Produktdetails
- Verlag: Allen Lane / Penguin Books UK
- Seitenzahl: 576
- Erscheinungstermin: 17. Juni 2011
- Englisch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 870g
- ISBN-13: 9781846144578
- ISBN-10: 1846144574
- Artikelnr.: 32159613
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2012Afghanistan
am Abgrund
Ahmed Rashid und Anatol Lieven beleuchten
die politischen Untiefen in der Region
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Wenige Autoren kennen Afghanistan und die angrenzenden Länder so gut wie der Pakistaner Ahmed Rashid und der Brite Anatol Lieven. Mit seinem Buch „Am Abgrund“ hat Rashid seine Trilogie über die Region abgeschlossen (zuvor erschienen: „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“). Anatol Lieven ist über seinen Vater mit der deutsch-baltischen Aristokratie verwandt. Weil er auch pakistanische Verwandtschaft hat, fühlte er sich stets zu Pakistan hingezogen. Rashid und Lieven zeigen ihren Lesern die Hintergründe und die Entwicklung der Konflikte in der Region.
Aus deutscher Sicht nimmt es sich so aus: Der Bundestag wird am Mittwoch das Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan bis kurz nach den dortigen Wahlen 2014 verlängern. Die afghanische Verfassung erlaubt es nicht, dass der auf Betreiben der USA 2001 installierte Präsident Hamid Karsai sich 2014 abermals (zur Not wie schon 2009: per Wahlfälschung) wieder wählen lässt. Nach Karsais Plänen gefragt, antwortete ein General des pakistanischen Militärs, der unlängst auf Besuch in Deutschland weilte: „Wie alle asiatischen Demokraten“ werde dieser es darauf anlegen, dass sein Amt in der Familie bleibe.
Das neue Mandat der Bundeswehr sieht vor, dass deutsche Kampftruppen lediglich zur Verteidigung der Ausbilder von Polizei- und Militärtruppen sowie anderer Berater eingesetzt werden. Offiziell ist die Nato optimistisch: Armee und Polizei Afghanistans, hieß es schon im vergangenen August, umfassten mittlerweile rund 350 000 Mann, von denen drei Viertel „effektiv“ gegen Aufständische eingesetzt werden könnten, vorausgesetzt, dass sie „Beratung“ erhielten.
Ein internes Papier der Bundeswehr, aus dem Die Zeit im vergangenen Oktober zitierte, konstatiert hingegen: „Nach wie vor stagniert das Leistungsvermögen der ANA“, der Afghan National Army. Ein deutscher General sagte der Zeit im Vertrauen: Es mangele „an allem, was übers Gewehrhalten hinausgeht“.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat sich ans Schönreden gewöhnt und gibt sich zuversichtlich. Nicht nur baut er auf die Beratungskraft der Bundeswehr, zudem sagte er in einem SZ-Interview Anfang dieses Monats: „Wir sind weit davon entfernt, dass die Taliban ganze Gebiete beherrschen, wie es lange der Fall war.“ Das sagte de Maizière wenige Tage, nachdem im Westen bekannt wurde, dass die Taliban nun auch das Leben in der Provinz Bamiyan unsicher machen, die sie in den vergangenen Jahren nicht gestört hatten. In der New York Times stand dazu am 31. Oktober zu lesen: „Das verstärkt das Gefühl, nirgendwo in Afghanistan mehr sicher sein zu können.“
2011 haben die Taliban sogar im gut bewachten Kabul etliche Anschläge verübt. In den vergangenen Jahren ist ihr Einfluss immer nur größer geworden. Damit sie ihre Soldaten endlich abziehen können, preisen die Nato-Regierungen jetzt die angeblichen Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte. Henry Kissinger, der sich dem US-Präsidenten Obama nicht verpflichtet fühlen muss, beschrieb die Lage so: Die „Exit-Strategie“ der Nato sei „all exit and no strategy“.
