The Oxford History of Western Music is a magisterial survey of the traditions of Western music by one of the most prominent and provocative musicologists of our time. This text illuminates, through a representative sampling of masterworks, those themes, styles, and currents that give shape and direction to each musical age. Taking a critical perspective, this text sets the details of music, the chronological sweep of figures, works, and musical ideas, within the larger context of world affairs and cultural history. Written by an authoritative, opinionated, and controversial figure in musicology, The Oxford History of Western Music provides a critical aesthetic position with respect to individual works, a context in which each composition may be evaluated and remembered. Taruskin combines an emphasis on structure and form with a discussion of relevant theoretical concepts in each age, to illustrate how the music itself works, and how contemporaries heard and understood it. It also describes how the c
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This monumental, nearly 4,000-page history from one of today's outstanding musicologists deserves a place on everybody's shelf. Philip Borg-Wheeler, Classical Music
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2005Nordamerika singt mit im Chor
Richard Taruskin schreibt eine Geschichte der westlichen Musik
Das Ende der Geistesgeschichte als wissenschaftliche Methode, das meine Generation nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, bedeutete das Ende der großen Entwürfe. Die Erfahrung von tiefgreifenden Brüchen, mit den Weltkriegen als katastrophischen Erfüllungen, und deren künstlerische Reflexion ließen die wissenschaftlichen Einheitskonzepte obsolet werden. Für uns damals Jüngere trat das musikalische Kunstwerk als Komposition ins Zentrum des Interesses, wir wollten den Kunstcharakter des einzelnen Werks erforschen, und zwar durch mikroskopische Analyse. Eine Konsequenz dieser Arbeit in der Nußschale war die Isolierung eines Faches, das eine Wissenschaftssprache kultivierte, die dem Laien nicht zugänglich war. Das hatte Auswirkungen auf die Biographik und die Musikgeschichtsschreibung. Das Verfassen von Biographien ging in die Hände von Autoren über, die keine professionellen Musikwissenschaftler waren, etwa Wolfgang Hildesheimer, der über Mozart, Martin Gregor-Dellin, der über Wagner, Maynard Solomon, der über Beethoven schrieb, wobei die große mehrbändige, wissenschaftliche Biographie zugunsten der marktfähigen einbändigen sich nicht weiterentwickelte.
Die Musikgeschichtsschreibung stand unter dem Verdikt, daß eine Gesamtdarstellung die Kraft des einzelnen übersteige und das Handbuchformat, das heißt die Zusammenarbeit mehrerer Forscher, den adäquaten Rahmen darstelle. Die Autoren mit den großen Namen scheinen das zu bestätigen - sie bescheiden sich mit dem Handbuchbeitrag, in Ausnahmen mit einem ganzen Band oder folgen wie bei der Biographik dem Ruf der Verleger nach der einbändigen Darstellung. Die "große" Musikgeschichte gilt als Hybris.
Doch da kommt Richard Taruskin, Professor of Music von der University of California at Berkeley, streitbarer Autor singulärer Studien zur russischen Musikgeschichte und scharfzüngiger Mitarbeiter des Feuilletons der "New York Times". Allen wissenschaftsgeschichtlichen Unkenrufen zum Trotz legt er allein eine sechsbändige Musikgeschichte vor, die "Oxford History of Western Music", fünf Bände Darstellung und ein Band mit Register und Verzeichnissen, in Großoktav und auf Glanzpapier. Die Taschenbuchausgabe wird bald folgen. Man wird dann sehen, ob "der Taruskin" die Vielzahl der Epochendarstellungen nach Art von Lehrbüchern vom Markt verdrängen kann. Einstweilen wird der Preis das nicht zulassen.
Taruskin definiert seinen Gegenstand im Titel als "western music" und hält sich nicht lange bei Abgrenzungen und vergleichenden Diskussionen auf. Für ihn ist der Kern dieser westlichen Musik die notierte "Kunstmusik" vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, jener in den letzten Jahrzehnten viel geschmähte Kanon einer musikalischen Elite, den Taruskin im Titel seines ersten Bandes ungeschützt präsentiert. Seine Musikgeschichte beginnt da, wo man Musik notieren konnte. Schriftlichkeit und Theoriehaltigkeit sind die fundamentalen Voraussetzungen "westlicher" Musik. Letztere gibt es, das Adjektiv zeigt es an, als Qualität. Dagegen ist Carl Dahlhaus mit seiner Fragment gebliebenen, rein geographisch gefaßten "Musikgeschichte Europas" neutraler. Doch nicht ohne Schwierigkeiten: Im Gegensatz zum Amerikaner Taruskin schließt der Zentraleuropäer Carl Dahlhaus Nordamerika im Titel einfach aus. Hans H. Eggebrecht ("Musik im Abendland") scheut sich nicht, im Titel die mit dem Abendland-Begriff verbundene Ideologie einer späten Kultur zu präsentieren, was Taruskin durch das Adjektiv anstelle des möglichen Substantivs vermeidet. Der Titel zeigt das Vorverständnis der Autoren.
