Wo das Land aufhört, das Land beginnt, wie lang die Küste wirklich ist, weiß niemand, verändert doch das Meer die Linie, Länge, Lage, verwischt es die Grenzen zwischen dem, was fest, und dem, was flüssig ist. Damit setzt es sich ständig in Beziehungen, denen kein Mensch entkommen kann - vor allem nicht diejenigen, die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft leben. Von ihnen, den Nebenhändlern, Dichtern, Zimmerleuten, Müttern, Töchtern, Köchen, Rettungsschwimmern, erzählt Sue Goyette in ihrem mytho-poetischen Zyklus Ozean. Zwischen düsterem Märchen, mythischer Schöpfungserzählung und irrwitziger urban legend bewegen sich die Gedichte, aus ihnen erhebt sich ein vielstimmiger Chor, changierend wie das Licht, das sich an den Wellen bricht, um von all den Wechselwirkungen und Vorkommnissen am Meeresrand zu künden: davon, dass die Traurigkeit der Vorfahren den Salzgehalt des Wassers bestimmt; davon, dass der Nebel für Eheschließungen verantwortlich ist; und auch davon, dass Boote an Hosenträgern getragen werden und der Ozean gefüttert werden muss, um Ruhe zu bewahren. Selten präsentierte sich das Meer so vielgestaltig, so brausend und betörend, hoffnungsvoll und bedrohlich, wie in Goyettes lyrischer Chronik der an allem züngelnden Wassermassen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Nico Bleutge ist sichtlich beeindruckt von diesem Lyrikband. Trotz gelegentlicher einförmiger Prosodie und einer etwas holprigen deutschen Übersetzung - was aber für die Einzigartigkeit dieser Lyrik spreche, so Bleutge - lasse ihn dieser Band "berauscht" zurück. Besser kann man eine kapitalisierte Welt kaum beschreiben und kritisieren, versichert Bleutge fasziniert. Sue Goyette tue dies, indem sie das ökonomische Vokabular in eine metaphorische Wirkungsmacht überführt - die Bilder ihrer Lyrik seien nicht idyllisch, sondern berichten im Gegenteil schlicht und präzise von einem Kosmos der Verschwendung und industriellen Vervielfältigung, betont Bleutge. Umgekehrt sind die meteorologischen Motive hier Symptome eines Ökosystems, das seiner Innewohnenden beraubt wird. "Ein raffinierter Zug" nennt Bleutge dieses Verfahren der Kapitalismuskritik mit poetischen Mitteln.
© Perlentaucher Medien GmbH
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