Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta
- 1998.
- Seitenzahl: 328
- Deutsch
- Abmessung: 33mm x 135mm x 210mm
- Gewicht: 518g
- ISBN-13: 9783608919523
- ISBN-10: 360891952X
- Artikelnr.: 07586178
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.1999Der große Paukerschlag
Herrmann Giesecke erkennt in den Schülern Opfer der Politik
Systembilanzen sind von Lebensbilanzen zu unterscheiden. Die langen und unkontrollierten Zeiten, die mit Bildungsreformen verbunden sind, können eigentlich nur mit einem erheblichen historischen Abstand bilanziert werden. Wenn Herrmann Giesecke "Lehren aus 30 Jahre Bildungspolitik" in Deutschland vorlegt, dann soll eine Systembilanz gezogen werden, die deutlich dem professionellen Leben verbunden ist. Sie ist aus dem pädagogischen Diskurs heraus geschrieben, dem der Erziehungswissenschaftler Giesecke angehört und für den er schreibt.
Grundlegend ist eine einfache Verfallsgeschichte, nämlich die Preisgabe inhaltlicher, fachgebundener Bildungsansprüche in den öffentlichen Schulen zugunsten einer subjektzentrierten Reformpädagogik, die für den Niedergang der Qualität verantwortlich gemacht wird. Was sie ausmachen soll, wird nirgends genau gefaßt, aber Giesecke nimmt an, es gäbe unterschwellige Kontinuität zwischen Reformbewegungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und solchen der heutigen Schulentwicklung, weil in beiden Fällen die Priorität fachlichen Unterrichts abgelehnt wird. Vorrang erhalte eine je neue Erziehung, die die Institution Schule zugunsten der Psychologie des Kindes aufgeweicht habe. Der Gegenbegriff ist "Bildung", scharf unterschieden von "Erziehung". Das Bildungskonzept sei "die modernste pädagogische Idee der Neuzeit", und sie sei wirksam geworden, weil sie nicht mit Erziehungsideen gekoppelt werden konnte.
Einen historischen Nachweis für diese Entkoppelungsthese, die zum Beispiel der ständigen Berufung auf den erziehenden Unterricht widerspricht, liefert Giesecke nicht. Überhaupt sind die geschichtlichen Bezüge wenig ergiebig, das Buch ist eine interessante bildungspolitische Polemik, keine schul- oder bildungshistorische Analyse. Eine solche ist aber für das Argument maßgebend. Die Idee der Erziehung, ausgehend von den "Re-Education"-Versuchen im (westlichen) Nachkriegsdeutschland, wird für den Sündenfall der Bildungsreform verantwortlich gemacht, nämlich die Pädagogisierung von Schule und die Preisgabe fachlicher Standards. Aber ein direkter Zusammenhang zwischen den (kaum sehr wirksamen) Versuchen einer "Re-Education" nach 1945 und den Strukturrevisionen der "Bildungsreform" fünfundzwanzig Jahre später läßt sich vermutlich nur schwer nachweisen.
Dafür greift eine Polemik, die nur aus den traditionellen Gegensätzen der Pädagogik heraus verständlich ist. Von "erzieherischem Geschwätz" ist die Rede, dieser Teil der Pädagogik wird unter einen radikalen Ideologieverdacht gestellt, der auf der anderen Seite die Notwendigkeit von "Bildung" neu erstrahlen läßt, um den Preis eines nicht sehr einsichtigen Dualismus. Giesecke braucht den Dualismus aber, damit die Bildungsreform der sechziger und siebziger Jahre als "Demontage" gerade der Bildung erscheinen kann. Die Fachlichkeit der Schule sei preisgegeben worden, die objektiven Standards seien verschwunden, die Expansion habe die Grenzen der Begabung übersehen, "Begabung und Lernen" muß dann ein grandioser Irrtum gewesen sein; das Gymnasium wurde demontiert, das Universitätsstudium "vernichtet", erziehungswissenschaftliche Moden ersetzten fachliche Strenge, die Illusion des Praxisbezuges grassierte als heimlicher Triumph einer umfassenden Pädagogisierung der Universität.