Nicht so bei Jacques Handschin. Seine "Musikgeschichte im Überblick" geht mit der Frage nach den Anfängen der Musik zurück in fast quellenlose Zeiten. Handschin ist ein Verfechter einer "objektiven" Musikgeschichtsschreibung. "Objektiverweise" verdiene jede Epoche eine gleichartige Behandlung - auch quantitativ, meint der Autor. Als Periodisierungsprinzip gilt das Jahrhundert, jede Epoche erhält virtuell die gleiche Zahl von Seiten, wie groß über sie unser Wissen sei. So setzt Handschin das historistische Diktum Rankes um, jede Epoche sei als gleich zu Gott zu denken. Das ergibt keine "objektive" Geschichtsschreibung. Eggebrecht stimmt dieser Kritik an Handschin zu, nennt aber dessen Buch "bewundernswert".
Taruskin könnte nicht weiter von diesem Standpunkt entfernt sein. (Der Name Handschin wird im Index nicht genannt.) Sein erster Band behandelt die Musikgeschichte vom achten bis zum sechzehnten Jahrhundert, der zweite Band umfaßt das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert, der dritte Band gilt dem neunzehnten Jahrhundert, der vierte Band der ersten Hälfte, der fünfte Band der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die expandierende Akzeleration in der Folge der Bände ist deutlich. Nicht nur will sie der steigenden Fülle der historischen Fakten gerecht werden, sie bedeutet auch, daß die Geschichte mehr und mehr von einem gegenwärtigen Standpunkt aus geschrieben wird.
Erklärungen und Handlungen, als Reaktionen auf soziale und intellektuelle Lebensbedingungen, sind nach Taruskin die Fakten der Geschichte; sie treten im menschlichen Diskurs zutage, und sie brauchen die Menschen als Agenten, die neue Bedingungen produzieren und damit Geschichte in Gang setzen. (Zweifellos ist hier ein dynamisches Geschichtsbild wirksam, wie es Herder definierte, wenn er das Wort Geschichte von "geschehen" herleitete und nicht von "schichten".) Aufgabe des Historikers ist es, diese Agenten zu identifizieren und ihre Tätigkeit festzuhalten und fortwirken zu lassen. Aus diesem Konzept folgt Taruskins Ablehnung der ideengeschichtlichen Methode, jeglicher Art essentialistischen Denkens, doch er verwirft auch die undialektische binare Strukturformel (das einerseits/andererseits) von Carl Dahlhaus.
Was Taruskin und Dahlhaus fundamental unterscheidet, ist die Darbietungsweise. Dahlhaus ist der große Essayist, mit zunehmendem Alter der binaren Konstruktionsmethode verpflichtet, wobei umfangreichere Texte in der wechselseitigen Beziehung einander spiegelnder Abschnitte oder Kapitel ihre Form finden. Das Handbuch zur Musikgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist dafür der kunstvolle Beleg. Taruskin dagegen erzählt mit Verve und mit Nachdenklichkeit, mit Phantasie und Zurückhaltung, mit Überzeugungskraft, mit einem großen Reichtum an sprachlichen Nuancen und mit wechselnden Stillagen.
