No evocation of Parisian life in the second half of the nineteenth century can match that found in the journals of the brothers Goncourt The journal of the brothers Edmond and Jules de Goncourt is one of the masterpieces of nineteenth-century French literature, a work that in its richness of color, variety, and seemingly casual perfection bears comparison with the great paintings of their friends and contemporaries the Impressionists. Born nearly ten years apart into a French aristocratic family, the two brothers formed an extraordinarily productive and enduring literary partnership, collaborating on novels, criticism, and plays that pioneered the new aesthetic of naturalism. But the brothers' talents found their most memorable outlet in their journal, which is at once a chronicle of an era, an intimate glimpse into their lives, and the purest expression of a nascent modern sensibility preoccupied with sex and art, celebrity and self-exposure. The Goncourts visit slums, brothels, balls, department stores, and imperial receptions; they argue over art and politics and trade merciless gossip with and about Hugo, Baudelaire, Degas, Flaubert, Zola, Rodin, and many others. And in 1871, Edmond maintains a vigil as his brother dies a slow and agonizing death from syphilis, recording every detail in the journal that he would continue to maintain alone for another two decades.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungIhre Gunst schwankte, ihr Urteil nie
Siebentausend Seiten und keine davon langweilig: In den nun erstmals komplett auf Deutsch erschienenen Tagebüchern der Brüder Goncourt lässt sich eine ganze Epoche mit ihrer Kultur und ihrer Politik erleben und erlesen.
Seit drei Wochen habe ich im neunzehnten Jahrhundert gelebt, zumindest einige Stunden täglich, und nach jeder dieser Zeitreisen war das Widerstreben zurückzukehren groß, denn so lebendig, wie die Goncourts ihre Epoche, die Zeit von 1851 bis 1896, schildern, kann die Gegenwart kaum sein. Ein Beispiel? Gehen wir hundertfünfzig Jahre zurück nach Paris und mitten hinein in eine Unterhaltung vom 11. Mai 1863, geführt im Restaurant Magny. Unter den Teilnehmern: die Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve, Ernest Renan und Théophile Gautier, die Journalisten Auguste Nefftzer und Paul de Saint-Victor sowie natürlich Edmond de Goncourt und sein Bruder Jules, der dieses höchst prominent besetzte Streitgespräch über Literatur aufnotiert hat.
"Nun ja", sagt Edmond, "Homer beschreibt nur körperliche Leiden. Bis zur Beschreibung seelischer Leiden sind es Welten. Der schlechteste psychologische Roman berührt mich mehr als Homer."
"Oh! sagen Sie bloß", ruft Saint-Victor.
"Ja, Adolphe, Adolphe berührt mich mehr als Homer."
"Das ist ja zum aus dem Fenster Springen, wenn man so was hört", ruft Saint-Victor, während ihm die Augen aus dem Kopf treten. Man hat auf seinem Gott herumgetrampelt, man hat auf seine Hostie gespuckt. Er schreit, er stampft mit den Füßen. Er ist knallrot, als hätte man gerade seinen Vater geohrfeigt. "Die Griechen sind unumstößlich ... Er ist verrückt ... Kann man wahrhaft ... Das ist göttlich ..."
Es herrscht ein einziges Stimmengewirr. Alles redet. Eine Stimme trompetet: "Aber der Hund von Odysseus ... - Homer, Homer ...", ruft Sainte-Beuve mit der Pietät eines Predigers. Ich rufe Sainte-Beuve zu: "Und wir sind die Zukunft!"
"Ich glaube ja", bemerkt Sainte-Beuve traurig.
In der Tat: Den Goncourts sollte die Zukunft gehören, und es gibt keinen Grund, darüber traurig zu sein. Außer, dass es so lang gedauert hat, bis die Zukunft anbrach, in Frankreich bis 1956, in Deutschland sogar bis 2013. Das sind die Jahre, in denen in den jeweiligen Sprachen erstmals komplett jenes Buch erschien, das die Goncourts schon in ihrer Zeit berühmt (und berüchtigt) gemacht hatte, das aber zunächst nur in stark bearbeiteten Auszügen erschien: das "Journal", ihr Tagebuch, das am 2. Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreichs von Napoleons Neffen Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, begonnen und am 3. Juli 1896, dreizehn Tage vor dem Tod des überlebenden Bruders Edmond, beendet wurde. 45 Jahre lang wurde es akribisch geführt, wurde alles festgehalten, was die Brüder interessierte. Und das war viel: Der Umfang addiert sich in der jetzt endlich vollendeten deutschen Komplettübersetzung auf fast siebentausend Seiten. Keine davon ist überflüssig, keine langweilig.
Mehr als das: Jede davon trägt einen wichtigen Teil bei zu einer Chronik, die ihresgleichen nicht hat, in keiner Epoche. Deshalb muss man sie alle lesen, meinethalben in Stückchen, aber doch am besten in einer großen konzentrierten Zeitreise, dann erst entfaltet sich der wahre Sog dieses Schreibens, ist die Erinnerung beim Lesen noch frisch, wenn nach Jahren plötzlich wieder Protagonisten auftauchen, die man längst aus den Augen verloren hatte (wobei da das rund fünftausend Namen zählende Personenregister im Beibuch hilft). Die Gunst der Goncourts war wankelmütig, ihr Urteil scharf, außer sich selbst anerkannten sie niemanden. Ihrer Bedeutung als Begründer des naturalistischen Romans waren sie sich genauso bewusst wie ihrer Pionierrolle als europäische Entdecker der japanischen Kunst oder als Wiedererwecker der französischen Kunst des achtzehnten Jahrhunderts. Sie waren konservative Revolutionäre, die der Bourbonen-Monarchie vor 1789 hinterhertrauerten, sich auch kurzfristig auf die Seite der Orléanisten schlugen - bezeichnenderweise erst nach dem Sturz des Bürgerkönigs Louis-Philippe 1848 - und die Republik wegen der Mittelmäßigkeit ihrer Exponenten verachteten.
Diese Zeitenthobenheit, ihr Widerstand gegen den Zeitgeschmack, machte sie aber auch zu vielgeschmähten Leuten. Sie galten als Reaktionäre, bloße Ästheten und vor allem als hemmungslose Plaudertaschen - vor allem, seit Edmond im Jahr 1885, fünfzehn Jahre nach dem frühen Tod von Jules, damit begann, Auszüge aus ihren Tagebüchern, die nun er allein fortführte, zu publizieren. Er hielt 1889 die Bemerkung eines Freundes fest: "Ach! wie Sie verabscheut, gehasst werden, das übersteigt jede Vorstellung." Worauf Edmond erwiderte: "Ja, ja, ich weiß, die Anständigkeit meines Lebens, mein deutlicher Rückzug von der Welt der Journalisten, meine Angriffe auf die heute herrschende jüdische Gesellschaft, meine Geringschätzung und meine Verachtung für diesen verrufenen Haufen von Männern und Frauen, aus denen sich eine Premiere zusammensetzt, all das bewirkt, dass man mich verabscheut, da erzählen Sie mir nichts Neues!" Er gab sich stolz darauf, doch der fehlende Respekt ihrer Zeitgenossen nagte an den Goncourts.
