Über einen Jungen in den Slums von Bagdad - von SPIEGEL-Bestseller-Autor Abbas Khider.
Shams Hussein ist ein normaler Junge mit ganz normalen Träumen. In der Hoffnung auf ein friedlicheres Leben ziehen seine Eltern mit ihm und seiner Schwester aus dem Süden des Irak nach Bagdad. Doch aus dem Streben nach einer besseren Zukunft wird in dem von Saddam Hussein beherrschten Land schnell ein Leben in existenzieller Not. Die Familie wohnt neben einem riesigen Müllberg, Shams arbeitet als Plastiktütenverkäufer, als Busfahrergehilfe, als Lastenträger. Und er liebt Bücher. In einer Zeit jedoch, in der ein falsches Wort den Tod bedeuten kann, begibt er sich damit in eine Welt, deren Gefahren er nicht kommen sieht. Ein persönlicher, höchst lebendiger Roman voll unvergesslicher Figuren.
Shams Hussein ist ein normaler Junge mit ganz normalen Träumen. In der Hoffnung auf ein friedlicheres Leben ziehen seine Eltern mit ihm und seiner Schwester aus dem Süden des Irak nach Bagdad. Doch aus dem Streben nach einer besseren Zukunft wird in dem von Saddam Hussein beherrschten Land schnell ein Leben in existenzieller Not. Die Familie wohnt neben einem riesigen Müllberg, Shams arbeitet als Plastiktütenverkäufer, als Busfahrergehilfe, als Lastenträger. Und er liebt Bücher. In einer Zeit jedoch, in der ein falsches Wort den Tod bedeuten kann, begibt er sich damit in eine Welt, deren Gefahren er nicht kommen sieht. Ein persönlicher, höchst lebendiger Roman voll unvergesslicher Figuren.
buecher-magazin.deZwei Stimmen wechseln sich in diesem Hörbuch ab. Die eine klingt jung, verträumt, bisweilen etwas ängstlich, jedoch klar und voller Zuversicht. Die andere erschöpft, desillusioniert, leise. Torsten Flassig liest den neuen Roman von Abbas Khider, und erweckt dessen Protagonisten Shams Hussein in seinem Vortrag zum Leben. Erst als Kind und jungen Mann, der sich Ende der 1980er-Jahre von einem Slum in Bagdad aus in die Welt der Bücher flüchtet und sich dem „Palast der Miserablen“, einem Kreis von Intellektuellen, anschließt. Dann als Gefängnisinsassen, gezeichnet von Folter, Hunger und Krankheit. Khider, der selbst im Irak inhaftiert war, baut seinen autobiografisch geprägten Roman in diesem Wechsel auf, lange weiß man nicht, wieso der Protagonist ins Gefängnis kam. Erst nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen. Flassig setzt das so um, dass man meinen könnte, es wären zwei verschiedene Personen, die da als Shams Hussein sprechen. Das ist eine sehr gute Idee, zeigt es doch eindrucksvoll, wie es einen Menschen verändern kann, wenn ihm über lange Zeit Unmenschliches widerfährt. Kerker wie diesen gibt es an vielen Orten der Welt – mit Insassen wie Shams.
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2020Willkommen in der herzlichen Hölle
Der Schriftsteller Abbas Khider ist aus dem Irak geflohen, schreibt deutsch - und blickt in seinem neuen Roman auf seine Heimat zurück: "Palast der Miserablen"
Es ist genau vier Jahre her, dass Abbas Khiders Roman "Ohrfeige" erschien und Khider, wie schon im Sommer davor, in deutsche Talkshows und Reportagesendungen eingeladen wurde, die ihn, den ehemaligen Flüchtling aus dem Irak, zur Flüchtlingskrise befragen wollten. Denn "Ohrfeige" war ein Roman über einen Asylbewerber, der mit Hilfe eines Schleppers aus dem Irak flieht und als Illegaler ausgerechnet im verschneiten Dachau landet, das er zunächst für einen Vorort von Paris hält. Es war eine Geschichte, die der Rede und der Sichtweise desjenigen, der hier nach Deutschland gekommen war, Gehör verschaffte und zugleich in beeindruckender Weise davon erzählte, wie alle alle manipulieren. Wie bei Befragungen in deutschen Behörden diejenigen, die Asyl beantragen, von einem einzigen Menschen, von dessen Launen und Vorstellungen abhängig sind und wie diese Abhängigkeit immer neue Biographien hervortreibt: In "Ohrfeige" ist im Asylantenheim am beliebtesten, wer den anderen die beim Richter erfolgreichste Lebensgeschichte erfindet.
Abbas Khider ging damals nicht in die Talkshows, die ihn eingeladen hatten. "Ich bin Schriftsteller, kein Vampir. Ich lebe nicht vom Blut der anderen", sagte er. Er schrieb weiter - auf Deutsch. Mit 19 war er im Irak verhaftet worden, als er mit Freunden Flugblätter gegen Saddam Hussein verteilt hatte; zwei Jahre war er in den Gefängnissen Bagdads interniert, bevor es ihm, nach seiner Entlassung, gelang, aus dem Irak zu fliehen. 2000 kam er nach Deutschland, fand Asyl, studierte in München und Potsdam Literatur und Philosophie und fing damals an, in der Sprache, die er hier lernte, zu schreiben. Der Abbas-Khider-Sound entstand so, mit dem er längst zu den wichtigen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart gehört. Seine Literatur ist überraschend nüchtern, mit kurzen Sätzen, einem schonungslosen Blick für die Grausamkeiten von Krieg und Folter und voller Humor, der halb befreiend, halb bitter ist.