Der Drei-Sterne-General Karl W. Eikenberry hatte sich in Afghanistan im Kampf bewährt. 2009 wurde er zum US-Botschafter in Kabul ernannt. Die diplomatische Welt wunderte sich: Für eine vorsichtige Wahl seiner Worte war Eikenberry nicht bekannt. Als er sich – immerhin erst 2011 – von seinem Posten verabschiedete, hinterließ er seinen Leuten einen guten Rat: „Fühlen Sie sich nicht genötigt, zu sagen, das Glas sei halb voll, wenn es in Wahrheit fast leer ist.“ Den afghanischen Präsidenten Karsai hält er für inkompetent, was er schon 2009 kundtat.
Der pakistanische Publizist Ahmed Rashid kennt Hamid Karsai seit Langem und findet ihn sympathisch. Früher setzte er auf Karsai. Weil Rashid als Experte für Pakistan und Afghanistan weltweit bekannt ist, hat Barack Obama ihn zu Beginn seiner ersten Amtszeit nach Washington eingeladen, bei welcher Gelegenheit er auf Rashid einen guten Eindruck machte. Mittlerweile hat Rashid aber nicht nur an Karsai, sondern auch an Obama viel auszusetzen. So tue Karsai nichts gegen die Korruption in seinem Land und gebe sich im Übrigen allerlei hanebüchenen Verschwörungstheorien hin. Was Obama angeht: der sei zu lange beratungsresistent gewesen. Das bezieht Rashid weniger auf sich selbst und seinen Besuch bei Obama als auf den verstorbenen US-Unterhändler Richard Holbrooke, der frühzeitig dafür warb, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen.
Binnen zehn Jahren, schreibt Rashid, „hat die Nato keines ihrer strategischen Ziele erreicht – weder den Wiederaufbau des afghanischen Staates noch einen Sieg über die Taliban noch die Stabilisierung der Region“, von einem Plan, was künftig aus Afghanistan werden soll, ganz zu schweigen. Rashid hat seit Langem gesagt, dass eine Befriedung in Afghanistan nicht ohne Pakistan zu machen sei. In Pakistan liegen politische Entscheidungen de facto in der Hand des Militärs. Außerdem gibt es den Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), er gilt als „Staat im Staat“. Beide Organisationen seien, so Rashid, besessen von der überzogenen Idee, dass Pakistan eigentlich nur einen Feind und nur ein Problem habe: Indien.
Um jeglichem indischen Einfluss in Afghanistan einen Riegel vorzuschieben, stärken das Militär und der ISI die Taliban, die mehrheitlich Paschtunen sind und nicht unter indischem Einfluss stehen. Eine vernünftige Politik der USA, meint Rashid, hätte darin bestanden, sowohl Afghanistan als auch Pakistan wirtschaftlich zu unterstützen. Ein Aufschwung der pakistanischen Wirtschaft hätte es den demokratischen Politikern des Landes vielleicht ermöglicht, das Militär in seine Schranken zu weisen. George W. Bush habe aber leider nicht einmal wahrnehmen wollen, dass der ISI den Taliban 2003 zurück nach Afghanistan half, er habe vielmehr nur seinen Krieg gegen al Qaida gepflegt.
Die USA haben die pakistanische Regierung und vor allem das Militär jahrelang mit Milliarden Dollar unterstützt. Ein Teil des Geldes landete in privaten Taschen. Dafür machte Pakistan sich, wie Rashid schreibt, „zum Handlanger Washingtons in der Region“. Weil die pakistanische Bevölkerung ausgesprochen anti-amerikanisch eingestellt ist, waren die zivile Regierung, das Militär und der ISI sich für einmal einig: Das musste möglichst geheim gehalten werden.
