Das Bombenbattentat von 1992 auf den Mafiaankläger Paolo Borsellino markiert den Endpunkt der langsamen Rückkehr des sizilianischen Schriftstellers Gioacchino Martinez in sein hassgeliebtes heimatliches Palermo. Über den Umweg Paris verabschiedet sich der Alte von der Industriemetropole Mailand und siedelt in die Hochburg der politischen Zweideutigkeit und der Mafia zurück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2009Sizilianisches Trauerspiel
Gefangen im Kerker der Kränkung: Mit "Palermo. Der Schmerz" liegt jetzt der letzte Band von Vincenzo Consolos sizilianischer Trilogie auf Deutsch vor. Erzählt wird die Geschichte eines Untergangs.
Martinez ist nicht Odysseus. Schön wäre es für ihn, vermutlich. Wahrscheinlich wäre Martinez froh, wenn sein Weg nach Hause mit einem Happy End gesegnet wäre, er hätte es ja auch verdient nach seiner langen, harten Reise. Er hätte sich gefreut, wenn er als alter Mann in seine Heimat Palermo zurückkehren könnte, sein Haus würde noch stehen, sein Garten würde blühen, seine Frau wäre am Leben. Doch die Dinge haben sich verändert. Als er nach Hause zurückkehrt, sieht er statt Bildern aus seiner Kindheit und Szenen seiner ersten Liebe nun immer diese alte Frau vor sich. Tagein, tagaus sitzt sie am Fenster des benachbarten, grauen Wohnblocks und wartet. Die Mutter des Staatsanwaltes von Palermo wartet auf ihren Sohn.
"Palermo. Der Schmerz" heißt der Roman von Vincenzo Consolo, der in Italien schon 1998 erschienen ist. Es ist der letzte Band der "Sizilianischen Trilogie", die Consolo mit dem Buch "Das Lächeln des unbekannten Matrosen" (1976) begann. Der erste Band spielt zu Zeiten des Risorgimento und erzählt, wie die spanischen Bourbonen die Herrschaft über Sizilien verloren. Der zweite Roman "Bei Nacht, von Haus zu Haus" (1992) widmet sich dem politischen Faschismus, der die Insel in den zwanziger Jahren überschwemmte. Der letzte, nun erstmals auf Deutsch vorliegende Band erzählt zu guter Letzt die Nachkriegsgeschichte Siziliens - und damit die Geschichte eines Untergangs, eines endgültigen und ätzenden Abrutschens in die Verwahrlosung und Verwüstung.
Sein Leben lang fühlt sich der Protagonist und Schriftsteller Gioacchino Martinez gezeichnet "von der Geburt auf der Insel, Geburt in dieser absurden historischen Verwerfung, im Kerker der Kränkung, der Wüste der Vernunft, der Auflösung, der Vergeudung von Menschenleben, von jedem menschlichen Gut". Als er ein kleiner Junge war, stürmten die deutschen Soldaten über das Land, töteten seinen Vater und ließen den Jungen zurück, der fortan mit dem Zweifel lebt, ob ihn eine Mitschuld am Tod des Vaters trifft, weil er dessen Versteck verraten hat.
Als die Deutschen verschwanden, kamen obskure Bauunternehmer, die zunächst in kleinem und später in großem Stil den Bewohnern Palermos ihre Häuser abjagten. Auch Martinez verlor sein Heim, seinen Garten - und im Zuge all dessen erst seine Frau, die in einem Irrenhaus zugrunde ging, und dann seinen Sohn, der sich den linksextremistischen Studentenbewegungen der sechziger Jahre anschloss und die Stadt verlassen musste.
Deswegen ist dieses Buch vor allen Dingen ein Trauerspiel. Und wäre die Sprache von Vincenzo Consolo nicht so poetisch und expressiv, wäre sein Roman nicht so reichhaltig versetzt mit Visionen und Verweisen auf die Literaturen aller Zeiten, von Homers "Odyssee" über Cervantes "Don Quijote" bis zu James Joyce "Ulysses" - um nur die großen Namen zu nennen -, wenn dieses Buch nicht so offensichtlich eine Verbeugung vor der kulturellen und literarischen Vielfalt des Mittelmeerraumes wäre, dann könnte es auch ein Drehbuch zu einem Mafia-Thriller sein: In den grauen Wohnblocks, die das Stadtbild Palermos prägen, liegen die Leichen im Zement begraben; die Karfreitagsprozessionen taumeln durch die Straßen wie weiße Geistermärsche; der Schriftsteller Martinez schreibt schon lange nicht mehr; sein Nachbar, der Staatsanwalt, besucht seine Mutter ein letztes Mal.
Vincenzo Consolo hat ein kleines, sehr dichtes Buch geschrieben. Es ist ein wunderbar klingendes und zugleich fürchterlich deprimierendes Klagelied, eine feinsinnige Schrift über Schuld, Ohnmacht und Leid - in dieser Reihenfolge. Einen Ausweg gibt es nicht.
LENA BOPP
Vincenzo Consolo: "Palermo. Der Schmerz". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Maria E. Brunner. Folio Verlag, Wien, Bozen 2008. 119 S., geb., 19,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gefangen im Kerker der Kränkung: Mit "Palermo. Der Schmerz" liegt jetzt der letzte Band von Vincenzo Consolos sizilianischer Trilogie auf Deutsch vor. Erzählt wird die Geschichte eines Untergangs.