Jetzt ist endlich - er wirkt erleichtert - sein neuer Roman fertig, "Palast der Miserablen", der ihm alles abverlangt habe, wie er in Berlin in einem Café am Hermannplatz erzählt: so sehr, dass er zwischendurch mit der Arbeit daran aufhören musste. "Ich hatte von diesem Buch acht Fassungen, und nach der vierten Fassung dachte ich, ich brauche eine lange Pause, brauche Distanz zu meinem Text, um mit anderen Augen daran arbeiten zu können. Ich dachte, ich muss etwas anderes machen, und habe angefangen, über mein Verhältnis zur deutschen Sprache zu schreiben, weil ich danach immer wieder gefragt werde. Sieben Wochen lang habe ich einfach alles aufgeschrieben, was mir einfiel. Das war wirklich Spaß pur." Das Spaßprodukt hieß "Deutsch für alle" und wurde vor einem Jahr völlig zu Recht zu einem Erfolg. Khider schilderte, wie er, als er in der Bundesrepublik ankam, nur drei deutsche Wörter kannte: "Hitler, Scheiße und Lufthansa", allerdings den Anspruch hatte, Kant, Hegel und Hölderlin im Original lesen zu wollen. Wozu mussten Adjektive passend zum Substantiv gebeugt werden? Wozu gab es fast mehr Präpositionen als französische Käsesorten? In seiner Satire entwarf er ein neues, viel weniger kompliziertes Deutsch - und schrieb im komplizierten Deutsch an seinem Roman weiter, der diesmal nicht von Deutschland handelt, sondern vom Irak.
Gleich auf der ersten Seite wirft Khider darin seine Leser und seinen Ich-Erzähler in jene Gefängniskeller, die der Autor genauso kennt wie die Folterpraxis in ihnen. Aus den Kellern heraus erzählt er in Rückblenden (oder - das bleibt unentschieden - sind die Kerkerszenen Vorausblenden?) die Geschichte seines Landes, die einer Familie und vor allem die eines im Süden in einem schiitischen Dorf aufwachsenden Jungen. "Helle", "herzlich" hatte das Dorf früher einmal unter der Herrschaft der Osmanen geheißen. Ein riesiges befestigtes Lager sollte hier existiert haben, wo die Landesherren mit ihren Streitkräften logierten, wenn sie sich im Südirak aufhielten. Als die Engländer mit ihrer Armee aufmarschierten und die Türken verjagten, fanden sie unter dem Fort ein abscheuliches Gefängnis, in dem sich Hinrichtungsräume und Folterkammern befanden. Sie stießen auf mehrere Massengräber und tauften den Ort "Hell". Nach der Gründung des Königreichs Irak wurde daraus Ahlan Dschahannam: "Herzliche Hölle".
"Palast der Miserablen" beginnt kurz vor dem Ausbruch des ersten Golfkriegs, erzählt vom Einmarsch in Kuweit und den "Bomben des Bush", die die Familie im Kleiderschrank überlebt. Er berichtet von den Aufständischen, die sich organisieren und die Regierung stürzen wollen; jugendliche Freiheitskämpfer, die auf der Straße von Pick-ups eingesammelt werden und nie wieder zurückkommen. Vom beliebten Kinderspiel "Saddam jagen" - und vom Präsidenten Saddam, der Bagdad und die Städte, in denen mehrheitlich Sunniten lebten, unter Kontrolle behält und die Gegend im Süden mit einem Bombardement überzieht. Bis die Familie begreift, dass es ihre einzige Chance ist, die Heimat zu verlassen und nach Bagdad aufzubrechen, wo sie zunächst bei einem Stammesverwandten und dann in der sogenannten Blechsiedlung unterkommen.
"Die Zeit von 1991 bis 2003 war im Irak die Zeit des Embargos", erzählt Abbas Khider. "Wir wissen, dass das Embargo als politisches Druckmittel eingesetzt wurde, aber nicht, was es für die Menschen bedeutet hat. Dazu kam, dass es um eine Zeit nach dem Krieg und in der Diktatur geht, das sind unheimliche Umstände. Und darüber einen Roman zu schreiben ist eine große Herausforderung. Es gibt Romane über Kriege, Diktaturen, dafür gibt es Muster, aber hierfür gibt es eigentlich kein Muster."
"Palast der Miserablen" wird so zu einem Überlebensroman in einer nicht nur politisch unübersichtlichen Zeit ohne Strom und fließend Wasser und dennoch nicht ohne Glück. Der Junge verkauft Tüten und, was eigentlich verboten ist, mit seiner rebellischen Schwester, der vielschichtigsten Figur in diesem Roman, Wasser. Später verkauft er Bücher und wird in einen Literaturzirkel eingeführt, der sich immer freitags trifft: "Das also waren wir", heißt es, "acht Literaturbegeisterte in der Wohnung eines Blinden. Der Palast der Miserablen."
Abbas Khider sagt, dass er selbst in drei solchen Zirkeln war, auch in Libyen im Exil. Und dass sie die schönste Erinnerung seien, die er in seinem Leben habe. "Das war eine Zuflucht für mich. Ich habe mir ein Leben gewünscht, in dem alle Tage Freitag wären. Man ist zwischen Intellektuellen, die kein Geld von dir wollen, sondern Austausch, Miteinander. Ich war wie ein Wörteraufsauger, und seitdem glaube ich an die Literatur", die im Irak allerdings ein revolutionärer Akt, ein Spiel auf Leben und Tod gewesen sei. Er kenne einen irakischen Dichter, der hier in Berlin lebe, Fadhil al-Azzawi, erzählt er. Als der in Bagdad im Gefängnis gesessen habe, sei er jungen Leuten aus Basra begegnet, die einsaßen, weil man bei ihnen eine Zeitschrift gefunden hatte, in der ein Gedicht dieses Dichters abgedruckt gewesen war. Er ruft es laut durchs ganze Café: "Ein Gedicht!"