Freilich, die Drohnen-Angriffe der USA auf vermeintliche Taliban-Kämpfer oder Al-Qaida-Terroristen in Pakistan konnten nicht geheim bleiben. Und dass die CIA, die Königin der Drohnen, unter Obama sehr viel mehr Pakistanier mit Predator -Drohnen ermorden ließ als unter Bush, fiel auch auf. Rashid zitiert Foreign Affairs : Von Obamas Amtsantritt bis Juli 2011 fanden sich unter 1500 bis 2300 Getöteten lediglich 33 namentlich gesuchte Terroristen. „Sogar in Washington“, schreibt er, habe es deshalb Unmut gegeben. Denn nachdem Hillary Clintons Außenministerium 2009 endlich erkannt habe, dass man mit den Taliban reden müsse, waren die – Rashid zufolge: angeblich nur von der CIA anberaumten – Drohnen-Einsätze äußerst kontraproduktiv. Noch misslicher sei aber gewesen, dass die US-Regierung auf die dumme Idee kam, „es gäbe sogenannte moderate Taliban, im Unterschied zu extremistischen Taliban“, und die moderaten könne man ins zivile Gefüge Afghanistans wieder eingliedern. Dabei habe man leider die Loyalität der Taliban zu ihren Führern und ihren Hass auf alle Besatzungsarmeen übersehen.
Etwas enerviert lässt Rashid seine Leser wissen, er habe vergeblich versucht, US-Politikern klarzumachen, dass die Taliban, noch von älteren, erfahrenen Männern geführt würden, die nach vielen Jahren des Kampfes allmählich ermüdeten und deshalb zu Verhandlungen bereit seien: „Ich argumentierte wiederholt“, schreibt er, dass das „Dezimierungsprogramm“ der USA nur eines erziele: dass „die Taliban-Führer, die die Verhandlungen führen könnten, nicht mehr am Leben wären“.
Die Verhandlungen fingen nie recht an. Dies vor allem deshalb, weil die USA einige gefangene Taliban nicht freilassenund sich nicht dazu verstehen können, den Taliban das Gefühl zu geben, dass man auf Augenhöhe miteinander redet.
Rashid ist enttäuscht von der US-Politik. Im vergangenen September schrieb er in einem Artikel: Anders als Amerika habe die Sowjetunion sich in den 80er Jahren, als sie Afghanistan besetzt hatte, sehr um Verständigung mit ihren damaligen Gegnern, den Mudschaheddin, bemüht – und dann auch mit den Mächten, die dahinterstanden: mit den USA und Pakistan. Deshalb, behauptet Rashid, habe die Sowjetunion sich 1988-89 binnen neun Monaten ohne große Verluste aus Afghanistan zurückziehen können. “Der Rückzug der USA hingegen wird (. . .) zwei Jahre dauern und viel Blut kosten.“
So sehr Rashid dafür plädiert, die afghanischen Taliban in die Neuordnung Afghanistans einzubinden, so wenig scheint er für die pakistanischen Taliban etwas übrig zu haben, deren Bekämpfung auf pakistanischem Boden er befürwortet.
Die meisten Taliban sind Paschtunen, teils leben sie in Afghanistan, teils in Pakistan. Die Stammeszugehörigkeit gilt den Paschtunen mehr als ihre Staatsangehörigkeit. Vor der Nato flohen viele Taliban über die Grenze in die Berge des benachbarten, auch von Paschtunen bewohnten Pakistans. Diese Gegend des Landes wird FATAS genannt, „Federally Administered Tribal Areas“. Der Name steht dafür, dass dieser Landstrich von Stämmen bewohnt wird, die seit alters her dafür bekannt sind, dass sie sich einer Zentralgewalt nicht unterwerfen, weshalb seit der Gründung Pakistans 1947 auch niemand das versucht hat. Niemand, bis die Regierung Bush der pakistanischen Regierung oktroyierte, sie müsse die „Terroristen“ in den FATA ausmerzen.
Der britische Publizist Anatol Lieven kennt Pakistan vermutlich besser als den Inhalt seiner Westentasche. Nicht nur ist er mit vielen maßgeblichen und anderen Leuten bekannt, er kennt auch die jahrhundertealte Geschichte der Stämme und Clans, deren Traditionen bis heute fortleben. Lieven findet es folglich nicht verwunderlich, dass ganz Pakistan als korruptes Patronage-System funktioniert. Trotzdem baut er auf die pakistanischen Eliten, im besonderen auf das Militär.