Dadurch wurden üble Tendenzen verstärkt, die in Edmonds Antwort anklingen: ihr Antisemitismus zum Beispiel, der sich mit hässlicher Regelmäßigkeit durch das ganze "Journal" zieht. Wobei Jules, der bis zu seinem Tod 1870 das Tagebuch fast allein führte, der diesbezüglich bösartigere Kommentator war, während Edmond sich erst im Laufe der Folgejahre zum expliziten Antisemiten wandelte. Allerdings findet sich kurz nach Bekanntwerden der Dreyfus-Affäre und der schmählichen Degradierung des Leutnants vor einer geifernden Menge von Schaulustigen am 5. Januar 1895 ein hellsichtiger Eintrag: "Das war für mich die Gelegenheit, hinsichtlich dieses Elenden, von dessen Verrat ich gar nicht überzeugt bin, zu erklären, dass die Urteile der Journalisten dieselben sind wie die der Jungen, die auf die Bäume geklettert waren."
Man muss jedoch befürchten, dass Dreyfus (dessen spätere Rehabilitierung Edmond de Goncourt nicht mehr erlebte) davon profitierte, dass Zeitungen und öffentliche Meinung anfangs einheitlich über ihn herfielen. Das waren zwei Instanzen, denen Goncourt zutiefst misstraute. Und auch der Neid auf den Erfolg des antisemitischen Pamphlets "La France juive" seines Freunds Edouard Drumont, das von 1886 bis zu Edmonds Tod mehr als hundert Auflagen erlebte, mag den anfänglichen Beifall Goncourts für die darin behauptete jüdische Korrumpierung der Gesellschaft ins Gegenteil gewendet haben. 1891 bedauerte Edmond, dass die Polemiken um die eigenen Bücher nie zu ähnlichen Verkaufszahlen geführt hätten.
Dabei schrieben die Goncourts in beeindruckendem Tempo Buch auf Buch. Nahezu jedes neue Jahr von 1851 bis 1870 brachte auch einen neuen Roman oder eine historische Studie, und gerade die Belletristik der Goncourts, die meist Frauen als Hauptfiguren wählten, etablierte einen neuen Stil: weg von der gutbürgerlichen Gesellschaft zugunsten deren Randzonen und Abgründe sowie Dialoge, die dem Leben abgelauscht waren.
Als Basis dafür diente das "Journal", und es ist bezeichnend, dass die Brüder fast alle Buchmanuskripte vernichteten (eines, das zu "Madame Gervaisais", hatten sie verschenkt), die Tagebücher aber sorgsam hüteten. Sie sind nämlich viel mehr als ein Steinbruch, sie sind ein Kronjuwel der Literatur, an dem von den Autoren immer wieder geschliffen und poliert wurde, teilweise noch bis kurz vor Edmonds Tod. Jules war der bessere Schriftsteller, seine Personen- und auch Naturbeobachtungen sind grandios, Edmond hatte mehr Spaß an dem, was man ihm erzählte. Aber er wusste genau, was er da hütete: das Manifest einer neuen Literatur, die Aspekte in den Blick nahm, die zuvor als im Wortsinn unbeschreiblich galten: Kabalen, Lieben, Sex, Intrigen, Gerüchte.
Damit tat sich das Publikum schwer: "Was für eine verfluchte Sache ist diese Literatur nach lebenden Vorbildern, die die unsere ist", notierte Edmond 1891 rückblickend. Da hatte er, der früher das Schreiben meist dem Bruder überlassen hatte (selbst beim vor einigen Jahren auch auf Deutsch publizierten Briefwechsel der Goncourts mit ihrem Freund Flaubert stammen fast alle Briefe vor 1870 aus Jules' Feder), nach dessen Tod längst mit neuem Elan die literarische Arbeit wiederaufgenommen. Der Skandalroman "La Fille Élisa" über das Schicksal einer Prostituierten erschien 1877 und machte Furore. Wenige Jahre später sagte Edmond dem Romanschreiben adieu und ließ fortan lieber die älteren Werke für die Bühne umarbeiten, mit für ihn jedoch wieder frustrierender Resonanz.
Die letzten Jahre des "Journal" haben deshalb die Theaterwelt und ihre Intrigen im Mittelpunkt - und die Freundschaft mit dem todkranken Schriftsteller Alphonse Daudet, der in Edmonds Leben den toten Bruder als Gesprächspartner, "meine neue Familie", ersetzte. Diese Beziehung gehört in ihrer Tiefe wie gelegentlichen Zwiespältigkeit (Daudet war ungleich erfolgreicher, und der unverheiratete Edmond de Goncourt war ein bisschen verliebt in die Frau des Freundes) zum Faszinierendsten, was die Literaturgeschichte zu bieten hat.
Die Intensität dieser Beziehung ist auch verantwortlich dafür, dass das "Journal" der Goncourts so lange nicht komplett erscheinen konnte. Es war Daudet, den Edmond als Testamentsvollstrecker eingesetzt hatte, doch der Freund starb selbst bereits im Jahr nach Edmonds Tod, und seine Familie fürchtete die Offenheit, der Einträge, die sie oft genug hatten lesen können. Auch Edmond hatte 1890 konstatiert: "Wenn ich vor dem Druck bei allen nachfragen würde, von denen ich gesprochen habe, selbst bei zärtlichsten Erwägungen, wo ich aber die Leute als Menschen gezeigt hätte, könnte mein zwölfbändiges Journal auf zwölf Druckseiten gekürzt werden."
Erst 1954 wurde die erste französische Gesamtausgabe juristisch erstritten, die deutsche war nunmehr eine schiere Frage der Logistik. Wer wagt ein Riesenvorhaben, für das man kein Riesenpublikum erwarten darf, und vor allem: Wer übersetzt siebentausend Seiten? Gewagt hat es Gerd Haffmans, weshalb man das grandiose Werk exklusiv beim Zweitausendeins-Versand bekommt, und übersetzt haben es drei Frauen, die Haffmans schon bei seiner gefeierten Flaubert-Ausgabe mit an Bord hatte: Cornelia Hasting, auf die mit 28 Jahrgängen mehr als die Hälfte der Goncourt-Arbeit entfiel, Petra-Susanne Räbel mit sechzehn und die große Caroline Vollmann, die angesichts höchster Zeitnot spät noch für zwei Jahrgänge gewonnen werden konnte. Sie haben fulminant gearbeitet, das Ganze liest sich einheitlich flüssig und gut.
Dass man sich mit wenigen Ergänzungen auf die spärliche Kommentierung der französischen Ausgabe beschränkt hat, ist verständlich, wobei man sich doch ein paar Basisinformationen gewünscht hätte, die dem Verständnis der Einträge mehr genutzt hätten als etwa der meist akribische Stellennachweis aus sonstigen literarischen Werken der Goncourts, von denen ohnehin so gut wie nichts auf Deutsch verfügbar ist. Aber was macht das angesichts dieses unfassbaren Reichtums an Zeitkolorit und gnadenloser littérature vérité, die die Goncourts betrieben haben? Lange vor der Erfindung des Kinos ist dies das dokumentarische Breitwandpanorama von Paris als intellektueller Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. Was für ein schillernder, schimpfender, schlüpfriger Schatz!
Deshalb noch einmal hundertfünfzig Jahre zurück, zum 11. Mai 1863, und ans Ende des eingangs zitierten Gesprächs: "Aber da macht Gautier auf ein Wort hin, das wir über den Faun aus München ins Gespräch geworfen haben, eine Kehrtwende, eine Kehrtwende zum reinen Schönen der griechischen Bildhauerkunst, die er an den Hoden der Statuen erkennt. Und schon beschreibt er uns den griechischen Pimmel und gleichsam die Harmlosigkeit des Phallus, diese Eier fleißiger junger Leute, über die Aristophanes spricht, prall wie Oliven."
