Vier Frauen, die ein Schweigen verbindet. Und die Frage nach der Wahrheit. Was geschah wirklich, damals im Treppenhaus der Schule? Les Mains gamines est le troisième roman que nous confie Emmanuelle Pagano. Comme ça, à première vue, ce titre plaisant, presque charmant, semble annoncer une histoire agréable et poétique, pleine d'enfance. Et, de fait, l'enfance est présente dans ce livre et une certaine forme de poésie n'en est ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2011Insekt im Ohr
Emmanuelle Pagano begeht ein heikles Klassentreffen
Emmanuelle Pagano hat das Kunststück vollbracht, über Außenseiterfiguren in einer anspruchsvollen Sprache zu schreiben und trotzdem innerhalb weniger Jahre einen gewissen Erfolg zu erlangen: In Deutschland liegt nach "Der Tag war blau" und "Die Haarschublade" schon ein dritter Roman vor, "Bübische Hände". Dem Wagenbach Verlag gebührt Dank, denn jene Bücher sind selten, in denen sich die Sätze über Kapitel hinweg antworten wie poetische Echos, in denen Motive aufs engste verwoben und geradezu in die Figuren versenkt werden, wie etwa das eindrucksvolle Motiv des Sees in "Der Tag war blau".
Auch "Bübische Hände" greift die Geschichte einer Exzentrikerin auf: Im Zentrum des Romans steht eine geheimnisvolle Putzfrau, die "Hardcore-Gedichte" verfasst, in denen das weibliche Geschlecht eine prominente Rolle spielt. Über sie berichten gleich vier Erzählerinnen: eine reiche Winzersgattin, bei der sie arbeitet; eine ehemalige Kastaniensammlerin und Mutter zweier Klassenkameraden des Winzers; eine ehemalige Grundschullehrerin sowie die Enkelin der Kastaniensammlerin.
Evoziert werden die Gegenwart und vor allem die Vergangenheit, denn ein Treffen besagter Grundschulklasse steht an. Zu diesem Anlass kommen heikle Dinge ans Licht: Die "bübischen Hände" der gesamten Klasse, welche die damals Zehnjährige ein Jahr lang befummelten - die Lehrerin griff aus Bequemlichkeit nicht ein. Das Leben der begabten und wissbegierigen Schülerin ist daran zerbrochen, "die unsichtbaren Gewaltspuren im Innern ihrer Schenkel" schmerzen weiter. Pagano findet ein schönes Bild, um das kollektiv verschwiegene Eindringen in den Mädchenkörper zu illustrieren: Alle Erzählerinnen leiden unter einer Störung des Gehörs, sei es durch Alterstaubheit oder ein Insekt im Ohr.
Ausgenommen ist nur das junge Mädchen am Ende, das am Abend des Klassentreffens zwar einer Art Katharsis beiwohnt, selbst aber gefährdet scheint. Gerade die Vagheit in diesem Punkt überzeugt allerdings nicht: So sehr Pagano sonst über feine Andeutungen Gefühle und Sachverhalte zu greifen versteht, so sehr gleitet ihr Instrumentarium hier ins Nebulöse ab. Das ist symptomatisch, da es dem Roman allgemein nicht gelingt, in der gewohnten Weise plastisch zu sein; die Erzählerinnenstimmen haben nicht den treffsicheren eigenen Ton, die Bilder schweifen ab. Mangel an Talent kann der Grund nicht sein: Vielleicht hätte es einfach hundert Seiten mehr gebraucht, um einen so abgründigen Mikrokosmos zu gestalten.
NIKLAS BENDER
Emmanuelle Pagano: "Bübische Hände". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 144 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuelle Pagano begeht ein heikles Klassentreffen
Emmanuelle Pagano hat das Kunststück vollbracht, über Außenseiterfiguren in einer anspruchsvollen Sprache zu schreiben und trotzdem innerhalb weniger Jahre einen gewissen Erfolg zu erlangen: In Deutschland liegt nach "Der Tag war blau" und "Die Haarschublade" schon ein dritter Roman vor, "Bübische Hände". Dem Wagenbach Verlag gebührt Dank, denn jene Bücher sind selten, in denen sich die Sätze über Kapitel hinweg antworten wie poetische Echos, in denen Motive aufs engste verwoben und geradezu in die Figuren versenkt werden, wie etwa das eindrucksvolle Motiv des Sees in "Der Tag war blau".
Auch "Bübische Hände" greift die Geschichte einer Exzentrikerin auf: Im Zentrum des Romans steht eine geheimnisvolle Putzfrau, die "Hardcore-Gedichte" verfasst, in denen das weibliche Geschlecht eine prominente Rolle spielt. Über sie berichten gleich vier Erzählerinnen: eine reiche Winzersgattin, bei der sie arbeitet; eine ehemalige Kastaniensammlerin und Mutter zweier Klassenkameraden des Winzers; eine ehemalige Grundschullehrerin sowie die Enkelin der Kastaniensammlerin.
Evoziert werden die Gegenwart und vor allem die Vergangenheit, denn ein Treffen besagter Grundschulklasse steht an. Zu diesem Anlass kommen heikle Dinge ans Licht: Die "bübischen Hände" der gesamten Klasse, welche die damals Zehnjährige ein Jahr lang befummelten - die Lehrerin griff aus Bequemlichkeit nicht ein. Das Leben der begabten und wissbegierigen Schülerin ist daran zerbrochen, "die unsichtbaren Gewaltspuren im Innern ihrer Schenkel" schmerzen weiter. Pagano findet ein schönes Bild, um das kollektiv verschwiegene Eindringen in den Mädchenkörper zu illustrieren: Alle Erzählerinnen leiden unter einer Störung des Gehörs, sei es durch Alterstaubheit oder ein Insekt im Ohr.
Ausgenommen ist nur das junge Mädchen am Ende, das am Abend des Klassentreffens zwar einer Art Katharsis beiwohnt, selbst aber gefährdet scheint. Gerade die Vagheit in diesem Punkt überzeugt allerdings nicht: So sehr Pagano sonst über feine Andeutungen Gefühle und Sachverhalte zu greifen versteht, so sehr gleitet ihr Instrumentarium hier ins Nebulöse ab. Das ist symptomatisch, da es dem Roman allgemein nicht gelingt, in der gewohnten Weise plastisch zu sein; die Erzählerinnenstimmen haben nicht den treffsicheren eigenen Ton, die Bilder schweifen ab. Mangel an Talent kann der Grund nicht sein: Vielleicht hätte es einfach hundert Seiten mehr gebraucht, um einen so abgründigen Mikrokosmos zu gestalten.
NIKLAS BENDER
Emmanuelle Pagano: "Bübische Hände". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 144 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main