Sein mitreißender neuer Roman ist durch eine Abfolge von Rückschlägen strukturiert. Immer wenn in der Bevölkerung Hoffnung wieder aufkeimt; wenn so etwas wie Normalität sich wieder einzustellen scheint, eine Bewegung in eine gute Richtung - wird im nächsten Moment jäh alles wieder zunichtegemacht. Es ist diese Zerrüttung gesellschaftlicher Entwicklung durch Interventionen von außen und innen, die ihn interessiert: "Nehmen Sie Donald Trump", sagt er. "Er hat zwei Idioten getötet." Er meint Ghassem Soleimani, Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Einheiten, und den Milizenführer Abu Mahdi al-Muhandis. "Vorher gab es einen Aufstand im Irak, die Frauen haben dabei eine große Rolle gespielt. Das war eine normale Entwicklung, auf der Straße waren Millionen - dann kommt Trump, tötet zwei Leute, und die Geschichte ändert sich. Jetzt heißt es: Diejenigen, die auf die Straße gingen, seien die Spione der Amerikaner. Im Westen interessiert sich keiner dafür. Für die jungen Leute bedeutet das, dass ihr Aufstand vorbei ist, ihre Träume, ihre Visionen."
Und genau das verstehe er nicht: Vor dem arabischen Frühling seien hier viele skeptisch gewesen, als dann die Islamisten kamen, war man enttäuscht. Aber was man heute vergesse, sei, dass diejenigen, die gerade auf die Straße gingen, alle gegen Diktatur, Islamismus und Militär seien: in Algerien ("seit verdammtem einem Jahr!"), in Sudan, im Libanon, im Irak, alle gleichzeitig, junge Leute, seit Monaten, Frauen und Männer, was auch neu sei, besonders für den Irak. Und das sei doch ein Traum! Junge Menschen wollen Demokratie und gehen dafür auf die Straße. Wenn sie davon etwas realisieren könnten, würde das bedeuten, dass es auch hier ein Problem weniger gäbe, weil weniger Flüchtlinge kämen. Aber das werde gar nicht wahrgenommen, weil alle auf die Rechtsradikalen fixiert seien.
"Mir kommt es so vor, als wenn die jungen Leute dort mehr für die europäischen Werte kämpfen als die Menschen hier", sagt Abbas Khider. "Denn nur diese können ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Diejenigen, die dort für die Demokratie eintreten, brauchen Unterstützung. Aber die kriegen sie nicht. Die Gesellschaften in Europa haben sich durch das Beschäftigtsein mit sich selbst und mit den giftigen Problemen der Rechtsradikalen total geändert in den letzten Jahren. Sie sind immerzu mit ihren eigenen Problemen beschäftigt."
"Palast der Miserablen" ist in diesem Sinne auch als Unterbrechung dieser exzessiven Beschäftigung mit sich selbst zu sehen. Denn auch dafür ist Literatur da: um von sich selbst abzusehen und sich in die Perspektive jener hineinzubegeben, die in der "Herzlichen Hölle" leben.
JULIA ENCKE.
Abbas Khider: "Palast der Miserablen". Roman. Hanser Verlag, 320 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Abbas Khider ist aus dem Irak geflohen, schreibt deutsch - und blickt in seinem neuen Roman auf seine Heimat zurück: "Palast der Miserablen"
Es ist genau vier Jahre her, dass Abbas Khiders Roman "Ohrfeige" erschien und Khider, wie schon im Sommer davor, in deutsche Talkshows und Reportagesendungen eingeladen wurde, die ihn, den ehemaligen Flüchtling aus dem Irak, zur Flüchtlingskrise befragen wollten. Denn "Ohrfeige" war ein Roman über einen Asylbewerber, der mit Hilfe eines Schleppers aus dem Irak flieht und als Illegaler ausgerechnet im verschneiten Dachau landet, das er zunächst für einen Vorort von Paris hält. Es war eine Geschichte, die der Rede und der Sichtweise desjenigen, der hier nach Deutschland gekommen war, Gehör verschaffte und zugleich in beeindruckender Weise davon erzählte, wie alle alle manipulieren. Wie bei Befragungen in deutschen Behörden diejenigen, die Asyl beantragen, von einem einzigen Menschen, von dessen Launen und Vorstellungen abhängig sind und wie diese Abhängigkeit immer neue Biographien hervortreibt: In "Ohrfeige" ist im Asylantenheim am beliebtesten, wer den anderen die beim Richter erfolgreichste Lebensgeschichte erfindet.
Abbas Khider ging damals nicht in die Talkshows, die ihn eingeladen hatten. "Ich bin Schriftsteller, kein Vampir. Ich lebe nicht vom Blut der anderen", sagte er. Er schrieb weiter - auf Deutsch. Mit 19 war er im Irak verhaftet worden, als er mit Freunden Flugblätter gegen Saddam Hussein verteilt hatte; zwei Jahre war er in den Gefängnissen Bagdads interniert, bevor es ihm, nach seiner Entlassung, gelang, aus dem Irak zu fliehen. 2000 kam er nach Deutschland, fand Asyl, studierte in München und Potsdam Literatur und Philosophie und fing damals an, in der Sprache, die er hier lernte, zu schreiben. Der Abbas-Khider-Sound entstand so, mit dem er längst zu den wichtigen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart gehört. Seine Literatur ist überraschend nüchtern, mit kurzen Sätzen, einem schonungslosen Blick für die Grausamkeiten von Krieg und Folter und voller Humor, der halb befreiend, halb bitter ist.