Das ist natürlich zu Lebzeiten der Goncourts nicht gedruckt worden, und man muss es auch heute noch nicht mögen, wenn so über antike Kunst geredet wird. Aber es fällt schwer, diesem wirbelnden Vergangenheitstaumel der Stimmen, Gesichter und Gelüste zu entkommen. Nein, es ist unmöglich.
ANDREAS PLATTHAUS.
Edmond & Jules de Goncourt: "Journal". Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851-1896.
Aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Leipzig 2013. 11 Bde. plus Beibuch. Zus. 7095 S., Abb., geb., 250,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Siebentausend Seiten und keine davon langweilig: In den nun erstmals komplett auf Deutsch erschienenen Tagebüchern der Brüder Goncourt lässt sich eine ganze Epoche mit ihrer Kultur und ihrer Politik erleben und erlesen.
Seit drei Wochen habe ich im neunzehnten Jahrhundert gelebt, zumindest einige Stunden täglich, und nach jeder dieser Zeitreisen war das Widerstreben zurückzukehren groß, denn so lebendig, wie die Goncourts ihre Epoche, die Zeit von 1851 bis 1896, schildern, kann die Gegenwart kaum sein. Ein Beispiel? Gehen wir hundertfünfzig Jahre zurück nach Paris und mitten hinein in eine Unterhaltung vom 11. Mai 1863, geführt im Restaurant Magny. Unter den Teilnehmern: die Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve, Ernest Renan und Théophile Gautier, die Journalisten Auguste Nefftzer und Paul de Saint-Victor sowie natürlich Edmond de Goncourt und sein Bruder Jules, der dieses höchst prominent besetzte Streitgespräch über Literatur aufnotiert hat.
"Nun ja", sagt Edmond, "Homer beschreibt nur körperliche Leiden. Bis zur Beschreibung seelischer Leiden sind es Welten. Der schlechteste psychologische Roman berührt mich mehr als Homer."
"Oh! sagen Sie bloß", ruft Saint-Victor.
"Ja, Adolphe, Adolphe berührt mich mehr als Homer."
"Das ist ja zum aus dem Fenster Springen, wenn man so was hört", ruft Saint-Victor, während ihm die Augen aus dem Kopf treten. Man hat auf seinem Gott herumgetrampelt, man hat auf seine Hostie gespuckt. Er schreit, er stampft mit den Füßen. Er ist knallrot, als hätte man gerade seinen Vater geohrfeigt. "Die Griechen sind unumstößlich ... Er ist verrückt ... Kann man wahrhaft ... Das ist göttlich ..."
Es herrscht ein einziges Stimmengewirr. Alles redet. Eine Stimme trompetet: "Aber der Hund von Odysseus ... - Homer, Homer ...", ruft Sainte-Beuve mit der Pietät eines Predigers. Ich rufe Sainte-Beuve zu: "Und wir sind die Zukunft!"
"Ich glaube ja", bemerkt Sainte-Beuve traurig.
In der Tat: Den Goncourts sollte die Zukunft gehören, und es gibt keinen Grund, darüber traurig zu sein. Außer, dass es so lang gedauert hat, bis die Zukunft anbrach, in Frankreich bis 1956, in Deutschland sogar bis 2013. Das sind die Jahre, in denen in den jeweiligen Sprachen erstmals komplett jenes Buch erschien, das die Goncourts schon in ihrer Zeit berühmt (und berüchtigt) gemacht hatte, das aber zunächst nur in stark bearbeiteten Auszügen erschien: das "Journal", ihr Tagebuch, das am 2. Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreichs von Napoleons Neffen Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, begonnen und am 3. Juli 1896, dreizehn Tage vor dem Tod des überlebenden Bruders Edmond, beendet wurde. 45 Jahre lang wurde es akribisch geführt, wurde alles festgehalten, was die Brüder interessierte. Und das war viel: Der Umfang addiert sich in der jetzt endlich vollendeten deutschen Komplettübersetzung auf fast siebentausend Seiten. Keine davon ist überflüssig, keine langweilig.
Mehr als das: Jede davon trägt einen wichtigen Teil bei zu einer Chronik, die ihresgleichen nicht hat, in keiner Epoche. Deshalb muss man sie alle lesen, meinethalben in Stückchen, aber doch am besten in einer großen konzentrierten Zeitreise, dann erst entfaltet sich der wahre Sog dieses Schreibens, ist die Erinnerung beim Lesen noch frisch, wenn nach Jahren plötzlich wieder Protagonisten auftauchen, die man längst aus den Augen verloren hatte (wobei da das rund fünftausend Namen zählende Personenregister im Beibuch hilft). Die Gunst der Goncourts war wankelmütig, ihr Urteil scharf, außer sich selbst anerkannten sie niemanden. Ihrer Bedeutung als Begründer des naturalistischen Romans waren sie sich genauso bewusst wie ihrer Pionierrolle als europäische Entdecker der japanischen Kunst oder als Wiedererwecker der französischen Kunst des achtzehnten Jahrhunderts. Sie waren konservative Revolutionäre, die der Bourbonen-Monarchie vor 1789 hinterhertrauerten, sich auch kurzfristig auf die Seite der Orléanisten schlugen - bezeichnenderweise erst nach dem Sturz des Bürgerkönigs Louis-Philippe 1848 - und die Republik wegen der Mittelmäßigkeit ihrer Exponenten verachteten.
Diese Zeitenthobenheit, ihr Widerstand gegen den Zeitgeschmack, machte sie aber auch zu vielgeschmähten Leuten. Sie galten als Reaktionäre, bloße Ästheten und vor allem als hemmungslose Plaudertaschen - vor allem, seit Edmond im Jahr 1885, fünfzehn Jahre nach dem frühen Tod von Jules, damit begann, Auszüge aus ihren Tagebüchern, die nun er allein fortführte, zu publizieren. Er hielt 1889 die Bemerkung eines Freundes fest: "Ach! wie Sie verabscheut, gehasst werden, das übersteigt jede Vorstellung." Worauf Edmond erwiderte: "Ja, ja, ich weiß, die Anständigkeit meines Lebens, mein deutlicher Rückzug von der Welt der Journalisten, meine Angriffe auf die heute herrschende jüdische Gesellschaft, meine Geringschätzung und meine Verachtung für diesen verrufenen Haufen von Männern und Frauen, aus denen sich eine Premiere zusammensetzt, all das bewirkt, dass man mich verabscheut, da erzählen Sie mir nichts Neues!" Er gab sich stolz darauf, doch der fehlende Respekt ihrer Zeitgenossen nagte an den Goncourts.
Dadurch wurden üble Tendenzen verstärkt, die in Edmonds Antwort anklingen: ihr Antisemitismus zum Beispiel, der sich mit hässlicher Regelmäßigkeit durch das ganze "Journal" zieht. Wobei Jules, der bis zu seinem Tod 1870 das Tagebuch fast allein führte, der diesbezüglich bösartigere Kommentator war, während Edmond sich erst im Laufe der Folgejahre zum expliziten Antisemiten wandelte. Allerdings findet sich kurz nach Bekanntwerden der Dreyfus-Affäre und der schmählichen Degradierung des Leutnants vor einer geifernden Menge von Schaulustigen am 5. Januar 1895 ein hellsichtiger Eintrag: "Das war für mich die Gelegenheit, hinsichtlich dieses Elenden, von dessen Verrat ich gar nicht überzeugt bin, zu erklären, dass die Urteile der Journalisten dieselben sind wie die der Jungen, die auf die Bäume geklettert waren."
