Die heute weißrussische Stadt Grodno liegt in jener mitteleuropäischen Zone, die durch die deutschen und sowjetischen Verheerungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs demografisch weitgehend zerstört wurde. Felix Ackermanns Studie zeichnet das Ineinandergreifen von Völkermord, Zwangsarbeit, Deportationen und Umsiedlungen nach und analysiert, wie die Besatzer aktiv ethnische und nationale Zuschreibungen einsetzten, um diese Prozesse zu steuern. Anhand einer breiten Quellenbasis wird die Entwicklung der weißrussischen Nation auf lokaler Ebene untersucht.Dabei stellt Ackermann einen langfristigen Zusammenhang zwischen der bereits nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten Nationalisierung ethnischer Zuschreibungen und der 1939 einsetzenden und 1944 verstärkten Sowjetisierung der Region her. Die sowjetische Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bildete demnach die Grundlage für eine moderne urbane weißrussische Erzählung von Grodno. Durch das genaue Nachzeichnen der Migrationsströme indie Stadt sowie der Anpassungsstrategien der neuen Bewohner wird deutlich, warum trotz der starken institutionellen Verankerung der weißrussischen Titularnation die urbane Kultur Grodnos russophon dominiert war. Die Abfolge sowie das Ineinandergreifen von Einschreiben, Löschen und Neudefinition kultureller Textur werden dabei als lokaler Aneignungsprozess beschrieben, als dessen Ergebnis ein Palimpsest entsteht.