Jetzt ist endlich - er wirkt erleichtert - sein neuer Roman fertig, "Palast der Miserablen", der ihm alles abverlangt habe, wie er in Berlin in einem Café am Hermannplatz erzählt: so sehr, dass er zwischendurch mit der Arbeit daran aufhören musste. "Ich hatte von diesem Buch acht Fassungen, und nach der vierten Fassung dachte ich, ich brauche eine lange Pause, brauche Distanz zu meinem Text, um mit anderen Augen daran arbeiten zu können. Ich dachte, ich muss etwas anderes machen, und habe angefangen, über mein Verhältnis zur deutschen Sprache zu schreiben, weil ich danach immer wieder gefragt werde. Sieben Wochen lang habe ich einfach alles aufgeschrieben, was mir einfiel. Das war wirklich Spaß pur." Das Spaßprodukt hieß "Deutsch für alle" und wurde vor einem Jahr völlig zu Recht zu einem Erfolg. Khider schilderte, wie er, als er in der Bundesrepublik ankam, nur drei deutsche Wörter kannte: "Hitler, Scheiße und Lufthansa", allerdings den Anspruch hatte, Kant, Hegel und Hölderlin im Original lesen zu wollen. Wozu mussten Adjektive passend zum Substantiv gebeugt werden? Wozu gab es fast mehr Präpositionen als französische Käsesorten? In seiner Satire entwarf er ein neues, viel weniger kompliziertes Deutsch - und schrieb im komplizierten Deutsch an seinem Roman weiter, der diesmal nicht von Deutschland handelt, sondern vom Irak.
Gleich auf der ersten Seite wirft Khider darin seine Leser und seinen Ich-Erzähler in jene Gefängniskeller, die der Autor genauso kennt wie die Folterpraxis in ihnen. Aus den Kellern heraus erzählt er in Rückblenden (oder - das bleibt unentschieden - sind die Kerkerszenen Vorausblenden?) die Geschichte seines Landes, die einer Familie und vor allem die eines im Süden in einem schiitischen Dorf aufwachsenden Jungen. "Helle", "herzlich" hatte das Dorf früher einmal unter der Herrschaft der Osmanen geheißen. Ein riesiges befestigtes Lager sollte hier existiert haben, wo die Landesherren mit ihren Streitkräften logierten, wenn sie sich im Südirak aufhielten. Als die Engländer mit ihrer Armee aufmarschierten und die Türken verjagten, fanden sie unter dem Fort ein abscheuliches Gefängnis, in dem sich Hinrichtungsräume und Folterkammern befanden. Sie stießen auf mehrere Massengräber und tauften den Ort "Hell". Nach der Gründung des Königreichs Irak wurde daraus Ahlan Dschahannam: "Herzliche Hölle".
"Palast der Miserablen" beginnt kurz vor dem Ausbruch des ersten Golfkriegs, erzählt vom Einmarsch in Kuweit und den "Bomben des Bush", die die Familie im Kleiderschrank überlebt. Er berichtet von den Aufständischen, die sich organisieren und die Regierung stürzen wollen; jugendliche Freiheitskämpfer, die auf der Straße von Pick-ups eingesammelt werden und nie wieder zurückkommen. Vom beliebten Kinderspiel "Saddam jagen" - und vom Präsidenten Saddam, der Bagdad und die Städte, in denen mehrheitlich Sunniten lebten, unter Kontrolle behält und die Gegend im Süden mit einem Bombardement überzieht. Bis die Familie begreift, dass es ihre einzige Chance ist, die Heimat zu verlassen und nach Bagdad aufzubrechen, wo sie zunächst bei einem Stammesverwandten und dann in der sogenannten Blechsiedlung unterkommen.
"Die Zeit von 1991 bis 2003 war im Irak die Zeit des Embargos", erzählt Abbas Khider. "Wir wissen, dass das Embargo als politisches Druckmittel eingesetzt wurde, aber nicht, was es für die Menschen bedeutet hat. Dazu kam, dass es um eine Zeit nach dem Krieg und in der Diktatur geht, das sind unheimliche Umstände. Und darüber einen Roman zu schreiben ist eine große Herausforderung. Es gibt Romane über Kriege, Diktaturen, dafür gibt es Muster, aber hierfür gibt es eigentlich kein Muster."
"Palast der Miserablen" wird so zu einem Überlebensroman in einer nicht nur politisch unübersichtlichen Zeit ohne Strom und fließend Wasser und dennoch nicht ohne Glück. Der Junge verkauft Tüten und, was eigentlich verboten ist, mit seiner rebellischen Schwester, der vielschichtigsten Figur in diesem Roman, Wasser. Später verkauft er Bücher und wird in einen Literaturzirkel eingeführt, der sich immer freitags trifft: "Das also waren wir", heißt es, "acht Literaturbegeisterte in der Wohnung eines Blinden. Der Palast der Miserablen."
Abbas Khider sagt, dass er selbst in drei solchen Zirkeln war, auch in Libyen im Exil. Und dass sie die schönste Erinnerung seien, die er in seinem Leben habe. "Das war eine Zuflucht für mich. Ich habe mir ein Leben gewünscht, in dem alle Tage Freitag wären. Man ist zwischen Intellektuellen, die kein Geld von dir wollen, sondern Austausch, Miteinander. Ich war wie ein Wörteraufsauger, und seitdem glaube ich an die Literatur", die im Irak allerdings ein revolutionärer Akt, ein Spiel auf Leben und Tod gewesen sei. Er kenne einen irakischen Dichter, der hier in Berlin lebe, Fadhil al-Azzawi, erzählt er. Als der in Bagdad im Gefängnis gesessen habe, sei er jungen Leuten aus Basra begegnet, die einsaßen, weil man bei ihnen eine Zeitschrift gefunden hatte, in der ein Gedicht dieses Dichters abgedruckt gewesen war. Er ruft es laut durchs ganze Café: "Ein Gedicht!"