Das erste Kapitel heißt "Und der Vorhang geht auf". Eingeführt wird in die Frühgeschichte des Gregorianischen Chorals, berichtet wird von der Alpenüberquerung Papst Stephans II., seinem Besuch beim französischen König Pipin III., dem langfristig angelegten politischen Zweckbündnis und den Liturgie-Importen bis in die Zeit der "karolingischen Renaissance" und dem Wirken Alcuins. Das präludiert die Darstellung des römischen Chorals durch die Legende des Hl. Gregor, zu deren Thematik die Schriftform der Musik gehört, die eine Standardisierung der Melodien und damit ihren Export nach Norden ermöglichte. Der rationalisierte römische Choral konnte seine Überlegenheit demonstrieren und sich gegenüber den Melodien vor Ort durchsetzen. Schritt für Schritt erweitert Taruskin seinen Bereich: monastische Psalmodie, Entwicklung der Liturgie, Musik für die Messe, Notation durch Neumen, Fortdauer oraler Traditionen, Improvisation. Hier wartet schließlich eine Überraschung. Es erscheint ein Notenbeispiel für einstimmigen Chorgesang mit grob oktavierender Klavierbegleitung mit dem Text "Take Me Out To The Ball Game", ein Walzer von Albert von Tilzer, 1908 komponiert, eine völlig unhistorische Einblendung eines Stücks Gebrauchsmusik. Aber es ist ein Song, der mündlich und schriftlich tradiert wurde und somit eine Analogie zur mittelalterlichen Überlieferung darstellt. Ein hervorragendes Anfangskapitel, auf der Grundlage eines sorgfältig durchdachten Konzepts mit einem Schuß Genialität angereichert und die altmodische Tugend Fleiß nicht verschmähend. Die mittelalterliche Einstimmigkeit gehört nicht zu den Spezialgebieten unseres Autors.
Daß mit Jacques Handschin einer der bedeutendsten europäischen Musikologen im Werk nicht vorkommt, ist kein Einzelfall. Peter Gülke wird weder mit seinem singulären Mittelalter-Buch noch mit seinen Arbeiten zu Beethoven und Schubert berücksichtigt, nach Auskunft des Index werden auch Besseler, Eggebrecht, Finscher, Petrobelli, Reckow, Krummacher, Danuser nicht genannt. Fremdsprachige Arbeiten zu übersehen - das ist eine Krankheit, die auf beiden Seiten des Atlantiks grassiert, bei einem polyglotten Geist wie Taruskin hätte ich sie nicht erwartet. Der Leser aber wird entschädigt durch einen durchgehend vorzüglichen Text.
REINHOLD BRINKMANN
Richard Taruskin: "Oxford History of Western Music". Oxford University Press, New York, Oxford 2005. 6 Bände. 4234 S., Abb., Notenbeispiele, geb., 699,- $.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Richard Taruskin schreibt eine Geschichte der westlichen Musik
Das Ende der Geistesgeschichte als wissenschaftliche Methode, das meine Generation nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, bedeutete das Ende der großen Entwürfe. Die Erfahrung von tiefgreifenden Brüchen, mit den Weltkriegen als katastrophischen Erfüllungen, und deren künstlerische Reflexion ließen die wissenschaftlichen Einheitskonzepte obsolet werden. Für uns damals Jüngere trat das musikalische Kunstwerk als Komposition ins Zentrum des Interesses, wir wollten den Kunstcharakter des einzelnen Werks erforschen, und zwar durch mikroskopische Analyse. Eine Konsequenz dieser Arbeit in der Nußschale war die Isolierung eines Faches, das eine Wissenschaftssprache kultivierte, die dem Laien nicht zugänglich war. Das hatte Auswirkungen auf die Biographik und die Musikgeschichtsschreibung. Das Verfassen von Biographien ging in die Hände von Autoren über, die keine professionellen Musikwissenschaftler waren, etwa Wolfgang Hildesheimer, der über Mozart, Martin Gregor-Dellin, der über Wagner, Maynard Solomon, der über Beethoven schrieb, wobei die große mehrbändige, wissenschaftliche Biographie zugunsten der marktfähigen einbändigen sich nicht weiterentwickelte.
Die Musikgeschichtsschreibung stand unter dem Verdikt, daß eine Gesamtdarstellung die Kraft des einzelnen übersteige und das Handbuchformat, das heißt die Zusammenarbeit mehrerer Forscher, den adäquaten Rahmen darstelle. Die Autoren mit den großen Namen scheinen das zu bestätigen - sie bescheiden sich mit dem Handbuchbeitrag, in Ausnahmen mit einem ganzen Band oder folgen wie bei der Biographik dem Ruf der Verleger nach der einbändigen Darstellung. Die "große" Musikgeschichte gilt als Hybris.
Doch da kommt Richard Taruskin, Professor of Music von der University of California at Berkeley, streitbarer Autor singulärer Studien zur russischen Musikgeschichte und scharfzüngiger Mitarbeiter des Feuilletons der "New York Times". Allen wissenschaftsgeschichtlichen Unkenrufen zum Trotz legt er allein eine sechsbändige Musikgeschichte vor, die "Oxford History of Western Music", fünf Bände Darstellung und ein Band mit Register und Verzeichnissen, in Großoktav und auf Glanzpapier. Die Taschenbuchausgabe wird bald folgen. Man wird dann sehen, ob "der Taruskin" die Vielzahl der Epochendarstellungen nach Art von Lehrbüchern vom Markt verdrängen kann. Einstweilen wird der Preis das nicht zulassen.
