Wo das Land aufhört, das Land beginnt, wie lang die Küste wirklich ist, weiß niemand, verändert doch das Meer die Linie, Länge, Lage, verwischt es die Grenzen zwischen dem, was fest, und dem, was flüssig ist. Damit setzt es sich ständig in Beziehungen, denen kein Mensch entkommen kann - vor allem nicht diejenigen, die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft leben. Von ihnen, den Nebenhändlern, Dichtern, Zimmerleuten, Müttern, Töchtern, Köchen, Rettungsschwimmern, erzählt Sue Goyette in ihrem mytho-poetischen Zyklus Ozean. Zwischen düsterem Märchen, mythischer Schöpfungserzählung und irrwitziger urban legend bewegen sich die Gedichte, aus ihnen erhebt sich ein vielstimmiger Chor, changierend wie das Licht, das sich an den Wellen bricht, um von all den Wechselwirkungen und Vorkommnissen am Meeresrand zu künden: davon, dass die Traurigkeit der Vorfahren den Salzgehalt des Wassers bestimmt; davon, dass der Nebel für Eheschließungen verantwortlich ist; und auch davon, dass Boote an Hosenträgern getragen werden und der Ozean gefüttert werden muss, um Ruhe zu bewahren. Selten präsentierte sich das Meer so vielgestaltig, so brausend und betörend, hoffnungsvoll und bedrohlich, wie in Goyettes lyrischer Chronik der an allem züngelnden Wassermassen.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Sprache und das Ozeanische zusammenbringen: Darum geht es laut Rezensent Nico Bleutge in dem Gedichtband der Kandadierin Sue Goyette. In wellenartig sich fortsetzenden zweiversigen Strophen beschäftigt sich Goyette mit ihrem Wohnort Halifax und setzt sich kritisch mit Macht und Kapitalismus auseinander, so Bleutge. Gelegentlich vermisst er etwas Abwechslung in dem Band, dessen innere Energie ihn jedoch durchweg bei der Stange hält: "Sachlichkeit, gepaart mit krasser Leidenschaft" beschreibt er Goyettes Arbeitsweise. Weniger überzeugt ist er von der Präsentation der deutschen Ausgabe. Die Übersersetzer Romina Nikolić und Michael Stavarič machen Bleutge zufolge ihren Job grundsätzlich gut, lösen sich aber nicht immer genug vom Original. Lieber wäre dem Rezensenten eine umfangreichere Veröffentlichung gewesen, die die Gedichte auch originalsprachlich abdruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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