Sein mitreißender neuer Roman ist durch eine Abfolge von Rückschlägen strukturiert. Immer wenn in der Bevölkerung Hoffnung wieder aufkeimt; wenn so etwas wie Normalität sich wieder einzustellen scheint, eine Bewegung in eine gute Richtung - wird im nächsten Moment jäh alles wieder zunichtegemacht. Es ist diese Zerrüttung gesellschaftlicher Entwicklung durch Interventionen von außen und innen, die ihn interessiert: "Nehmen Sie Donald Trump", sagt er. "Er hat zwei Idioten getötet." Er meint Ghassem Soleimani, Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Einheiten, und den Milizenführer Abu Mahdi al-Muhandis. "Vorher gab es einen Aufstand im Irak, die Frauen haben dabei eine große Rolle gespielt. Das war eine normale Entwicklung, auf der Straße waren Millionen - dann kommt Trump, tötet zwei Leute, und die Geschichte ändert sich. Jetzt heißt es: Diejenigen, die auf die Straße gingen, seien die Spione der Amerikaner. Im Westen interessiert sich keiner dafür. Für die jungen Leute bedeutet das, dass ihr Aufstand vorbei ist, ihre Träume, ihre Visionen."
Und genau das verstehe er nicht: Vor dem arabischen Frühling seien hier viele skeptisch gewesen, als dann die Islamisten kamen, war man enttäuscht. Aber was man heute vergesse, sei, dass diejenigen, die gerade auf die Straße gingen, alle gegen Diktatur, Islamismus und Militär seien: in Algerien ("seit verdammtem einem Jahr!"), in Sudan, im Libanon, im Irak, alle gleichzeitig, junge Leute, seit Monaten, Frauen und Männer, was auch neu sei, besonders für den Irak. Und das sei doch ein Traum! Junge Menschen wollen Demokratie und gehen dafür auf die Straße. Wenn sie davon etwas realisieren könnten, würde das bedeuten, dass es auch hier ein Problem weniger gäbe, weil weniger Flüchtlinge kämen. Aber das werde gar nicht wahrgenommen, weil alle auf die Rechtsradikalen fixiert seien.
"Mir kommt es so vor, als wenn die jungen Leute dort mehr für die europäischen Werte kämpfen als die Menschen hier", sagt Abbas Khider. "Denn nur diese können ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Diejenigen, die dort für die Demokratie eintreten, brauchen Unterstützung. Aber die kriegen sie nicht. Die Gesellschaften in Europa haben sich durch das Beschäftigtsein mit sich selbst und mit den giftigen Problemen der Rechtsradikalen total geändert in den letzten Jahren. Sie sind immerzu mit ihren eigenen Problemen beschäftigt."
"Palast der Miserablen" ist in diesem Sinne auch als Unterbrechung dieser exzessiven Beschäftigung mit sich selbst zu sehen. Denn auch dafür ist Literatur da: um von sich selbst abzusehen und sich in die Perspektive jener hineinzubegeben, die in der "Herzlichen Hölle" leben.
JULIA ENCKE.
Abbas Khider: "Palast der Miserablen". Roman. Hanser Verlag, 320 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Abbas Khider erzählt seine Geschichte aus dem "Palast der Miserablen" aus der Perspektive des jugendlichen Protagonisten - vermutlich, damit Sprache und Stil des Romans nicht gänzlich niedergedrückt werden von den Lasten eines Lebens unter Saddam Hussein, meint Rezensent Hans-Peter Kunisch. Ganz gelungen scheint ihm das nicht. Vielmehr ist ihm manches "zu brav" geraten, etwa wenn der im Irak geborene Autor seiner deutschen Leserschaft den Alltag in einem fiktiven Armenviertel von Bagdad zu erklären sucht. Dann wieder lobt der Kritiker den Roman für seinen radikalen und unabgelenkten Blick auf die Verhältnisse im Irak während des Embargos. Schwer beeindruckt ist Kunisch auch von Khiders Darstellung von Folter und moralischer Ausweglosigkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Kurz gerettet
Abbas Khiders Roman „Palast der Miserablen“ über das Schicksal der Unter- und Mittelschichten im Irak
Manchmal begegnen einem Romanfiguren, die sich zwar miteinander unterhalten, in Wahrheit aber die Lesenden ansprechen. Zu dieser Kategorie gehört auch Hisham, ein Buchhändler aus Abbas Khiders neuem Roman „Palast der Miserablen“. „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert?“, fragt er Kamal, den Gastgeber einer konspirativen Gruppe von Intellektuellen, deren Name auch den Titel des Buchs liefert. „Wir sind doch nur eine schnelle Schlagzeile. Die seltsamen Eingeborenen dieses fernen Unruhe-Staates, den man Irak nennt. Die Leute hören seit Jahrzehnten nur von Krieg und Problemen. Das ist für die ganz normal und wie Hintergrundrauschen.“
Wie recht er hat, zeigt die Zahl von aktuell mindestens 550 Toten, die eine wenig beachtete Revolution seit Oktober 2019 im Irak gefordert hat. Es ist eine furchtbare Zahl, die trotzdem kaum zu berühren vermag angesichts der Geschichte eines Landes, von dem seit Jahrzehnten hauptsächlich Opferzahlen berichtet werden. Um die Tragweite der Situation wirklich zu verstehen, brauchen wir beides, schreibt Trish Greenhalgh, Professorin an der University of Oxford, die sich mit Wissensvermittlung und narrativen Techniken in der Gesundheitsversorgung auseinandersetzt: Die Zahlen und die Geschichten.
Diese Geschichten, die verstehen helfen, dass hinter jeder Zahl ein konkretes Menschenleben mit Freundschaften, Lieblingsgerichten, Kindheitserinnerungen, Liebeskummer und anderen ganz alltäglichen Sorgen steckt, erzählt schon seit seinem ersten Roman „Der falsche Inder“ (2008) immer wieder Abbas Khider. Seine Romane behandeln die humanitäre und politische Lage im Irak ebenso wie die strukturelle Gewalt des deutschen Asylsystems, sie beschreiben Folter, Gefängnis und Flucht. Fast alle diese Themen finden sich auch in „Palast der Miserablen“, doch den Fokus legt Khider diesmal vor allem auf die Gründe für eine solche Flucht: Anhand der Geschichte von Shams Hussein, einem Jungen aus den Slums von Bagdad, zeichnet er die so gewaltvollen wie hoffnungslosen Umstände nach, die das Leben der irakischen Unter- und Mittelschicht prägen.