Anders als Rashid findet er, der Westen müsse „das legitime Interesse“ Pakistans anerkennen, dass Indien in Afghanistan nicht das Sagen haben dürfe. Außerdem fragt Lieven: Wäre es denkbar, dass die pakistanischen Atomwaffen in die Hände von Terroristen gelangen? Seine Antwort lautet: Nein. Die Bush-Regierung habe allerdings einiges dazu getan, dass es dazu kommen könne. Bei seinen Gesprächen erfuhr Lieven, „dass das Militär fürchtete, eine Invasion der FATA werde ein militärisches und politisches Debakel werden“. Man dürfe dieser Darstellung trauen, schreibt er, „denn genauso ist es gekommen“.
Zwischen 2004 und 2006 sind pakistanische Truppen auf Geheiß der USA neunmal in die FATA eingefallen. Das Ergebnis war, so Lieven, dass die USA de facto „einen Bürgerkrieg“ in Pakistan initiiert haben. In der Folge, 2007, formierte sich nämlich eine pakistanische Taliban-Terrororganisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Regierung in Islamabad zu stürzen. Das ist das Erbe der Bush-Regierung. Und die Einsätze der Predator -Drohnen der Obama-Regierung vertiefen die Kluft zwischen der pakistanischen Bevölkerung und dem „Westen“.
Lieven bedauert, dass viele US-Politiker dächten, es genüge, die pakistanische Führung „mit Drohungen oder Geldgeschenken gefügig zu machen“, um die afghanischen Taliban in Pakistan zu erledigen. Dieses Kalkül sei kurzsichtig, weil es übergehe, wie groß der Rückhalt der afghanischen Taliban auch bei den pakistanischen Paschtunen ist: Sehr viele Paschtunen – beiderseits der Grenze – betrachten die Taliban als legitime Widerstandsbewegung gegen die westliche Besatzung.
Was ist zu tun? Lieven hat nach der Publikation seines Buches in der New York Review of Books ein paar Vorschläge gemacht. Dazu gehören: 1. müssen die westlichen Besatzungsmächte tatsächlich aus Afghanistan abziehen. 2. Die Regierung in Kabul muss von Leuten geführt werden, die in den Augen der Taliban gute Muslime und afghanische Patrioten sind. 3. Afghanistan braucht unter Mitwirkung der Taliban eine neue Verfassung, die – der afghanischen Tradition entsprechend – einen großen Teil der Staatsgewalt an die Regionen übergibt. 4. müsse man auf das Angebot der Taliban von 1999/2000 zurückkommen, die damals vorschlugen, den Anbau von Mohn zur Produktion von Heroin komplett zu unterbinden.
Die USA werden sich nicht komplett zurückziehen, sondern zur „Terrorbekämpfung“ einige Militärbasen in Afghanistan belassen. Zweifelhaft ist, ob sie sich bereitfinden werden, ernsthaft das Gespräch mit den Taliban zu suchen. Wie es derzeit aussieht, haben die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan heute und künftig vor allem eine wirklich sinnvolle Mission: Heil wieder nach Hause kommen.
Ahmed Rashid : Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen. Aus dem Englischen von Henning Hoff. Edition Weltkiosk, London 2012. 232 Seiten, 19,90 Euro.
Anatol Lieven : Pakistan. A Hard Country. TB-Ausgabe: Penguin, London 2012. Ca. 560 S., 14,99 Euro.
Die „Exit-Strategie“ der Nato,
sagt Henry Kissinger,
sei „all exit and no strategy“
Anders als die USA, schreibt
Rashid, habe die Sowjetunion
sich um Verständigung bemüht
Lieven schreibt: George W. Bushs
Regierung habe Pakistan
einen Bürgerkrieg aufgezwungen
Westliche Politiker fliegen im Flugzeug und fahren im Auto. Esel oder Pferde dienen ihnen nicht zur Fortbewegung. Wäre letzteres der Fall, könnte man hoffen, dass Leute wie Barack Obama ein bisschen mehr Verständnis für die Mentalität der Paschtunen hätten. Aber Obama interessiert sich wenig für Afghanistan, er hat ganz andere Probleme.
