Eigentlich halte ich mich für halbwegs politisch interessiert und ganz gut über das Weltgeschehen informiert. Diese Selbsteinschätzung hat Ian Urbina mit dieser Reportage über kriminelle Machenschaften auf und in den Ozeanen gehörig verunsichert. Zu oft musste ich beim Lesen feststellen, dass ich
von den beschriebenen Misständen noch nie gehört hatte oder zumindest deren wahres Ausmaß nicht…mehrEigentlich halte ich mich für halbwegs politisch interessiert und ganz gut über das Weltgeschehen informiert. Diese Selbsteinschätzung hat Ian Urbina mit dieser Reportage über kriminelle Machenschaften auf und in den Ozeanen gehörig verunsichert. Zu oft musste ich beim Lesen feststellen, dass ich von den beschriebenen Misständen noch nie gehört hatte oder zumindest deren wahres Ausmaß nicht kannte.
Urbina konnte als Reporter der New York Times über vier Jahre lang für diese Thematik recherchieren. Und dafür zolle ich gleich dreifach Respekt: Seinem Arbeitgeber, dass er diesen kostenintensiven Journalismus ermöglicht hat, dem Autor selbst, der sich selbstlos und mutig nicht nur in äußerst unbequeme, sondern auch immer wieder gefährliche Situationen begeben hat und auch seiner Familie, die auf den Ehemann und Vater verzichtet, damit dieser Unrecht ans Licht der Öffentlichkeit bringt.
Aber zurück zum Buch: Urbina zeigt anschaulich, wie schwierig oder fast unmöglich es die Weite des Meeres macht, Kriminelle zu verfolgen. Und überdies ist das internationale Seerecht teils widersprüchlich und weist etliche Gesetzeslücken auf, was im Schlechten wie im Guten genutzt werden kann: So zum Beispiel von "Women on Waves", die Abtreibungen an Bord von Schiffen durchführen, die in ausreichender Entfernung zur Küste von Ländern ankern, in denen Schwangerschaftsabbrüche illegal sind. Denn die Gerichtsbarkeit eines Landes endet 200 Seemeilen vor dessen Küste. Das Buch berichtet von Zwangsarbeit auf thailändischen Fischereiflotten; die erlittenen Grausamkeiten und Folgen für diese modernen Seesklaven sind unfassbar. Und noch unfassbarer, wie die Weltöffentlichkeit wegsieht. Der Nachthimmel ist genauer kartografiert als der Meeresboden, und ich hatte in der Tat oft das Gefühl, mehr Berichte über den Mars als über die Missstände auf unseren Meeren zu kennen.
Bei aller Tragik der Themen bleibt dennoch Raum für Humor, sei es, wenn Urbina den Dorschfang von Fischern, den intelligente Wale von den Leinen fressen, bevor sie in die Boote eingeholt werden, als "All-you-can-eat-Büfett" für die riesigen Meeressäuger bezeichnet. Oder auch im Kapitel über "Sealand", eine verlassene Flugabwehrplattform aus dem zweiten Weltkrieg, die 1966 durch einen skurrilen Briten eingenommen und zur Nation erklärt wurde.
Besonders gut gefällt mir, dass der Autor sehr kritisch hinterfragt und reflektiert. NGOs sind nicht per se "die Guten", auch deren Feindbilder und Methoden untersucht Urbina genau. Und zu guter Letzt zeigt er im Anhang auf, was der Einzelne tun kann, um den beschriebenen Missständen entgegen zu wirken.
Irritiert hat mich der etwas langatmige Stil - immerhin hat Urbina den renommierten Pulitzer-Preis gewonnen. Ein Blick ins englische Original zeigt schnell, dass die Übersetzung nicht sonderlich gelungen ist. Zu viele sprachliche Facetten gehen verloren. So wird etwa das Kapitel "Waste away" einfallslos mit "Die große Mülltonne" übersetzt. Ja, "Waste" ist "Müll", jedoch bedeutet "waste away" auch dahinsiechen, verkümmern oder verschwenden. Schade, von den gleich drei Übersetzerinnen hätte ich mir mehr sprachliches Feingefühl gewünscht.
Fazit: Eine beeindruckende Thematik, aus persönlicher Sicht erlebt und beschrieben und mit hinreichend Fakten belegt. Sprachlich leider einen Punkt Abzug; wer gut Englisch spricht ist sicher mit dem Original wesentlich besser bedient.