Taruskin definiert seinen Gegenstand im Titel als "western music" und hält sich nicht lange bei Abgrenzungen und vergleichenden Diskussionen auf. Für ihn ist der Kern dieser westlichen Musik die notierte "Kunstmusik" vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, jener in den letzten Jahrzehnten viel geschmähte Kanon einer musikalischen Elite, den Taruskin im Titel seines ersten Bandes ungeschützt präsentiert. Seine Musikgeschichte beginnt da, wo man Musik notieren konnte. Schriftlichkeit und Theoriehaltigkeit sind die fundamentalen Voraussetzungen "westlicher" Musik. Letztere gibt es, das Adjektiv zeigt es an, als Qualität. Dagegen ist Carl Dahlhaus mit seiner Fragment gebliebenen, rein geographisch gefaßten "Musikgeschichte Europas" neutraler. Doch nicht ohne Schwierigkeiten: Im Gegensatz zum Amerikaner Taruskin schließt der Zentraleuropäer Carl Dahlhaus Nordamerika im Titel einfach aus. Hans H. Eggebrecht ("Musik im Abendland") scheut sich nicht, im Titel die mit dem Abendland-Begriff verbundene Ideologie einer späten Kultur zu präsentieren, was Taruskin durch das Adjektiv anstelle des möglichen Substantivs vermeidet. Der Titel zeigt das Vorverständnis der Autoren.
Nicht so bei Jacques Handschin. Seine "Musikgeschichte im Überblick" geht mit der Frage nach den Anfängen der Musik zurück in fast quellenlose Zeiten. Handschin ist ein Verfechter einer "objektiven" Musikgeschichtsschreibung. "Objektiverweise" verdiene jede Epoche eine gleichartige Behandlung - auch quantitativ, meint der Autor. Als Periodisierungsprinzip gilt das Jahrhundert, jede Epoche erhält virtuell die gleiche Zahl von Seiten, wie groß über sie unser Wissen sei. So setzt Handschin das historistische Diktum Rankes um, jede Epoche sei als gleich zu Gott zu denken. Das ergibt keine "objektive" Geschichtsschreibung. Eggebrecht stimmt dieser Kritik an Handschin zu, nennt aber dessen Buch "bewundernswert".
Taruskin könnte nicht weiter von diesem Standpunkt entfernt sein. (Der Name Handschin wird im Index nicht genannt.) Sein erster Band behandelt die Musikgeschichte vom achten bis zum sechzehnten Jahrhundert, der zweite Band umfaßt das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert, der dritte Band gilt dem neunzehnten Jahrhundert, der vierte Band der ersten Hälfte, der fünfte Band der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die expandierende Akzeleration in der Folge der Bände ist deutlich. Nicht nur will sie der steigenden Fülle der historischen Fakten gerecht werden, sie bedeutet auch, daß die Geschichte mehr und mehr von einem gegenwärtigen Standpunkt aus geschrieben wird.
Erklärungen und Handlungen, als Reaktionen auf soziale und intellektuelle Lebensbedingungen, sind nach Taruskin die Fakten der Geschichte; sie treten im menschlichen Diskurs zutage, und sie brauchen die Menschen als Agenten, die neue Bedingungen produzieren und damit Geschichte in Gang setzen. (Zweifellos ist hier ein dynamisches Geschichtsbild wirksam, wie es Herder definierte, wenn er das Wort Geschichte von "geschehen" herleitete und nicht von "schichten".) Aufgabe des Historikers ist es, diese Agenten zu identifizieren und ihre Tätigkeit festzuhalten und fortwirken zu lassen. Aus diesem Konzept folgt Taruskins Ablehnung der ideengeschichtlichen Methode, jeglicher Art essentialistischen Denkens, doch er verwirft auch die undialektische binare Strukturformel (das einerseits/andererseits) von Carl Dahlhaus.
Was Taruskin und Dahlhaus fundamental unterscheidet, ist die Darbietungsweise. Dahlhaus ist der große Essayist, mit zunehmendem Alter der binaren Konstruktionsmethode verpflichtet, wobei umfangreichere Texte in der wechselseitigen Beziehung einander spiegelnder Abschnitte oder Kapitel ihre Form finden. Das Handbuch zur Musikgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist dafür der kunstvolle Beleg. Taruskin dagegen erzählt mit Verve und mit Nachdenklichkeit, mit Phantasie und Zurückhaltung, mit Überzeugungskraft, mit einem großen Reichtum an sprachlichen Nuancen und mit wechselnden Stillagen.