Der Pädagoge, muß man schließen, definiert das eigene Fach als Sündenbock. Die Lösung des Problems, Partizipation in öffentlicher Bildung, schließt an nichtgenannte Konzepte europäischer Pädagogik an, die tatsächlich neu ins Spiel zu bringen wären. Andererseits spielt Giesecke zu sehr mit dem Popanz "Reformpädagogik", der unmöglich allein am Niedergang schuld sein kann. Schon die historische Reformpädagogik war weit mehr Provokation als Realität, und die Neigung der Pädagogik, sich selbst - mit reformpädagogischen Vorbildern - zu pädagogisieren, darf nicht für einen Praxiseffekt gehalten werden. Giesecke wirkt dort überzeugend, wo er die fachlichen Bezüge des Unterrichts stark macht. Theodor Wilhelms Idee, daß Fächer "Wirklichkeitsbereiche" repräsentieren, die zum Verstehen der Welt unumgänglich sind, auch weil sie abstrakt sind und nur über Abstraktionen "Lebensbezüge" erlauben, wird mit einsichtigen Gründen reaktiviert. Die allgemeinbildende Schule wird sich nur dann nicht aus der Gesellschaft verabschieden, wenn sie sich an Wissenschaften orientiert und damit der Psychologisierung widersteht.
Bildungspolitische Entscheidungen sind immer und notwendig mit Illusionen verbunden. Das gilt auch für eine Politik, die sich auf Gieseckes "Bildungsschule" einlassen würde. Das Problem ist eher, daß auch die Alternativen nie mit Risikoanalysen einherkommen, daß empirische Daten fehlen und aus diesem Grunde Schuldzuweisungen leicht sind. Die Phänomene, die Giesecke beschreibt, also Leistungsrückgang, Bildungszerfall und Kanonauflösung, sind im Schuldiskurs dieses Jahrhunderts ständig und international auf sehr ähnliche Weise moniert worden, ohne die Frage zu beachten, ob sie überhaupt je so existiert haben, wie die Kritiker sie sehen wollten. 1953 war in einer amerikanischen Studie von educational wastelands die Rede, 1957 inszenierten die Medien den "Sputnik-Schock", 1983 war "A Nation at Risk", dazwischen sind viele Millionen Schüler verschult worden, was ohne Normalform und ohne Normalstandards nicht möglich gewesen wäre. Insofern macht sich Giesecke Illusionen über Illusionen. JÜRGEN OELKERS
Herrmann Giesecke: "Pädagogische Illusionen". Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 329 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herrmann Giesecke erkennt in den Schülern Opfer der Politik
Systembilanzen sind von Lebensbilanzen zu unterscheiden. Die langen und unkontrollierten Zeiten, die mit Bildungsreformen verbunden sind, können eigentlich nur mit einem erheblichen historischen Abstand bilanziert werden. Wenn Herrmann Giesecke "Lehren aus 30 Jahre Bildungspolitik" in Deutschland vorlegt, dann soll eine Systembilanz gezogen werden, die deutlich dem professionellen Leben verbunden ist. Sie ist aus dem pädagogischen Diskurs heraus geschrieben, dem der Erziehungswissenschaftler Giesecke angehört und für den er schreibt.
Grundlegend ist eine einfache Verfallsgeschichte, nämlich die Preisgabe inhaltlicher, fachgebundener Bildungsansprüche in den öffentlichen Schulen zugunsten einer subjektzentrierten Reformpädagogik, die für den Niedergang der Qualität verantwortlich gemacht wird. Was sie ausmachen soll, wird nirgends genau gefaßt, aber Giesecke nimmt an, es gäbe unterschwellige Kontinuität zwischen Reformbewegungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und solchen der heutigen Schulentwicklung, weil in beiden Fällen die Priorität fachlichen Unterrichts abgelehnt wird. Vorrang erhalte eine je neue Erziehung, die die Institution Schule zugunsten der Psychologie des Kindes aufgeweicht habe. Der Gegenbegriff ist "Bildung", scharf unterschieden von "Erziehung". Das Bildungskonzept sei "die modernste pädagogische Idee der Neuzeit", und sie sei wirksam geworden, weil sie nicht mit Erziehungsideen gekoppelt werden konnte.
Einen historischen Nachweis für diese Entkoppelungsthese, die zum Beispiel der ständigen Berufung auf den erziehenden Unterricht widerspricht, liefert Giesecke nicht. Überhaupt sind die geschichtlichen Bezüge wenig ergiebig, das Buch ist eine interessante bildungspolitische Polemik, keine schul- oder bildungshistorische Analyse. Eine solche ist aber für das Argument maßgebend. Die Idee der Erziehung, ausgehend von den "Re-Education"-Versuchen im (westlichen) Nachkriegsdeutschland, wird für den Sündenfall der Bildungsreform verantwortlich gemacht, nämlich die Pädagogisierung von Schule und die Preisgabe fachlicher Standards. Aber ein direkter Zusammenhang zwischen den (kaum sehr wirksamen) Versuchen einer "Re-Education" nach 1945 und den Strukturrevisionen der "Bildungsreform" fünfundzwanzig Jahre später läßt sich vermutlich nur schwer nachweisen.