Um der Niederschlagung des Schiitenaufstands und dem sich daran anschließenden Genozid zu entkommen, flieht Shams’ Familie 1991 aus dem Süden des Landes nach Bagdad. Zu diesem Zeitpunkt haben sie bereits die beiden Golfkriege mit zahlreichen Luftangriffen auf ihr Dorf überstehen müssen. In der Hauptstadt ziehen sie ins „Blechviertel“, einen Slum ohne jegliche Infrastruktur in direkter Nachbarschaft zu einer Mülldeponie, die auch die Überlebensbasis für die vielen in Bagdad ankommenden Flüchtlinge darstellt: Sie sammeln noch Verwertbares aus dem Abfall, reparieren und reinigen ihre Funde und verkaufen sie schließlich an die kaum weniger armen Bewohner des angrenzenden Viertels Saddam City.
Die folgenden Jahre bis zu Shams’ Schulabschluss beschreibt Khider in einem Erzähltempo, dem man teilweise kaum folgen kann: Immer wieder gelingen der Familie kleine Aufstiege, aber jeder Anlass zur Hoffnung auf ein halbwegs sicheres Leben wird wenige Seiten später von noch schlimmerer Armut, noch erbarmungsloserer Gewalt zunichte gemacht. Immer wieder werden einzelne Figuren, etwa Shams’ als willensstark und klug porträtierte Schwester Quamer, kurz gerettet, nur, um gleich im selben Kapitel in ein noch schrecklicheres Elend zurückzufallen.
Das Gefühl der Ausweglosigkeit stellt sich nicht zuletzt durch die Erzählperspektive ein, denn Shams’ Bericht von seiner Vergangenheit als Schüler, Buchhändlergehilfe und Mitglied im Palast der Miserablen wird von kurzen Präsens-Einschüben unterbrochen, in denen deutlich wird, wo seine Geschichte endet: Gefoltert und halb totgehungert im Gefängnis. Es ist die Geschichte eines Lebens, das, wie Abdullah Încekan in der Wochenzeitung Freitag treffend über die vergleichbare Situation in nordirakischen Flüchtlingslagern schrieb, absehbar ohne Zukunft bleibt.
All das macht Khiders Roman zu einer schwer erträglichen Lektüre; umso mehr, als er zwar den von Kriegen, Aufständen, Armut und Willkürherrschaft gezeichneten Irak der späten 80er- und 90er-Jahre beschreibt, aber viele Szenen mit bedrückend minimalen Veränderungen auch die Situation im Jahr 2020 schildern könnten. Genau hierin liegt die Stärke dieses Buches: Es bietet keine Versöhnung, keinen Ausweg an. In einem Interview mit dem Goethe-Institut hat Abbas Khider einmal erklärt, er habe unter anderem deswegen angefangen, auf Deutsch zu schreiben, weil er vom Irak sprechen wollte, das auf Arabisch aber nicht konnte. So schmerzhaft nah er dem Unerträglichen in seinen Romanen kommt, so sehr kann man sich vorstellen, dass eine Distanzierung qua Sprachwechsel notwendig war, um überhaupt von ihm sprechen zu können.
Im Englischen nennt man diese Art des Umgangs mit dem schwer Erträglichen „to sit with discomfort“. Diese Wendung meint mehr als das Aushalten des Unangenehmen, nämlich: Es erst einmal anzunehmen und aufmerksam zu beobachten, auch, um diejenigen anzuerkennen, zu deren Geschichte es gehört. Die vielleicht größte Stärke der Kunstform Literatur, das zeigt Abbas Khider, liegt nicht darin, Handlungsempfehlungen zu geben, sondern zu erinnern, nicht locker zu lassen, die Sprache nicht zu verlieren angesichts des Unsäglichen, sondern es auch dann zu begleiten, wenn es in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird, und damit diejenigen zu würdigen, die ihm ausgesetzt sind.
LEA SCHNEIDER
Abbas Khider: Palast der Miserablen. Roman. Hanser, München 2020. 320 Seiten, 23 Euro.
Die Geschichte eines
Lebens, das absehbar
ohne Zukunft bleibt
Die Stärke besteht darin, nicht
die Sprache zu verlieren
angesichts des Unsäglichen
Der Schriftsteller Abbas Khider.
Foto: Jens Kalaene/picture alliance
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Abbas Khiders Roman „Palast der Miserablen“ über das Schicksal der Unter- und Mittelschichten im Irak
Manchmal begegnen einem Romanfiguren, die sich zwar miteinander unterhalten, in Wahrheit aber die Lesenden ansprechen. Zu dieser Kategorie gehört auch Hisham, ein Buchhändler aus Abbas Khiders neuem Roman „Palast der Miserablen“. „Glaubst du ernsthaft, dass sich irgendwer da draußen für unsere Probleme interessiert?“, fragt er Kamal, den Gastgeber einer konspirativen Gruppe von Intellektuellen, deren Name auch den Titel des Buchs liefert. „Wir sind doch nur eine schnelle Schlagzeile. Die seltsamen Eingeborenen dieses fernen Unruhe-Staates, den man Irak nennt. Die Leute hören seit Jahrzehnten nur von Krieg und Problemen. Das ist für die ganz normal und wie Hintergrundrauschen.“
Wie recht er hat, zeigt die Zahl von aktuell mindestens 550 Toten, die eine wenig beachtete Revolution seit Oktober 2019 im Irak gefordert hat. Es ist eine furchtbare Zahl, die trotzdem kaum zu berühren vermag angesichts der Geschichte eines Landes, von dem seit Jahrzehnten hauptsächlich Opferzahlen berichtet werden. Um die Tragweite der Situation wirklich zu verstehen, brauchen wir beides, schreibt Trish Greenhalgh, Professorin an der University of Oxford, die sich mit Wissensvermittlung und narrativen Techniken in der Gesundheitsversorgung auseinandersetzt: Die Zahlen und die Geschichten.