ZEICHNUNG: HURZLMEIER
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am Abgrund
Ahmed Rashid und Anatol Lieven beleuchten
die politischen Untiefen in der Region
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Wenige Autoren kennen Afghanistan und die angrenzenden Länder so gut wie der Pakistaner Ahmed Rashid und der Brite Anatol Lieven. Mit seinem Buch „Am Abgrund“ hat Rashid seine Trilogie über die Region abgeschlossen (zuvor erschienen: „Taliban“ und „Sturz ins Chaos“). Anatol Lieven ist über seinen Vater mit der deutsch-baltischen Aristokratie verwandt. Weil er auch pakistanische Verwandtschaft hat, fühlte er sich stets zu Pakistan hingezogen. Rashid und Lieven zeigen ihren Lesern die Hintergründe und die Entwicklung der Konflikte in der Region.
Aus deutscher Sicht nimmt es sich so aus: Der Bundestag wird am Mittwoch das Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan bis kurz nach den dortigen Wahlen 2014 verlängern. Die afghanische Verfassung erlaubt es nicht, dass der auf Betreiben der USA 2001 installierte Präsident Hamid Karsai sich 2014 abermals (zur Not wie schon 2009: per Wahlfälschung) wieder wählen lässt. Nach Karsais Plänen gefragt, antwortete ein General des pakistanischen Militärs, der unlängst auf Besuch in Deutschland weilte: „Wie alle asiatischen Demokraten“ werde dieser es darauf anlegen, dass sein Amt in der Familie bleibe.
Das neue Mandat der Bundeswehr sieht vor, dass deutsche Kampftruppen lediglich zur Verteidigung der Ausbilder von Polizei- und Militärtruppen sowie anderer Berater eingesetzt werden. Offiziell ist die Nato optimistisch: Armee und Polizei Afghanistans, hieß es schon im vergangenen August, umfassten mittlerweile rund 350 000 Mann, von denen drei Viertel „effektiv“ gegen Aufständische eingesetzt werden könnten, vorausgesetzt, dass sie „Beratung“ erhielten.
Ein internes Papier der Bundeswehr, aus dem Die Zeit im vergangenen Oktober zitierte, konstatiert hingegen: „Nach wie vor stagniert das Leistungsvermögen der ANA“, der Afghan National Army. Ein deutscher General sagte der Zeit im Vertrauen: Es mangele „an allem, was übers Gewehrhalten hinausgeht“.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat sich ans Schönreden gewöhnt und gibt sich zuversichtlich. Nicht nur baut er auf die Beratungskraft der Bundeswehr, zudem sagte er in einem SZ-Interview Anfang dieses Monats: „Wir sind weit davon entfernt, dass die Taliban ganze Gebiete beherrschen, wie es lange der Fall war.“ Das sagte de Maizière wenige Tage, nachdem im Westen bekannt wurde, dass die Taliban nun auch das Leben in der Provinz Bamiyan unsicher machen, die sie in den vergangenen Jahren nicht gestört hatten. In der New York Times stand dazu am 31. Oktober zu lesen: „Das verstärkt das Gefühl, nirgendwo in Afghanistan mehr sicher sein zu können.“
2011 haben die Taliban sogar im gut bewachten Kabul etliche Anschläge verübt. In den vergangenen Jahren ist ihr Einfluss immer nur größer geworden. Damit sie ihre Soldaten endlich abziehen können, preisen die Nato-Regierungen jetzt die angeblichen Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte. Henry Kissinger, der sich dem US-Präsidenten Obama nicht verpflichtet fühlen muss, beschrieb die Lage so: Die „Exit-Strategie“ der Nato sei „all exit and no strategy“.