Man muss jedoch befürchten, dass Dreyfus (dessen spätere Rehabilitierung Edmond de Goncourt nicht mehr erlebte) davon profitierte, dass Zeitungen und öffentliche Meinung anfangs einheitlich über ihn herfielen. Das waren zwei Instanzen, denen Goncourt zutiefst misstraute. Und auch der Neid auf den Erfolg des antisemitischen Pamphlets "La France juive" seines Freunds Edouard Drumont, das von 1886 bis zu Edmonds Tod mehr als hundert Auflagen erlebte, mag den anfänglichen Beifall Goncourts für die darin behauptete jüdische Korrumpierung der Gesellschaft ins Gegenteil gewendet haben. 1891 bedauerte Edmond, dass die Polemiken um die eigenen Bücher nie zu ähnlichen Verkaufszahlen geführt hätten.
Dabei schrieben die Goncourts in beeindruckendem Tempo Buch auf Buch. Nahezu jedes neue Jahr von 1851 bis 1870 brachte auch einen neuen Roman oder eine historische Studie, und gerade die Belletristik der Goncourts, die meist Frauen als Hauptfiguren wählten, etablierte einen neuen Stil: weg von der gutbürgerlichen Gesellschaft zugunsten deren Randzonen und Abgründe sowie Dialoge, die dem Leben abgelauscht waren.
Als Basis dafür diente das "Journal", und es ist bezeichnend, dass die Brüder fast alle Buchmanuskripte vernichteten (eines, das zu "Madame Gervaisais", hatten sie verschenkt), die Tagebücher aber sorgsam hüteten. Sie sind nämlich viel mehr als ein Steinbruch, sie sind ein Kronjuwel der Literatur, an dem von den Autoren immer wieder geschliffen und poliert wurde, teilweise noch bis kurz vor Edmonds Tod. Jules war der bessere Schriftsteller, seine Personen- und auch Naturbeobachtungen sind grandios, Edmond hatte mehr Spaß an dem, was man ihm erzählte. Aber er wusste genau, was er da hütete: das Manifest einer neuen Literatur, die Aspekte in den Blick nahm, die zuvor als im Wortsinn unbeschreiblich galten: Kabalen, Lieben, Sex, Intrigen, Gerüchte.
Damit tat sich das Publikum schwer: "Was für eine verfluchte Sache ist diese Literatur nach lebenden Vorbildern, die die unsere ist", notierte Edmond 1891 rückblickend. Da hatte er, der früher das Schreiben meist dem Bruder überlassen hatte (selbst beim vor einigen Jahren auch auf Deutsch publizierten Briefwechsel der Goncourts mit ihrem Freund Flaubert stammen fast alle Briefe vor 1870 aus Jules' Feder), nach dessen Tod längst mit neuem Elan die literarische Arbeit wiederaufgenommen. Der Skandalroman "La Fille Élisa" über das Schicksal einer Prostituierten erschien 1877 und machte Furore. Wenige Jahre später sagte Edmond dem Romanschreiben adieu und ließ fortan lieber die älteren Werke für die Bühne umarbeiten, mit für ihn jedoch wieder frustrierender Resonanz.
Die letzten Jahre des "Journal" haben deshalb die Theaterwelt und ihre Intrigen im Mittelpunkt - und die Freundschaft mit dem todkranken Schriftsteller Alphonse Daudet, der in Edmonds Leben den toten Bruder als Gesprächspartner, "meine neue Familie", ersetzte. Diese Beziehung gehört in ihrer Tiefe wie gelegentlichen Zwiespältigkeit (Daudet war ungleich erfolgreicher, und der unverheiratete Edmond de Goncourt war ein bisschen verliebt in die Frau des Freundes) zum Faszinierendsten, was die Literaturgeschichte zu bieten hat.
Die Intensität dieser Beziehung ist auch verantwortlich dafür, dass das "Journal" der Goncourts so lange nicht komplett erscheinen konnte. Es war Daudet, den Edmond als Testamentsvollstrecker eingesetzt hatte, doch der Freund starb selbst bereits im Jahr nach Edmonds Tod, und seine Familie fürchtete die Offenheit, der Einträge, die sie oft genug hatten lesen können. Auch Edmond hatte 1890 konstatiert: "Wenn ich vor dem Druck bei allen nachfragen würde, von denen ich gesprochen habe, selbst bei zärtlichsten Erwägungen, wo ich aber die Leute als Menschen gezeigt hätte, könnte mein zwölfbändiges Journal auf zwölf Druckseiten gekürzt werden."
Erst 1954 wurde die erste französische Gesamtausgabe juristisch erstritten, die deutsche war nunmehr eine schiere Frage der Logistik. Wer wagt ein Riesenvorhaben, für das man kein Riesenpublikum erwarten darf, und vor allem: Wer übersetzt siebentausend Seiten? Gewagt hat es Gerd Haffmans, weshalb man das grandiose Werk exklusiv beim Zweitausendeins-Versand bekommt, und übersetzt haben es drei Frauen, die Haffmans schon bei seiner gefeierten Flaubert-Ausgabe mit an Bord hatte: Cornelia Hasting, auf die mit 28 Jahrgängen mehr als die Hälfte der Goncourt-Arbeit entfiel, Petra-Susanne Räbel mit sechzehn und die große Caroline Vollmann, die angesichts höchster Zeitnot spät noch für zwei Jahrgänge gewonnen werden konnte. Sie haben fulminant gearbeitet, das Ganze liest sich einheitlich flüssig und gut.
Dass man sich mit wenigen Ergänzungen auf die spärliche Kommentierung der französischen Ausgabe beschränkt hat, ist verständlich, wobei man sich doch ein paar Basisinformationen gewünscht hätte, die dem Verständnis der Einträge mehr genutzt hätten als etwa der meist akribische Stellennachweis aus sonstigen literarischen Werken der Goncourts, von denen ohnehin so gut wie nichts auf Deutsch verfügbar ist. Aber was macht das angesichts dieses unfassbaren Reichtums an Zeitkolorit und gnadenloser littérature vérité, die die Goncourts betrieben haben? Lange vor der Erfindung des Kinos ist dies das dokumentarische Breitwandpanorama von Paris als intellektueller Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. Was für ein schillernder, schimpfender, schlüpfriger Schatz!
Deshalb noch einmal hundertfünfzig Jahre zurück, zum 11. Mai 1863, und ans Ende des eingangs zitierten Gesprächs: "Aber da macht Gautier auf ein Wort hin, das wir über den Faun aus München ins Gespräch geworfen haben, eine Kehrtwende, eine Kehrtwende zum reinen Schönen der griechischen Bildhauerkunst, die er an den Hoden der Statuen erkennt. Und schon beschreibt er uns den griechischen Pimmel und gleichsam die Harmlosigkeit des Phallus, diese Eier fleißiger junger Leute, über die Aristophanes spricht, prall wie Oliven."