Diese Geschichten, die verstehen helfen, dass hinter jeder Zahl ein konkretes Menschenleben mit Freundschaften, Lieblingsgerichten, Kindheitserinnerungen, Liebeskummer und anderen ganz alltäglichen Sorgen steckt, erzählt schon seit seinem ersten Roman „Der falsche Inder“ (2008) immer wieder Abbas Khider. Seine Romane behandeln die humanitäre und politische Lage im Irak ebenso wie die strukturelle Gewalt des deutschen Asylsystems, sie beschreiben Folter, Gefängnis und Flucht. Fast alle diese Themen finden sich auch in „Palast der Miserablen“, doch den Fokus legt Khider diesmal vor allem auf die Gründe für eine solche Flucht: Anhand der Geschichte von Shams Hussein, einem Jungen aus den Slums von Bagdad, zeichnet er die so gewaltvollen wie hoffnungslosen Umstände nach, die das Leben der irakischen Unter- und Mittelschicht prägen.
Um der Niederschlagung des Schiitenaufstands und dem sich daran anschließenden Genozid zu entkommen, flieht Shams’ Familie 1991 aus dem Süden des Landes nach Bagdad. Zu diesem Zeitpunkt haben sie bereits die beiden Golfkriege mit zahlreichen Luftangriffen auf ihr Dorf überstehen müssen. In der Hauptstadt ziehen sie ins „Blechviertel“, einen Slum ohne jegliche Infrastruktur in direkter Nachbarschaft zu einer Mülldeponie, die auch die Überlebensbasis für die vielen in Bagdad ankommenden Flüchtlinge darstellt: Sie sammeln noch Verwertbares aus dem Abfall, reparieren und reinigen ihre Funde und verkaufen sie schließlich an die kaum weniger armen Bewohner des angrenzenden Viertels Saddam City.
Die folgenden Jahre bis zu Shams’ Schulabschluss beschreibt Khider in einem Erzähltempo, dem man teilweise kaum folgen kann: Immer wieder gelingen der Familie kleine Aufstiege, aber jeder Anlass zur Hoffnung auf ein halbwegs sicheres Leben wird wenige Seiten später von noch schlimmerer Armut, noch erbarmungsloserer Gewalt zunichte gemacht. Immer wieder werden einzelne Figuren, etwa Shams’ als willensstark und klug porträtierte Schwester Quamer, kurz gerettet, nur, um gleich im selben Kapitel in ein noch schrecklicheres Elend zurückzufallen.
Das Gefühl der Ausweglosigkeit stellt sich nicht zuletzt durch die Erzählperspektive ein, denn Shams’ Bericht von seiner Vergangenheit als Schüler, Buchhändlergehilfe und Mitglied im Palast der Miserablen wird von kurzen Präsens-Einschüben unterbrochen, in denen deutlich wird, wo seine Geschichte endet: Gefoltert und halb totgehungert im Gefängnis. Es ist die Geschichte eines Lebens, das, wie Abdullah Încekan in der Wochenzeitung Freitag treffend über die vergleichbare Situation in nordirakischen Flüchtlingslagern schrieb, absehbar ohne Zukunft bleibt.
All das macht Khiders Roman zu einer schwer erträglichen Lektüre; umso mehr, als er zwar den von Kriegen, Aufständen, Armut und Willkürherrschaft gezeichneten Irak der späten 80er- und 90er-Jahre beschreibt, aber viele Szenen mit bedrückend minimalen Veränderungen auch die Situation im Jahr 2020 schildern könnten. Genau hierin liegt die Stärke dieses Buches: Es bietet keine Versöhnung, keinen Ausweg an. In einem Interview mit dem Goethe-Institut hat Abbas Khider einmal erklärt, er habe unter anderem deswegen angefangen, auf Deutsch zu schreiben, weil er vom Irak sprechen wollte, das auf Arabisch aber nicht konnte. So schmerzhaft nah er dem Unerträglichen in seinen Romanen kommt, so sehr kann man sich vorstellen, dass eine Distanzierung qua Sprachwechsel notwendig war, um überhaupt von ihm sprechen zu können.
Im Englischen nennt man diese Art des Umgangs mit dem schwer Erträglichen „to sit with discomfort“. Diese Wendung meint mehr als das Aushalten des Unangenehmen, nämlich: Es erst einmal anzunehmen und aufmerksam zu beobachten, auch, um diejenigen anzuerkennen, zu deren Geschichte es gehört. Die vielleicht größte Stärke der Kunstform Literatur, das zeigt Abbas Khider, liegt nicht darin, Handlungsempfehlungen zu geben, sondern zu erinnern, nicht locker zu lassen, die Sprache nicht zu verlieren angesichts des Unsäglichen, sondern es auch dann zu begleiten, wenn es in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird, und damit diejenigen zu würdigen, die ihm ausgesetzt sind.
LEA SCHNEIDER
Abbas Khider: Palast der Miserablen. Roman. Hanser, München 2020. 320 Seiten, 23 Euro.
Die Geschichte eines
Lebens, das absehbar
ohne Zukunft bleibt
Die Stärke besteht darin, nicht
die Sprache zu verlieren
angesichts des Unsäglichen
Der Schriftsteller Abbas Khider.