Der Drei-Sterne-General Karl W. Eikenberry hatte sich in Afghanistan im Kampf bewährt. 2009 wurde er zum US-Botschafter in Kabul ernannt. Die diplomatische Welt wunderte sich: Für eine vorsichtige Wahl seiner Worte war Eikenberry nicht bekannt. Als er sich – immerhin erst 2011 – von seinem Posten verabschiedete, hinterließ er seinen Leuten einen guten Rat: „Fühlen Sie sich nicht genötigt, zu sagen, das Glas sei halb voll, wenn es in Wahrheit fast leer ist.“ Den afghanischen Präsidenten Karsai hält er für inkompetent, was er schon 2009 kundtat.
Der pakistanische Publizist Ahmed Rashid kennt Hamid Karsai seit Langem und findet ihn sympathisch. Früher setzte er auf Karsai. Weil Rashid als Experte für Pakistan und Afghanistan weltweit bekannt ist, hat Barack Obama ihn zu Beginn seiner ersten Amtszeit nach Washington eingeladen, bei welcher Gelegenheit er auf Rashid einen guten Eindruck machte. Mittlerweile hat Rashid aber nicht nur an Karsai, sondern auch an Obama viel auszusetzen. So tue Karsai nichts gegen die Korruption in seinem Land und gebe sich im Übrigen allerlei hanebüchenen Verschwörungstheorien hin. Was Obama angeht: der sei zu lange beratungsresistent gewesen. Das bezieht Rashid weniger auf sich selbst und seinen Besuch bei Obama als auf den verstorbenen US-Unterhändler Richard Holbrooke, der frühzeitig dafür warb, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen.
Binnen zehn Jahren, schreibt Rashid, „hat die Nato keines ihrer strategischen Ziele erreicht – weder den Wiederaufbau des afghanischen Staates noch einen Sieg über die Taliban noch die Stabilisierung der Region“, von einem Plan, was künftig aus Afghanistan werden soll, ganz zu schweigen. Rashid hat seit Langem gesagt, dass eine Befriedung in Afghanistan nicht ohne Pakistan zu machen sei. In Pakistan liegen politische Entscheidungen de facto in der Hand des Militärs. Außerdem gibt es den Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), er gilt als „Staat im Staat“. Beide Organisationen seien, so Rashid, besessen von der überzogenen Idee, dass Pakistan eigentlich nur einen Feind und nur ein Problem habe: Indien.
Um jeglichem indischen Einfluss in Afghanistan einen Riegel vorzuschieben, stärken das Militär und der ISI die Taliban, die mehrheitlich Paschtunen sind und nicht unter indischem Einfluss stehen. Eine vernünftige Politik der USA, meint Rashid, hätte darin bestanden, sowohl Afghanistan als auch Pakistan wirtschaftlich zu unterstützen. Ein Aufschwung der pakistanischen Wirtschaft hätte es den demokratischen Politikern des Landes vielleicht ermöglicht, das Militär in seine Schranken zu weisen. George W. Bush habe aber leider nicht einmal wahrnehmen wollen, dass der ISI den Taliban 2003 zurück nach Afghanistan half, er habe vielmehr nur seinen Krieg gegen al Qaida gepflegt.
Die USA haben die pakistanische Regierung und vor allem das Militär jahrelang mit Milliarden Dollar unterstützt. Ein Teil des Geldes landete in privaten Taschen. Dafür machte Pakistan sich, wie Rashid schreibt, „zum Handlanger Washingtons in der Region“. Weil die pakistanische Bevölkerung ausgesprochen anti-amerikanisch eingestellt ist, waren die zivile Regierung, das Militär und der ISI sich für einmal einig: Das musste möglichst geheim gehalten werden.