Das erste Kapitel heißt "Und der Vorhang geht auf". Eingeführt wird in die Frühgeschichte des Gregorianischen Chorals, berichtet wird von der Alpenüberquerung Papst Stephans II., seinem Besuch beim französischen König Pipin III., dem langfristig angelegten politischen Zweckbündnis und den Liturgie-Importen bis in die Zeit der "karolingischen Renaissance" und dem Wirken Alcuins. Das präludiert die Darstellung des römischen Chorals durch die Legende des Hl. Gregor, zu deren Thematik die Schriftform der Musik gehört, die eine Standardisierung der Melodien und damit ihren Export nach Norden ermöglichte. Der rationalisierte römische Choral konnte seine Überlegenheit demonstrieren und sich gegenüber den Melodien vor Ort durchsetzen. Schritt für Schritt erweitert Taruskin seinen Bereich: monastische Psalmodie, Entwicklung der Liturgie, Musik für die Messe, Notation durch Neumen, Fortdauer oraler Traditionen, Improvisation. Hier wartet schließlich eine Überraschung. Es erscheint ein Notenbeispiel für einstimmigen Chorgesang mit grob oktavierender Klavierbegleitung mit dem Text "Take Me Out To The Ball Game", ein Walzer von Albert von Tilzer, 1908 komponiert, eine völlig unhistorische Einblendung eines Stücks Gebrauchsmusik. Aber es ist ein Song, der mündlich und schriftlich tradiert wurde und somit eine Analogie zur mittelalterlichen Überlieferung darstellt. Ein hervorragendes Anfangskapitel, auf der Grundlage eines sorgfältig durchdachten Konzepts mit einem Schuß Genialität angereichert und die altmodische Tugend Fleiß nicht verschmähend. Die mittelalterliche Einstimmigkeit gehört nicht zu den Spezialgebieten unseres Autors.
Daß mit Jacques Handschin einer der bedeutendsten europäischen Musikologen im Werk nicht vorkommt, ist kein Einzelfall. Peter Gülke wird weder mit seinem singulären Mittelalter-Buch noch mit seinen Arbeiten zu Beethoven und Schubert berücksichtigt, nach Auskunft des Index werden auch Besseler, Eggebrecht, Finscher, Petrobelli, Reckow, Krummacher, Danuser nicht genannt. Fremdsprachige Arbeiten zu übersehen - das ist eine Krankheit, die auf beiden Seiten des Atlantiks grassiert, bei einem polyglotten Geist wie Taruskin hätte ich sie nicht erwartet. Der Leser aber wird entschädigt durch einen durchgehend vorzüglichen Text.
REINHOLD BRINKMANN
Richard Taruskin: "Oxford History of Western Music". Oxford University Press, New York, Oxford 2005. 6 Bände. 4234 S., Abb., Notenbeispiele, geb., 699,- $.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Reinhold Brinkmann, selbst Musikwissenschaftler, beginnt seine Rezension des sechsbändigen Trumms mit derart ausführlichen Präludien, dass er am Ende nur noch auf den ersten Band dieser "westlichen Musikgeschichte" etwas näher eingehen kann. So viel geht aus Brinkmanns Rezension aber hervor: Dass ein einzelner Autor es wagt, in sechs Bänden die Musikgeschichte vom Mittelalter bis in die allerjüngste Neuzeit zu erzählen, erfüllt den deutschen Akademiker mit grenzenlosem Staunen. Er selbst, so sagt er eingangs, kommt aus der deutschen Nachkriegstradition, die sich in die mikroskopische Analyse von Einzelwerken vertiefte und das Verfassen von Geschichten und Biografien populärwissenschaftlichen Autoren überließ. Um den Unterschied zwischen angelsächischer Erzähllust und deutscher Erzählscheu zu illustrieren, stellt Brinkmann die verstorbene Koryphäe der deutschen Musikwissenschaft, Carl Dahlhaus und seine Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts gegen Taruskins pralles Erzählen. Dahlhaus hätte eine bedenkenvolle Methode des "Einerseits/Anderseits" gepflegt, Taruskin hingegen "erzählt mit Nachdenklichkeit, mit Phantasie und Zurückhaltung". Offensichtlich eine Empfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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