozentrisch. ” Mancher rechtschaffene Orientalist schäumte vor Wut. Heute ist Orientalist ein Schimpfwort, und Worte wie „der Orient”, „die Araber” und „der Islam” kommen uns nur noch in Anführungszeichen über die Lippen: Saids Analyse der Rede über den Orient als Form der Machtausübung hat den Diskurs mächtig verändert. Und eine neue Wissenschaft ins Leben gerufen – die postkolonialen Studien. Die ihren Vater längst kritisieren: weil das Bild vom rassistischen Westler selbst ein Stereotyp ist, die Stereotype vom Orientalen viel ambivalenter sind, als Said – aus taktischen Gründen? – zugeben mochte. Womit sie natürlich recht haben.
1978 war das noch anders. Damals genügte manchem Gegner noch die simple Feststellung, dass Said dem Exil-Parlament der PLO angehörte. Jeder Palästinenser ein Terrorist – und später, 1979, nach der Revolution in Iran: Jeder Muslim ein blutrünstiger Fundamentalist. Dagegen lief der Kulturkritiker Sturm, Buch um Buch. Gleichzeitig ergriff er als Palästinenser Wort für sein vertriebenes Volk, mit seltener Wortgewalt, und daher umso heftiger angefeindet. Schließlich dachte er über die Rolle des Intellektuellen nach, über das Exil als Metapher des Intellektuellen-Daseins, des Neinsagers und Außenseiters.
Noch lieber in Amerika
Am falschen Ort sagt schon im Titel, wie Said sein Leben verstehen möchte: als Außenseiterschicksal. Aber gleich als Exil? Der Text gibt folgenden Hergang zu erkennen: Der Vater, ein christlicher Palästinenser aus Jerusalem, wandert mit sechzehn in die Vereinigten Staaten aus, wird US-Bürger, kehrt 1920 widerwillig auf Geheiß der Mutter nach Jerusalem zurück und setzt sich 1929 nach Kairo ab, um dort eine Filiale des Familienunternehmens zu gründen. Noch lieber wäre er in Amerika. So hisst er an Festtagen die amerikanische Flagge. Die Mutter, geboren in Nazareth, ausgebildet in Beirut und Protestantin wie der Vater, geht zur Geburt ihres ersten Sohns Edward 1935 nach Jerusalem, das der Vater hasst, weil sie den Kairoer Krankenhäusern nicht traut. Die Familie Said lebt in Kairo, verbringt von 1943 bis 1971 ihre Sommer in einem libanesischen Bergdorf und macht Familienbesuche in Jerusalem. 1947 geht Edward dort auch zur Schule. Fünf Monate vor Kriegsausbruch kehren die Saids nach Kairo zurück. Von Flucht und Exil kann keine Rede sein, auch wenn ihnen Jerusalem seither verwehrt ist: Während andere Palästinenser daraus vertrieben werden, machen die Saids anlässlich einer Operation des Vaters ihre erste Amerikareise.
Von Flucht und Exil habe er nie gesprochen, sagt Said. Im Internet zugängliche Interviews von 1998 widerlegen das. Zum Beispiel das „Faculty Profile” der Columbia University in New York, seit 37 Jahren die akademische Heimat des Literaturwissenschaftlers. Dort heißt es von der angekündigten Autobiografie, sie berichtete von seinen frühen Jahren in Jerusalem und der Exilierung seiner Familie nach der Gründung Israels. Kein Mensch würde das auf die vertriebenen Vettern und Tanten beziehen, die Said nun vorschiebt . . . Der taktische Grund für das vor 1999 gepflegte Image liegt auf der Hand: Der Fürsprecher Palästinas hatte natürlich recht, wo er recht hatte – aber, wie Menschen nun mal sind, seine Stimme hatte mehr Gewicht, bei Freund und Feind, wenn es so schien, als teilte er das Schicksal seines Volks.
Das ist aber noch nicht alles. Nochmals: Wie möchte Said sein Leben verstehen? Indem er seine Anfänge erzählt, und nur davon handelt das Buch, seine Familien- und Schulgeschichte – die Welt jenseits davon kommt fast nicht vor, so abgeschottet verlief dieses Leben. Nicht, weil die auf einen europäischen Lebensstil versessenen Saids weder zur einheimischen noch zur kolonialen High Society wirklich dazugehörten. Nie war Kairo kosmopolitischer als damals, und es gab reiche arabische Zuwanderer genug, denen sie sich hätten anschließen können. Nein, es waren die puritanischen Eltern, die sich und die Ihren auf geradezu absurde Weise isolierten. Es hätte ein Leben in Saus und Braus sein können – und war ein Alptraum: ohne Freunde, ohne Freude, ohne Trost. Einzig Musik und Literatur boten kleine Fluchten aus einer viktorianischen Dressur von Leib und Seele, einer im strengsten Zeitregiment verwirklichten Dauerdisziplinierung, die vieles erklärt: den Menschen, der bis heute keine Muße kennt, unter Angst und Schlaflosigkeit leidet, und den Gelehrten, der sich für Foucault begeistert und die Analyse diskursiver Machtausübung zu seinem Lebensthema macht. Jetzt analysiert Said das Regime seiner Eltern, nach einer Psychoanalyse 1991 und der Leukämie-Diagnose 1992, unter dem Diktat von Krankheit und Therapie.
Der Vater: ein genialer Geschäftsmann, der keine Gefühle zeigt. Edward ist für ihn das schwarze Schaf, das nie sein Bestes gibt. Noch dem 21-jährigen Examenskandidaten kauft er ein Korsett, weil die Haltung nicht stimmt, Widerrede zwecklos. Die Mutter schwankt zwischen Beistand und Abweisung. Die erste Liebe hintertreibt sie mit dem Satz: Mein Sohn ist nicht gut genug für Sie. Den Kindern sagt sie: Ihr habt mich alle enttäuscht. Man versteht, dass Said darüber bis heute nicht lachen kann. Man spürt die Mühe des Erinnerns. Man begreift den distanzierten Ton, der trotz anrührender Augenblicke vorherrscht. Kinder werden erfunden, sagt Said. In Kairo schreiben die Eltern das Script für Edward – sein anderes, wahres Ich duldet im Verborgenen. Nach dem Rauswurf aus dem englischen Elite-College für Araber muss Edward nach Amerika. Dort erwacht sein anderes Ich zur Stärke, er wird Bester und erfindet sich neu. Das Engagement für Palästina, bei den Eltern ein Tabu wie Sex und Geld, gehört dazu. Und die Erinnerung. Jedes Mal, wenn Edward für eine Missetat von englischen oder amerikanischen Lehrern zurechtgewiesen wird, erfindet Said einen unausgesprochenen Subtext: Du bist Araber, du bist hier fehl am Platz, ein Außenseiter! Said gibt seinem sehr privaten Leiden Sinn, indem er es zum politischen umstilisiert, sich als palästinensisches Opfer imperialer Machtausübung begreift, bis hin zur Exillegende.
Aber dieses Buch geht weiter. Es zerstört die Legende, es opfert die angenommene Stammesloyalität der – bitteren – Wahrheit. Das macht es groß. Not quite right hätte es doppelzüngig heißen sollen. Jetzt heißt es Out of place. Nicht dazugehörig. Aus Überzeugung.
LUDWIG AMMANN
EDWARD W. SAID: Am falschen Ort. Autobiografie. Aus dem Englischen von Meinhard Büning. Berlin Verlag 2000. 468 Seiten, 48 Mark.
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