Das ist natürlich zu Lebzeiten der Goncourts nicht gedruckt worden, und man muss es auch heute noch nicht mögen, wenn so über antike Kunst geredet wird. Aber es fällt schwer, diesem wirbelnden Vergangenheitstaumel der Stimmen, Gesichter und Gelüste zu entkommen. Nein, es ist unmöglich.
ANDREAS PLATTHAUS.
Edmond & Jules de Goncourt: "Journal". Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851-1896.
Aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Leipzig 2013. 11 Bde. plus Beibuch. Zus. 7095 S., Abb., geb., 250,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungEin Staatsstreich der Literatur
Am 2. Dezember 1851 begannen Edmond und Jules de Goncourt ihr Tagebuch. Es wurde eine „Comédie humaine“ voller Sottisen,
Skandale, Affären, Huren und Todesfälle – nun ist das „Journal“ zum ersten Mal ungekürzt auf Deutsch zu lesen
VON LOTHAR MÜLLER
Um acht Uhr morgens kommt ein Vetter ins Zimmer und ruft: „Nun! Also! Die Revolution ist im Gange!“ Es ist aber keine Revolution, es ist der Staatsstreich Louis Napoleons vom 2. Dezember 1851, der Auftakt zum Zweiten Kaiserreich. Die Rufe „Es lebe die Republik!“ ersterben schnell, die wenigen Barrikaden auf den Boulevards sind ebenso schnell geräumt. Jules und Edmond Goncourt sind schnell auf der Straße, auf dem Weg zum Haus ihres Onkels in der Rue de Verneuil. Der Staatsstreich kommt ihnen, abgesehen davon, dass sie nicht mit ihm sympathisieren, sehr ungelegen. In wenigen Tagen soll ihr erster Roman erscheinen. Unter den Plakaten an Anschlagstafeln und Hausmauern vermissen sie das wichtigste: das Werbeplakat für ihren ersten Roman. Er führt leider den Titel „En 18 . . . “, und das klingt so anzüglich nach „18. Brumaire“, Staatsstreich, dass in der von Truppen umstellen Druckerei die Plakate eingestampft worden sind.
So erscheint der Roman ohne Plakate am 5. Dezember, er verschwindet rasch. Das Tagebuch aber, das die Brüder Goncourt an diesem 2. Dezember begonnen haben, bleibt. Den Staatsstreich werden sie darin wie eine schlecht inszenierte Theateraufführung rezensieren: „dieser Staatsstreich wäre fast mißglückt. Er wagte es, sich über eine der großen Vorlieben von Paris hinwegzusetzen: er verärgerte die Gaffer. Er wurde leise aufgeführt, ohne Trommeln; schnell gespielt, als der Vorhang gerade hochging. Kaum, daß man Zeit hatte sich hinzusetzen.“
Dieses Journal ist ein Staatsstreich in der Literatur. Mit der Introspektion seiner Autoren, den Notaten von Lesefrüchten wird es sich nicht begnügen. Es wird ein Beobachtungsmonster, eine Aufzeichnungskrake, ein Perpetuum mobile des Kommentierens, Räsonierens, Pointierens werden. Es wird keiner Gesellschaftssphäre erlauben, sich ihm zu entziehen. Es wird sich an kein Gesetz der Diskretion halten. Es wird den funkelnden, messerscharfen Stil, den es den Niederungen des Journalismus entgegensetzt, in den Dienst einer privaten Nachrichtenagentur stellen.
So wird es Ausmaße annehmen, von denen die Brüder am 2. Dezember 1851 selbst noch nichts ahnen. Es wird das Seconde Empire überdauern, das Kriegsjahr 1870/71, wird weit in die dritte Republik hineinreichen, es wird ganz Paris in sich aufnehmen, das Paris seiner Verfasser, die Kreise, in denen sie verkehren, die Dienstboten, mit denen sie zu tun haben, die Krankheiten, von denen sie hören und an denen sie selber laborieren. Die Nerven und die Nervosität werden zu den Hauptfiguren gehören.
Der Bauch dieses Tagebuchs ist größer als der von Paris. Ein unendliches Gestöber von Figuren, Skandalen und Todesfällen, ein Pandämonium der Sottisen und üblen Nachrede, eine Enzyklopädie der Mode, des Kunstgewerbes und der technisch-zivilisatorischen Neuerungen wird es am Ende in sich aufgenommen haben. Das wird 1896 sein, kurz vor dem Tod des älteren Bruders Edmond Goncourt. Der ist im Mai 1822 geboren und zu Beginn 29 Jahre alt. Der jüngere, Jules Goncourt, im Dezember 1830 geboren, wird schon im Juni 1870 an der Syphilis sterben, erst 39 Jahre alt.
Irgendwann wird der überlebende Bruder beginnen, Auszüge aus dem Journal zu publizieren. Die ersten erscheinen 1885 auf Zeitungspapier, im Figaro. Dann folgen zwischen 1887 und 1896 insgesamt neun Bände, aus denen Edmond die anstößigsten Stellen getilgt hat. Aber was geblieben ist, reicht, um bei den Porträtierten Unmut zu erzeugen. Das Journal nimmt dieses Rumoren sich auf, wenn es etwa im Januar 1891 die im Vertrauen mitgeteilte „ängstliche Sorge“ des Schriftstellers Maupassant festhält, darin vorzukommen.
Seinen Freund der späten Jahre, Alphonse Daudet, machte Edmond Goncourt zum Testamentsvollstrecker, das vollständige, der Nationalbibliothek übergebene Manuskript des Journals wollte Edmond zwanzig Jahre nach seinem Tod öffentlich zugänglich gemacht wissen. Aber Alphonse Daudet überlebte Edmond nur um ein Jahr, und als seine Familie Einsicht in das Manuskript nahm, begann ein langer Abwehrkampf gegen die vollständige Publikation. Edmond hatte lustvoll aufgezeichnet, was Alphonse Daudet aus seinem Liebesleben berichtete, und das war nicht wenig, vor allem aber hatte er die Schwiegertochter und ihre Mutter als Prachtexemplare geistlos-enger Bürgerlichkeit gezeichnet.
So erschien die erste Gesamtpublikation, herausgegeben von Robert Ricatte, erst von 1956 bis 1958. Auf sie geht die gelungene deutsche Übersetzung durch Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann zurück, die Gerd Haffmans als Herausgeber ins Werk gesetzt hat, das gute alte Instrument der Subskription zur Hilfe nehmend. In Frankreich erscheint seit 2005 eine neue, kritische Edition der Tagebücher. Ricatte hatte in seiner Ausgabe Auswahlpublikation und Manuskript zusammengeführt und gelegentlich zu Sätzen verschmolzen, die so weder hier noch dort standen, nun sollen die Textzeugen nebeneinander stehen.
Diese nach ihrem Druckort benannte elfbändige „Leipziger Ausgabe“ kommt als Publikumsausgabe daher, die Kommentare und Erläuterungen der französischen Vorlage übernimmt sie nur sehr sparsam, enthält aber einen Begleitband mit einem Register der etwa 3000 vorkommenden Figuren, eine Zeitleiste der Jahre 1851 bis 1896 und Essays zu Charakter und Überlieferungsgeschichte des Journals.
Seinen Ruf als „chronique scandaleuse“ löst es ein. Wer – einschließlich der Autoren – wann warum und wie mit wem schläft, ist eines seiner Hauptthemen. Die Hurendichte ist enorm. Und Maupassant hätte nachlesen können, welchen Eindruck es machte, als er einmal vor Publikum sechsmal hintereinander den Beischlaf mit verschiedenen Frauen vollzog.