Freilich, die Drohnen-Angriffe der USA auf vermeintliche Taliban-Kämpfer oder Al-Qaida-Terroristen in Pakistan konnten nicht geheim bleiben. Und dass die CIA, die Königin der Drohnen, unter Obama sehr viel mehr Pakistanier mit Predator -Drohnen ermorden ließ als unter Bush, fiel auch auf. Rashid zitiert Foreign Affairs : Von Obamas Amtsantritt bis Juli 2011 fanden sich unter 1500 bis 2300 Getöteten lediglich 33 namentlich gesuchte Terroristen. „Sogar in Washington“, schreibt er, habe es deshalb Unmut gegeben. Denn nachdem Hillary Clintons Außenministerium 2009 endlich erkannt habe, dass man mit den Taliban reden müsse, waren die – Rashid zufolge: angeblich nur von der CIA anberaumten – Drohnen-Einsätze äußerst kontraproduktiv. Noch misslicher sei aber gewesen, dass die US-Regierung auf die dumme Idee kam, „es gäbe sogenannte moderate Taliban, im Unterschied zu extremistischen Taliban“, und die moderaten könne man ins zivile Gefüge Afghanistans wieder eingliedern. Dabei habe man leider die Loyalität der Taliban zu ihren Führern und ihren Hass auf alle Besatzungsarmeen übersehen.
Etwas enerviert lässt Rashid seine Leser wissen, er habe vergeblich versucht, US-Politikern klarzumachen, dass die Taliban, noch von älteren, erfahrenen Männern geführt würden, die nach vielen Jahren des Kampfes allmählich ermüdeten und deshalb zu Verhandlungen bereit seien: „Ich argumentierte wiederholt“, schreibt er, dass das „Dezimierungsprogramm“ der USA nur eines erziele: dass „die Taliban-Führer, die die Verhandlungen führen könnten, nicht mehr am Leben wären“.
Die Verhandlungen fingen nie recht an. Dies vor allem deshalb, weil die USA einige gefangene Taliban nicht freilassenund sich nicht dazu verstehen können, den Taliban das Gefühl zu geben, dass man auf Augenhöhe miteinander redet.
Rashid ist enttäuscht von der US-Politik. Im vergangenen September schrieb er in einem Artikel: Anders als Amerika habe die Sowjetunion sich in den 80er Jahren, als sie Afghanistan besetzt hatte, sehr um Verständigung mit ihren damaligen Gegnern, den Mudschaheddin, bemüht – und dann auch mit den Mächten, die dahinterstanden: mit den USA und Pakistan. Deshalb, behauptet Rashid, habe die Sowjetunion sich 1988-89 binnen neun Monaten ohne große Verluste aus Afghanistan zurückziehen können. “Der Rückzug der USA hingegen wird (. . .) zwei Jahre dauern und viel Blut kosten.“
So sehr Rashid dafür plädiert, die afghanischen Taliban in die Neuordnung Afghanistans einzubinden, so wenig scheint er für die pakistanischen Taliban etwas übrig zu haben, deren Bekämpfung auf pakistanischem Boden er befürwortet.
Die meisten Taliban sind Paschtunen, teils leben sie in Afghanistan, teils in Pakistan. Die Stammeszugehörigkeit gilt den Paschtunen mehr als ihre Staatsangehörigkeit. Vor der Nato flohen viele Taliban über die Grenze in die Berge des benachbarten, auch von Paschtunen bewohnten Pakistans. Diese Gegend des Landes wird FATAS genannt, „Federally Administered Tribal Areas“. Der Name steht dafür, dass dieser Landstrich von Stämmen bewohnt wird, die seit alters her dafür bekannt sind, dass sie sich einer Zentralgewalt nicht unterwerfen, weshalb seit der Gründung Pakistans 1947 auch niemand das versucht hat. Niemand, bis die Regierung Bush der pakistanischen Regierung oktroyierte, sie müsse die „Terroristen“ in den FATA ausmerzen.
Der britische Publizist Anatol Lieven kennt Pakistan vermutlich besser als den Inhalt seiner Westentasche. Nicht nur ist er mit vielen maßgeblichen und anderen Leuten bekannt, er kennt auch die jahrhundertealte Geschichte der Stämme und Clans, deren Traditionen bis heute fortleben. Lieven findet es folglich nicht verwunderlich, dass ganz Pakistan als korruptes Patronage-System funktioniert. Trotzdem baut er auf die pakistanischen Eliten, im besonderen auf das Militär.