Foto: Jens Kalaene/picture alliance
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"'Palast der Miserablen' geht nahe. Besonders, weil er zeigt, wie Menschen selbst in aussichtsloser Lage ihr Leben mit Hoffnung und Sinn erfüllen können - wenn sie es denn können." Die Presse, 11.12.20
"Ein packendes Panorama irakischer Geschichte. ... Politik, Soziologie, Psychologie, Tradition und individuelle Hoffnungen und Wünsche verbinden sich zu einer großen Erzählung über den Zustand des Irak in den Jahren vor dem Sturz Saddam Husseins." Franziska Hirsbrunner, SRF 2 Kultur, 10.05.20
"Ein Buch, das über die Geschichte des Iraks weit hinausgeht." Insa Wilke, 3sat Kulturzeit, 08.04.20
"Die vielleicht größte Stärke der Kunstform Literatur, das zeigt Abbas Khider, liegt nicht darin, Handlungsempfehlungen zu geben, sondern zu erinnern, nicht locker zu lassen, die Sprache nicht zu verlieren angesichts des Unsäglichen, sondern es auch dann zu begleiten, wenn es in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird, und damit diejenigen zu würdigen, die ihm ausgesetzt sind." Lea Schneider, Süddeutsche Zeitung, 07.03.20
"Abbas Khider schreibt so mitreißend dass es schaudern macht. Doch ist es die Wirklichkeit, die diesem Roman die hoffnungsvollen Seiten verdunkelt." Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau, 27.02.20
"Abbas Khider hat wunderbare Figuren geschaffen, und es tut weh, sie scheitern zu sehen. ... Er hat die Grausamkeiten des irakischen Regimes überlebt, nun lässt er die sprechen, die es selbst nicht mehr können." Leonie Berger, SWR, 29.02.20
"Abbas Khider gehört längst zu den wichtigen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Seine Literatur ist überraschend nüchtern, mit kurzen Sätzen, einem schonungslosen Blick für die Grausamkeiten von Krieg und Folter und voller Humor, der halb befreiend, halb bitter ist. ... Ein mitreißender neuer Roman." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.02.20
"Khider erzählt mit weltkluger Zärtlichkeit von seinen Figuren. Und begeisternd von der Leidenschaft für Literatur... Der Roman ist das Porträt eines Landes, das bis heute nicht zur Ruhe kommt. Eine irakische Coming of age-Geschichte. Ein Faustschlag gegen eine geschlossene Tür." Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 20.02.20
"Wie immer schreibt Abbas Khider unverschnörkelt realistisch und direkt. Seine Sprache ist so geschmeidig und genau geworden, dass man nicht nur atemlos der Handlung folgt, sondern auch dem Rhythmus seiner Sätze. Palast der Miserablen' ist sein bisher bestes Buch." Klaus Hübner, Tagesspiegel, 18.02.20
"Hart ist diese Geschichte und schwer zu ertragen. Es gibt nichts, was ihre Wucht dämpfen könnte. So ist das in diesem wundervollen, traurigen Roman: Immer, wenn irgendetwas auch nur den Anschein erweckt, vielleicht in eine gute Richtung zu gehen, kommt ein gewaltiges 'Doch dann', das alles erschlägt." Alexander Solloch, NDR Kultur, 17.02.20
"Ein packendes Panorama irakischer Geschichte. ... Politik, Soziologie, Psychologie, Tradition und individuelle Hoffnungen und Wünsche verbinden sich zu einer großen Erzählung über den Zustand des Irak in den Jahren vor dem Sturz Saddam Husseins." Franziska Hirsbrunner, SRF 2 Kultur, 10.05.20
"Ein Buch, das über die Geschichte des Iraks weit hinausgeht." Insa Wilke, 3sat Kulturzeit, 08.04.20
"Die vielleicht größte Stärke der Kunstform Literatur, das zeigt Abbas Khider, liegt nicht darin, Handlungsempfehlungen zu geben, sondern zu erinnern, nicht locker zu lassen, die Sprache nicht zu verlieren angesichts des Unsäglichen, sondern es auch dann zu begleiten, wenn es in absehbarer Zeit nicht verschwinden wird, und damit diejenigen zu würdigen, die ihm ausgesetzt sind." Lea Schneider, Süddeutsche Zeitung, 07.03.20
"Abbas Khider schreibt so mitreißend dass es schaudern macht. Doch ist es die Wirklichkeit, die diesem Roman die hoffnungsvollen Seiten verdunkelt." Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau, 27.02.20
"Abbas Khider hat wunderbare Figuren geschaffen, und es tut weh, sie scheitern zu sehen. ... Er hat die Grausamkeiten des irakischen Regimes überlebt, nun lässt er die sprechen, die es selbst nicht mehr können." Leonie Berger, SWR, 29.02.20
"Abbas Khider gehört längst zu den wichtigen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Seine Literatur ist überraschend nüchtern, mit kurzen Sätzen, einem schonungslosen Blick für die Grausamkeiten von Krieg und Folter und voller Humor, der halb befreiend, halb bitter ist. ... Ein mitreißender neuer Roman." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.02.20
"Khider erzählt mit weltkluger Zärtlichkeit von seinen Figuren. Und begeisternd von der Leidenschaft für Literatur... Der Roman ist das Porträt eines Landes, das bis heute nicht zur Ruhe kommt. Eine irakische Coming of age-Geschichte. Ein Faustschlag gegen eine geschlossene Tür." Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 20.02.20
"Wie immer schreibt Abbas Khider unverschnörkelt realistisch und direkt. Seine Sprache ist so geschmeidig und genau geworden, dass man nicht nur atemlos der Handlung folgt, sondern auch dem Rhythmus seiner Sätze. Palast der Miserablen' ist sein bisher bestes Buch." Klaus Hübner, Tagesspiegel, 18.02.20
"Hart ist diese Geschichte und schwer zu ertragen. Es gibt nichts, was ihre Wucht dämpfen könnte. So ist das in diesem wundervollen, traurigen Roman: Immer, wenn irgendetwas auch nur den Anschein erweckt, vielleicht in eine gute Richtung zu gehen, kommt ein gewaltiges 'Doch dann', das alles erschlägt." Alexander Solloch, NDR Kultur, 17.02.20