Im Januar 1863: „Flaubert hat vom Arzt des alten Demidoff folgenden Bericht von der Art, wie er vögelt. . .“. Flaubert hatten die Goncourts Anfang Januar 1857 über Théophile Gautier persönlich kennengelernt, im Jahr der „Madame Bovary“. Die Lust am Frivolen und Pornografischen, bei deren sprachlichen Karikaturen in aller Regel die Frauen schlechter wegkamen als selbst der alte Demidoff, durchtränkte die Autorentreffen im Restaurant Magny, aber Alleinherrscherin war sie nicht.
Sie holte auch den Kritiker Sainte-Beuve, den Religionshistoriker Ernest Renan in ihr Pandämonium, aber es blieb genug Platz für die Debatten über Kunst und Literatur, bei denen die Goncourts für Diderot und gegen Voltaire, für Balzac, gegen die klassische Tragödie und das an Homer orientierte Versepos plädierten.
Woher nun aber der Furor des Aufzeichnens, die Obsession für die Details, die Farbnuancen der Kleidung, die Missgriffe der Mode, die Physiologie und Physiognomik der Zeitgenossen? Ein Fingerzeig ist die Allgegenwart Balzacs. Er war 1850 gestorben, von seiner „Comédie humaine“ sind die Goncourts durchtränkt, als sie ihr Journal beginnen. Es ist ihr höchstes Lob, wenn sie dem Zeichner und Lithografen Gavarni, den sie über Daumier und Constantin Guys stellen, attestieren, er habe eine „comédie humaine“ geschaffen.
Es ist mehr als ein Roman in dieses riesigen Journal eingewoben. Einer handelt von den Autoren selbst, von ihrer Kindheit, ihrer aristokratischen Herkunft, ihrer Verachtung der aus der Revolution von 1789 hervorgegangenen modernen französischen Gesellschaft, von der Mätresse, die sie sich teilen, von dem Dienstmädchen, dessen Doppelleben sie nach seinem Tod 1862 entdecken – und zum Stoff ihres Romans „Germinie Lacerteux“ machen. Und sie besuchen das Grab des Vorbilds der Romanfigur, der unglücklichen Rose, und begegnen dabei den Massengräbern der Armen und erobern zugleich am anderen Ende der sozialen Skala neues Terrain – sie werden in den Salon der Prinzessin Mathilde gebeten, fortan ein Hauptschauplatz des Journals. Auf den Tod Jules läuft der Roman der Autoren zu, die aus Aufzeichnungen am Sterbelager hervorgegangene minutiöse Schilderung der Verfallsstadien des Bruders ist sein Höhepunkt.
Damit endet die doppelte Verfasserschaft, bei der oft Jules die Feder führte, für beide schreibend, auch wenn selbst in den Traumerzählungen ein „Ich“ das Journal führte. Kaum ist das Porträt des sterbenden Bruders beendet, folgt der Zusammenbruch des Seconde Empire. Vor Jules sind 1869 schon Sainte-Beuve und Gavarni – bis dahin eine hinreißende Hauptfigur – gestorben, Edmond de Goncourt wird zum privaten Kriegsberichterstatter im von den Deutschen belagerten Paris 1870/71.
Es folgt noch ein Vierteljahrhundert nach dieser Zäsur. Flaubert wird erst 1880 sterben, aber der Aufstieg Zolas wird die neue Ära bestimmen, und Edmond wird bei aller Nähe des Umgangs in ihm immer den erfolgreichen Rivalen sehen, der vergröbernd plagiiert hat, was er und sein Bruder an psychologischer Verfeinerung des modernen Romans erreicht haben.
Seit den ersten Bänden ist klar: „Eine Zeit, von der man kein Kleidermuster und keine Speisekarte des Diners hat, ist eine tote Zeit, eine nicht mehr wiederbelebbare Zeit. Die Geschichte kann darin nicht wieder aufleben, die Nachwelt kann sie nicht nacherleben.“ Das ist das Programm einer totalen Geschichtsschreibung. Es saugt nicht nur unzählige Blicke in Interieurs, die lebendige Rede, den Gesprächsstoff der Salons, Restaurants, Ateliers und Redaktionen in sich auf, sondern zugleich Unmengen an Gedrucktem. „Journal“ heißt auch Zeitung, sie ist hier als vielstimmiger Chor allgegenwärtig. Nicht selten liest jemand schon Die Presse, wenn das Gaslicht dem Morgenlicht noch nicht gewichen ist. Wie Balzac rücken die Goncourts Journalismus und Prostitution zusammen, aber die Zeitungen, in denen ihre Romane erscheinen, sind zugleich Rivalen und Verbündete des „Journals“.
Geschichtsschreiber für die Nachwelt wollen die Goncourts sein , das Modell entnehmen sie ihrer ideellen Heimat, dem Zeitalter von Louis XV, Watteau und Boucher, den indiskreten und intimen Memoiren, Briefen und Tagebüchern des vorrevolutionären 18. Jahrhundert. Dieser Ära widmen sie ihre Bücher, ihre Kunstwerke sammeln sie, zu ihr unterhalten sie „geheime Verbindungen“, während sie die Gegenwart aufzeichnen, die japanische Kunst loben, ihren Farbenkult („an den Bäumen nankinggelbe, gebräunte und rot gefärbte Blätter“) gegen die Fotografie setzen, den „schwarzen Frack der Dinge“ .
Natürlich haben sie sich trotzdem gern fotografieren lassen, aber die Kritik alles „Mechanischen“ ist ein Steckenpferd der gaslichtumfluteten Goncourts. Mit Baudelaire, den sie ebenso unterschätzen wie Edouard Manet, Claude Monet oder Delacroix, teilen sie die Verachtung des Fortschritts, aber nicht die Erbsündenlehre. Sie haben genug Geld, um das Geld in diese Verachtung einzubeziehen. Edmond Goncourt stirbt, ehe die 1894 begonnene Dreyfus-Affäre ihren Höhepunkt erreicht. Sein Antisemitismus ist älter, er hat sich früh mit dem Ressentiment gegen die Neureichen der Börse verbunden, ist sofort wach, wenn der Name Rothschild fällt – aber Henri Heine trifft er nicht.
Balzac, die Portalfigur am Eingang des Journals, hat an seinem Ende ein Gegenüber: Marcel Proust. Robert de Montesquiou, den Proust als Modell in seine „Recherche“ hineinnehmen wird, gehört zum schillernden Personal der späten Jahre des „Journal“. Es teilt, ohne dass dabei die Romankunst eine Rolle spielte, indem es sich über Jahrzehnte erstreckt, ein Grundmotiv mit Prousts „Recherche“ wie mit Balzacs „Comédie humaine“: die unablässige Verwandlung, den Zerfall und die Zersetzung der Figuren im Vergehen der Zeit.
Die Nerven und die Nervosität
werden zu den Hauptfiguren
der Tagebücher gehören
Januar 1863: „Flaubert hat vom
Arzt des alten Demidoff folgenden
Bericht von der Art, wie er vögelt“
Edmond und Jules de Goncourt, 1855 fotografiert von Nadar.