Anders als Rashid findet er, der Westen müsse „das legitime Interesse“ Pakistans anerkennen, dass Indien in Afghanistan nicht das Sagen haben dürfe. Außerdem fragt Lieven: Wäre es denkbar, dass die pakistanischen Atomwaffen in die Hände von Terroristen gelangen? Seine Antwort lautet: Nein. Die Bush-Regierung habe allerdings einiges dazu getan, dass es dazu kommen könne. Bei seinen Gesprächen erfuhr Lieven, „dass das Militär fürchtete, eine Invasion der FATA werde ein militärisches und politisches Debakel werden“. Man dürfe dieser Darstellung trauen, schreibt er, „denn genauso ist es gekommen“.
Zwischen 2004 und 2006 sind pakistanische Truppen auf Geheiß der USA neunmal in die FATA eingefallen. Das Ergebnis war, so Lieven, dass die USA de facto „einen Bürgerkrieg“ in Pakistan initiiert haben. In der Folge, 2007, formierte sich nämlich eine pakistanische Taliban-Terrororganisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Regierung in Islamabad zu stürzen. Das ist das Erbe der Bush-Regierung. Und die Einsätze der Predator -Drohnen der Obama-Regierung vertiefen die Kluft zwischen der pakistanischen Bevölkerung und dem „Westen“.
Lieven bedauert, dass viele US-Politiker dächten, es genüge, die pakistanische Führung „mit Drohungen oder Geldgeschenken gefügig zu machen“, um die afghanischen Taliban in Pakistan zu erledigen. Dieses Kalkül sei kurzsichtig, weil es übergehe, wie groß der Rückhalt der afghanischen Taliban auch bei den pakistanischen Paschtunen ist: Sehr viele Paschtunen – beiderseits der Grenze – betrachten die Taliban als legitime Widerstandsbewegung gegen die westliche Besatzung.
Was ist zu tun? Lieven hat nach der Publikation seines Buches in der New York Review of Books ein paar Vorschläge gemacht. Dazu gehören: 1. müssen die westlichen Besatzungsmächte tatsächlich aus Afghanistan abziehen. 2. Die Regierung in Kabul muss von Leuten geführt werden, die in den Augen der Taliban gute Muslime und afghanische Patrioten sind. 3. Afghanistan braucht unter Mitwirkung der Taliban eine neue Verfassung, die – der afghanischen Tradition entsprechend – einen großen Teil der Staatsgewalt an die Regionen übergibt. 4. müsse man auf das Angebot der Taliban von 1999/2000 zurückkommen, die damals vorschlugen, den Anbau von Mohn zur Produktion von Heroin komplett zu unterbinden.
Die USA werden sich nicht komplett zurückziehen, sondern zur „Terrorbekämpfung“ einige Militärbasen in Afghanistan belassen. Zweifelhaft ist, ob sie sich bereitfinden werden, ernsthaft das Gespräch mit den Taliban zu suchen. Wie es derzeit aussieht, haben die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan heute und künftig vor allem eine wirklich sinnvolle Mission: Heil wieder nach Hause kommen.
Ahmed Rashid : Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen. Aus dem Englischen von Henning Hoff. Edition Weltkiosk, London 2012. 232 Seiten, 19,90 Euro.
Anatol Lieven : Pakistan. A Hard Country. TB-Ausgabe: Penguin, London 2012. Ca. 560 S., 14,99 Euro.
Die „Exit-Strategie“ der Nato,
sagt Henry Kissinger,
sei „all exit and no strategy“
Anders als die USA, schreibt
Rashid, habe die Sowjetunion
sich um Verständigung bemüht
Lieven schreibt: George W. Bushs
Regierung habe Pakistan
einen Bürgerkrieg aufgezwungen
Westliche Politiker fliegen im Flugzeug und fahren im Auto. Esel oder Pferde dienen ihnen nicht zur Fortbewegung. Wäre letzteres der Fall, könnte man hoffen, dass Leute wie Barack Obama ein bisschen mehr Verständnis für die Mentalität der Paschtunen hätten. Aber Obama interessiert sich wenig für Afghanistan, er hat ganz andere Probleme.
ZEICHNUNG: HURZLMEIER
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