Dafür greift eine Polemik, die nur aus den traditionellen Gegensätzen der Pädagogik heraus verständlich ist. Von "erzieherischem Geschwätz" ist die Rede, dieser Teil der Pädagogik wird unter einen radikalen Ideologieverdacht gestellt, der auf der anderen Seite die Notwendigkeit von "Bildung" neu erstrahlen läßt, um den Preis eines nicht sehr einsichtigen Dualismus. Giesecke braucht den Dualismus aber, damit die Bildungsreform der sechziger und siebziger Jahre als "Demontage" gerade der Bildung erscheinen kann. Die Fachlichkeit der Schule sei preisgegeben worden, die objektiven Standards seien verschwunden, die Expansion habe die Grenzen der Begabung übersehen, "Begabung und Lernen" muß dann ein grandioser Irrtum gewesen sein; das Gymnasium wurde demontiert, das Universitätsstudium "vernichtet", erziehungswissenschaftliche Moden ersetzten fachliche Strenge, die Illusion des Praxisbezuges grassierte als heimlicher Triumph einer umfassenden Pädagogisierung der Universität.
Der Pädagoge, muß man schließen, definiert das eigene Fach als Sündenbock. Die Lösung des Problems, Partizipation in öffentlicher Bildung, schließt an nichtgenannte Konzepte europäischer Pädagogik an, die tatsächlich neu ins Spiel zu bringen wären. Andererseits spielt Giesecke zu sehr mit dem Popanz "Reformpädagogik", der unmöglich allein am Niedergang schuld sein kann. Schon die historische Reformpädagogik war weit mehr Provokation als Realität, und die Neigung der Pädagogik, sich selbst - mit reformpädagogischen Vorbildern - zu pädagogisieren, darf nicht für einen Praxiseffekt gehalten werden. Giesecke wirkt dort überzeugend, wo er die fachlichen Bezüge des Unterrichts stark macht. Theodor Wilhelms Idee, daß Fächer "Wirklichkeitsbereiche" repräsentieren, die zum Verstehen der Welt unumgänglich sind, auch weil sie abstrakt sind und nur über Abstraktionen "Lebensbezüge" erlauben, wird mit einsichtigen Gründen reaktiviert. Die allgemeinbildende Schule wird sich nur dann nicht aus der Gesellschaft verabschieden, wenn sie sich an Wissenschaften orientiert und damit der Psychologisierung widersteht.
Bildungspolitische Entscheidungen sind immer und notwendig mit Illusionen verbunden. Das gilt auch für eine Politik, die sich auf Gieseckes "Bildungsschule" einlassen würde. Das Problem ist eher, daß auch die Alternativen nie mit Risikoanalysen einherkommen, daß empirische Daten fehlen und aus diesem Grunde Schuldzuweisungen leicht sind. Die Phänomene, die Giesecke beschreibt, also Leistungsrückgang, Bildungszerfall und Kanonauflösung, sind im Schuldiskurs dieses Jahrhunderts ständig und international auf sehr ähnliche Weise moniert worden, ohne die Frage zu beachten, ob sie überhaupt je so existiert haben, wie die Kritiker sie sehen wollten. 1953 war in einer amerikanischen Studie von educational wastelands die Rede, 1957 inszenierten die Medien den "Sputnik-Schock", 1983 war "A Nation at Risk", dazwischen sind viele Millionen Schüler verschult worden, was ohne Normalform und ohne Normalstandards nicht möglich gewesen wäre. Insofern macht sich Giesecke Illusionen über Illusionen. JÜRGEN OELKERS
Herrmann Giesecke: "Pädagogische Illusionen". Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 329 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"...In vier Kapiteln, deren Überschriften schon die Stossrichtung der Argumentation erkennen lassen ("Was ist Bildung?", "Warum die Bildung in Misskredit geraten ist", "Gescheiterte Alternativen zur Bildung", "Bildung für die Zukunft"), versucht der Autor, dem Malaise einen positiven Entwurf entgegenzusetzen. Er setzt ein mit der Rückbesinnung auf das, was ursprünglich mit Bildung gemeint war, und ist getragen von der Überzeugung, dass eben sie das Potential birgt, um sinnvoll kommenden Anforderungen begegnen zu können. Denn schon seit Humboldts Tagen gehöre zu den Grundeinsichten jeder bildungstheoretischen Reflexion, dass ein ganz auf Effizienz ausgerichtetes System ineffizient sei. Ein für globalkapitalistische Ohren fürwahr revolutionärer Gedanke." (NZZ)