Foto: Apic/Getty Images
Mehr als ein Roman ist in dieses riesige Journal eingewoben: „Eine Soirée“, festgehalten im Jahr 1878 von Jean Béraud. abb.: akg-images / Erich Lessing
Edmond und Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851-1896. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Leipzig 2013. 11 Bände plus Beibuch. 7095 S., 250 Euro.
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Am 2. Dezember 1851 begannen Edmond und Jules de Goncourt ihr Tagebuch. Es wurde eine „Comédie humaine“ voller Sottisen,
Skandale, Affären, Huren und Todesfälle – nun ist das „Journal“ zum ersten Mal ungekürzt auf Deutsch zu lesen
VON LOTHAR MÜLLER
Um acht Uhr morgens kommt ein Vetter ins Zimmer und ruft: „Nun! Also! Die Revolution ist im Gange!“ Es ist aber keine Revolution, es ist der Staatsstreich Louis Napoleons vom 2. Dezember 1851, der Auftakt zum Zweiten Kaiserreich. Die Rufe „Es lebe die Republik!“ ersterben schnell, die wenigen Barrikaden auf den Boulevards sind ebenso schnell geräumt. Jules und Edmond Goncourt sind schnell auf der Straße, auf dem Weg zum Haus ihres Onkels in der Rue de Verneuil. Der Staatsstreich kommt ihnen, abgesehen davon, dass sie nicht mit ihm sympathisieren, sehr ungelegen. In wenigen Tagen soll ihr erster Roman erscheinen. Unter den Plakaten an Anschlagstafeln und Hausmauern vermissen sie das wichtigste: das Werbeplakat für ihren ersten Roman. Er führt leider den Titel „En 18 . . . “, und das klingt so anzüglich nach „18. Brumaire“, Staatsstreich, dass in der von Truppen umstellen Druckerei die Plakate eingestampft worden sind.
So erscheint der Roman ohne Plakate am 5. Dezember, er verschwindet rasch. Das Tagebuch aber, das die Brüder Goncourt an diesem 2. Dezember begonnen haben, bleibt. Den Staatsstreich werden sie darin wie eine schlecht inszenierte Theateraufführung rezensieren: „dieser Staatsstreich wäre fast mißglückt. Er wagte es, sich über eine der großen Vorlieben von Paris hinwegzusetzen: er verärgerte die Gaffer. Er wurde leise aufgeführt, ohne Trommeln; schnell gespielt, als der Vorhang gerade hochging. Kaum, daß man Zeit hatte sich hinzusetzen.“
Dieses Journal ist ein Staatsstreich in der Literatur. Mit der Introspektion seiner Autoren, den Notaten von Lesefrüchten wird es sich nicht begnügen. Es wird ein Beobachtungsmonster, eine Aufzeichnungskrake, ein Perpetuum mobile des Kommentierens, Räsonierens, Pointierens werden. Es wird keiner Gesellschaftssphäre erlauben, sich ihm zu entziehen. Es wird sich an kein Gesetz der Diskretion halten. Es wird den funkelnden, messerscharfen Stil, den es den Niederungen des Journalismus entgegensetzt, in den Dienst einer privaten Nachrichtenagentur stellen.
So wird es Ausmaße annehmen, von denen die Brüder am 2. Dezember 1851 selbst noch nichts ahnen. Es wird das Seconde Empire überdauern, das Kriegsjahr 1870/71, wird weit in die dritte Republik hineinreichen, es wird ganz Paris in sich aufnehmen, das Paris seiner Verfasser, die Kreise, in denen sie verkehren, die Dienstboten, mit denen sie zu tun haben, die Krankheiten, von denen sie hören und an denen sie selber laborieren. Die Nerven und die Nervosität werden zu den Hauptfiguren gehören.
Der Bauch dieses Tagebuchs ist größer als der von Paris. Ein unendliches Gestöber von Figuren, Skandalen und Todesfällen, ein Pandämonium der Sottisen und üblen Nachrede, eine Enzyklopädie der Mode, des Kunstgewerbes und der technisch-zivilisatorischen Neuerungen wird es am Ende in sich aufgenommen haben. Das wird 1896 sein, kurz vor dem Tod des älteren Bruders Edmond Goncourt. Der ist im Mai 1822 geboren und zu Beginn 29 Jahre alt. Der jüngere, Jules Goncourt, im Dezember 1830 geboren, wird schon im Juni 1870 an der Syphilis sterben, erst 39 Jahre alt.
Irgendwann wird der überlebende Bruder beginnen, Auszüge aus dem Journal zu publizieren. Die ersten erscheinen 1885 auf Zeitungspapier, im Figaro. Dann folgen zwischen 1887 und 1896 insgesamt neun Bände, aus denen Edmond die anstößigsten Stellen getilgt hat. Aber was geblieben ist, reicht, um bei den Porträtierten Unmut zu erzeugen. Das Journal nimmt dieses Rumoren sich auf, wenn es etwa im Januar 1891 die im Vertrauen mitgeteilte „ängstliche Sorge“ des Schriftstellers Maupassant festhält, darin vorzukommen.
Seinen Freund der späten Jahre, Alphonse Daudet, machte Edmond Goncourt zum Testamentsvollstrecker, das vollständige, der Nationalbibliothek übergebene Manuskript des Journals wollte Edmond zwanzig Jahre nach seinem Tod öffentlich zugänglich gemacht wissen. Aber Alphonse Daudet überlebte Edmond nur um ein Jahr, und als seine Familie Einsicht in das Manuskript nahm, begann ein langer Abwehrkampf gegen die vollständige Publikation. Edmond hatte lustvoll aufgezeichnet, was Alphonse Daudet aus seinem Liebesleben berichtete, und das war nicht wenig, vor allem aber hatte er die Schwiegertochter und ihre Mutter als Prachtexemplare geistlos-enger Bürgerlichkeit gezeichnet.
So erschien die erste Gesamtpublikation, herausgegeben von Robert Ricatte, erst von 1956 bis 1958. Auf sie geht die gelungene deutsche Übersetzung durch Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann zurück, die Gerd Haffmans als Herausgeber ins Werk gesetzt hat, das gute alte Instrument der Subskription zur Hilfe nehmend. In Frankreich erscheint seit 2005 eine neue, kritische Edition der Tagebücher. Ricatte hatte in seiner Ausgabe Auswahlpublikation und Manuskript zusammengeführt und gelegentlich zu Sätzen verschmolzen, die so weder hier noch dort standen, nun sollen die Textzeugen nebeneinander stehen.
Diese nach ihrem Druckort benannte elfbändige „Leipziger Ausgabe“ kommt als Publikumsausgabe daher, die Kommentare und Erläuterungen der französischen Vorlage übernimmt sie nur sehr sparsam, enthält aber einen Begleitband mit einem Register der etwa 3000 vorkommenden Figuren, eine Zeitleiste der Jahre 1851 bis 1896 und Essays zu Charakter und Überlieferungsgeschichte des Journals.
Seinen Ruf als „chronique scandaleuse“ löst es ein. Wer – einschließlich der Autoren – wann warum und wie mit wem schläft, ist eines seiner Hauptthemen. Die Hurendichte ist enorm. Und Maupassant hätte nachlesen können, welchen Eindruck es machte, als er einmal vor Publikum sechsmal hintereinander den Beischlaf mit verschiedenen Frauen vollzog.