Martinez ist nicht Odysseus. Schön wäre es für ihn, vermutlich. Wahrscheinlich wäre Martinez froh, wenn sein Weg nach Hause mit einem Happy End gesegnet wäre, er hätte es ja auch verdient nach seiner langen, harten Reise. Er hätte sich gefreut, wenn er als alter Mann in seine Heimat Palermo zurückkehren könnte, sein Haus würde noch stehen, sein Garten würde blühen, seine Frau wäre am Leben. Doch die Dinge haben sich verändert. Als er nach Hause zurückkehrt, sieht er statt Bildern aus seiner Kindheit und Szenen seiner ersten Liebe nun immer diese alte Frau vor sich. Tagein, tagaus sitzt sie am Fenster des benachbarten, grauen Wohnblocks und wartet. Die Mutter des Staatsanwaltes von Palermo wartet auf ihren Sohn.
"Palermo. Der Schmerz" heißt der Roman von Vincenzo Consolo, der in Italien schon 1998 erschienen ist. Es ist der letzte Band der "Sizilianischen Trilogie", die Consolo mit dem Buch "Das Lächeln des unbekannten Matrosen" (1976) begann. Der erste Band spielt zu Zeiten des Risorgimento und erzählt, wie die spanischen Bourbonen die Herrschaft über Sizilien verloren. Der zweite Roman "Bei Nacht, von Haus zu Haus" (1992) widmet sich dem politischen Faschismus, der die Insel in den zwanziger Jahren überschwemmte. Der letzte, nun erstmals auf Deutsch vorliegende Band erzählt zu guter Letzt die Nachkriegsgeschichte Siziliens - und damit die Geschichte eines Untergangs, eines endgültigen und ätzenden Abrutschens in die Verwahrlosung und Verwüstung.
Sein Leben lang fühlt sich der Protagonist und Schriftsteller Gioacchino Martinez gezeichnet "von der Geburt auf der Insel, Geburt in dieser absurden historischen Verwerfung, im Kerker der Kränkung, der Wüste der Vernunft, der Auflösung, der Vergeudung von Menschenleben, von jedem menschlichen Gut". Als er ein kleiner Junge war, stürmten die deutschen Soldaten über das Land, töteten seinen Vater und ließen den Jungen zurück, der fortan mit dem Zweifel lebt, ob ihn eine Mitschuld am Tod des Vaters trifft, weil er dessen Versteck verraten hat.
Als die Deutschen verschwanden, kamen obskure Bauunternehmer, die zunächst in kleinem und später in großem Stil den Bewohnern Palermos ihre Häuser abjagten. Auch Martinez verlor sein Heim, seinen Garten - und im Zuge all dessen erst seine Frau, die in einem Irrenhaus zugrunde ging, und dann seinen Sohn, der sich den linksextremistischen Studentenbewegungen der sechziger Jahre anschloss und die Stadt verlassen musste.
Deswegen ist dieses Buch vor allen Dingen ein Trauerspiel. Und wäre die Sprache von Vincenzo Consolo nicht so poetisch und expressiv, wäre sein Roman nicht so reichhaltig versetzt mit Visionen und Verweisen auf die Literaturen aller Zeiten, von Homers "Odyssee" über Cervantes "Don Quijote" bis zu James Joyce "Ulysses" - um nur die großen Namen zu nennen -, wenn dieses Buch nicht so offensichtlich eine Verbeugung vor der kulturellen und literarischen Vielfalt des Mittelmeerraumes wäre, dann könnte es auch ein Drehbuch zu einem Mafia-Thriller sein: In den grauen Wohnblocks, die das Stadtbild Palermos prägen, liegen die Leichen im Zement begraben; die Karfreitagsprozessionen taumeln durch die Straßen wie weiße Geistermärsche; der Schriftsteller Martinez schreibt schon lange nicht mehr; sein Nachbar, der Staatsanwalt, besucht seine Mutter ein letztes Mal.
Vincenzo Consolo hat ein kleines, sehr dichtes Buch geschrieben. Es ist ein wunderbar klingendes und zugleich fürchterlich deprimierendes Klagelied, eine feinsinnige Schrift über Schuld, Ohnmacht und Leid - in dieser Reihenfolge. Einen Ausweg gibt es nicht.
LENA BOPP
Vincenzo Consolo: "Palermo. Der Schmerz". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Maria E. Brunner. Folio Verlag, Wien, Bozen 2008. 119 S., geb., 19,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Selbst in Italien gilt der 1933 in Sizilien geborene Vincenzo Consolo als "Geheimtipp", weiß Franz Haas. Tief beeindruckt zeigt sich der Rezensent von Consolos drittem Roman, der einen alternden, verbitterten Schriftsteller sowie das von Politik und Mafia zerstörte Palermo in den Mittelpunkt stellt. Der Autor verbinde höchst eindringlich das persönliche Schicksal des Schriftstellers, der Palermo wegen der andauernden Gewalt verlassen muss, dessen Ehefrau wahnsinnig wird und dessen Sohn, in terroristische Aktivitäten verwickelt, nach Paris flüchtet, mit 50 Jahren sizilianischer Zeitgeschichte. Dabei ist dieser in Sprüngen erzählte Lebenslauf in ein dichtes Referenznetz von offenen und versteckten Zitaten aus Literatur, Kunst und Musik gebettet, so Haas fasziniert. Insbesondere wie der Autor die hysterische und gewaltgeladene Atmosphäre der 70er Jahre einfange, sei in seiner "fulminanten Kürze" bemerkenswert, preist der Rezensent, den die "unerbittlich luzide Metaphorik" und die Poesie dieses Romans vollkommen in den Bann gezogen haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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