Im Januar 1863: „Flaubert hat vom Arzt des alten Demidoff folgenden Bericht von der Art, wie er vögelt. . .“. Flaubert hatten die Goncourts Anfang Januar 1857 über Théophile Gautier persönlich kennengelernt, im Jahr der „Madame Bovary“. Die Lust am Frivolen und Pornografischen, bei deren sprachlichen Karikaturen in aller Regel die Frauen schlechter wegkamen als selbst der alte Demidoff, durchtränkte die Autorentreffen im Restaurant Magny, aber Alleinherrscherin war sie nicht.
Sie holte auch den Kritiker Sainte-Beuve, den Religionshistoriker Ernest Renan in ihr Pandämonium, aber es blieb genug Platz für die Debatten über Kunst und Literatur, bei denen die Goncourts für Diderot und gegen Voltaire, für Balzac, gegen die klassische Tragödie und das an Homer orientierte Versepos plädierten.
Woher nun aber der Furor des Aufzeichnens, die Obsession für die Details, die Farbnuancen der Kleidung, die Missgriffe der Mode, die Physiologie und Physiognomik der Zeitgenossen? Ein Fingerzeig ist die Allgegenwart Balzacs. Er war 1850 gestorben, von seiner „Comédie humaine“ sind die Goncourts durchtränkt, als sie ihr Journal beginnen. Es ist ihr höchstes Lob, wenn sie dem Zeichner und Lithografen Gavarni, den sie über Daumier und Constantin Guys stellen, attestieren, er habe eine „comédie humaine“ geschaffen.
Es ist mehr als ein Roman in dieses riesigen Journal eingewoben. Einer handelt von den Autoren selbst, von ihrer Kindheit, ihrer aristokratischen Herkunft, ihrer Verachtung der aus der Revolution von 1789 hervorgegangenen modernen französischen Gesellschaft, von der Mätresse, die sie sich teilen, von dem Dienstmädchen, dessen Doppelleben sie nach seinem Tod 1862 entdecken – und zum Stoff ihres Romans „Germinie Lacerteux“ machen. Und sie besuchen das Grab des Vorbilds der Romanfigur, der unglücklichen Rose, und begegnen dabei den Massengräbern der Armen und erobern zugleich am anderen Ende der sozialen Skala neues Terrain – sie werden in den Salon der Prinzessin Mathilde gebeten, fortan ein Hauptschauplatz des Journals. Auf den Tod Jules läuft der Roman der Autoren zu, die aus Aufzeichnungen am Sterbelager hervorgegangene minutiöse Schilderung der Verfallsstadien des Bruders ist sein Höhepunkt.
Damit endet die doppelte Verfasserschaft, bei der oft Jules die Feder führte, für beide schreibend, auch wenn selbst in den Traumerzählungen ein „Ich“ das Journal führte. Kaum ist das Porträt des sterbenden Bruders beendet, folgt der Zusammenbruch des Seconde Empire. Vor Jules sind 1869 schon Sainte-Beuve und Gavarni – bis dahin eine hinreißende Hauptfigur – gestorben, Edmond de Goncourt wird zum privaten Kriegsberichterstatter im von den Deutschen belagerten Paris 1870/71.
Es folgt noch ein Vierteljahrhundert nach dieser Zäsur. Flaubert wird erst 1880 sterben, aber der Aufstieg Zolas wird die neue Ära bestimmen, und Edmond wird bei aller Nähe des Umgangs in ihm immer den erfolgreichen Rivalen sehen, der vergröbernd plagiiert hat, was er und sein Bruder an psychologischer Verfeinerung des modernen Romans erreicht haben.
Seit den ersten Bänden ist klar: „Eine Zeit, von der man kein Kleidermuster und keine Speisekarte des Diners hat, ist eine tote Zeit, eine nicht mehr wiederbelebbare Zeit. Die Geschichte kann darin nicht wieder aufleben, die Nachwelt kann sie nicht nacherleben.“ Das ist das Programm einer totalen Geschichtsschreibung. Es saugt nicht nur unzählige Blicke in Interieurs, die lebendige Rede, den Gesprächsstoff der Salons, Restaurants, Ateliers und Redaktionen in sich auf, sondern zugleich Unmengen an Gedrucktem. „Journal“ heißt auch Zeitung, sie ist hier als vielstimmiger Chor allgegenwärtig. Nicht selten liest jemand schon Die Presse, wenn das Gaslicht dem Morgenlicht noch nicht gewichen ist. Wie Balzac rücken die Goncourts Journalismus und Prostitution zusammen, aber die Zeitungen, in denen ihre Romane erscheinen, sind zugleich Rivalen und Verbündete des „Journals“.
Geschichtsschreiber für die Nachwelt wollen die Goncourts sein , das Modell entnehmen sie ihrer ideellen Heimat, dem Zeitalter von Louis XV, Watteau und Boucher, den indiskreten und intimen Memoiren, Briefen und Tagebüchern des vorrevolutionären 18. Jahrhundert. Dieser Ära widmen sie ihre Bücher, ihre Kunstwerke sammeln sie, zu ihr unterhalten sie „geheime Verbindungen“, während sie die Gegenwart aufzeichnen, die japanische Kunst loben, ihren Farbenkult („an den Bäumen nankinggelbe, gebräunte und rot gefärbte Blätter“) gegen die Fotografie setzen, den „schwarzen Frack der Dinge“ .
Natürlich haben sie sich trotzdem gern fotografieren lassen, aber die Kritik alles „Mechanischen“ ist ein Steckenpferd der gaslichtumfluteten Goncourts. Mit Baudelaire, den sie ebenso unterschätzen wie Edouard Manet, Claude Monet oder Delacroix, teilen sie die Verachtung des Fortschritts, aber nicht die Erbsündenlehre. Sie haben genug Geld, um das Geld in diese Verachtung einzubeziehen. Edmond Goncourt stirbt, ehe die 1894 begonnene Dreyfus-Affäre ihren Höhepunkt erreicht. Sein Antisemitismus ist älter, er hat sich früh mit dem Ressentiment gegen die Neureichen der Börse verbunden, ist sofort wach, wenn der Name Rothschild fällt – aber Henri Heine trifft er nicht.
Balzac, die Portalfigur am Eingang des Journals, hat an seinem Ende ein Gegenüber: Marcel Proust. Robert de Montesquiou, den Proust als Modell in seine „Recherche“ hineinnehmen wird, gehört zum schillernden Personal der späten Jahre des „Journal“. Es teilt, ohne dass dabei die Romankunst eine Rolle spielte, indem es sich über Jahrzehnte erstreckt, ein Grundmotiv mit Prousts „Recherche“ wie mit Balzacs „Comédie humaine“: die unablässige Verwandlung, den Zerfall und die Zersetzung der Figuren im Vergehen der Zeit.
Die Nerven und die Nervosität
werden zu den Hauptfiguren
der Tagebücher gehören
Januar 1863: „Flaubert hat vom
Arzt des alten Demidoff folgenden
Bericht von der Art, wie er vögelt“
Edmond und Jules de Goncourt, 1855 fotografiert von Nadar.
Foto: Apic/Getty Images
Mehr als ein Roman ist in dieses riesige Journal eingewoben: „Eine Soirée“, festgehalten im Jahr 1878 von Jean Béraud. abb.: akg-images / Erich Lessing
Edmond und Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851-1896. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Leipzig 2013. 11 Bände plus Beibuch. 7095 S., 250 Euro.
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