Abschied von der Nacht: Benjamin von Stuckrad-Barres Comeback
Er wollte genau da rein: zu den Helden, in die rauschhaften Nächte - dahin, wo die Musik spielt. Erst hinter und dann auf die Bühne. Unglaublich schnell kam er an, stürzte sich hinein und ging darin fast verloren. Udo Lindenbergs rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird Freund und später Retter.
Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm, Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Und nun eine Selbstfindung am dafür unwahrscheinlichsten Ort - im mythenumrankten »Chateau Marmont« in Hollywood, in das ihn Udo führte. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman. Drumherum tobt der Rausch, der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine Träume und Helden - und trifft viele von ihnen wieder. Mit Bret Easton Ellis inspiziert er einen Duschvorhang, er begegnet Westernhagen beim Arzt und Courtney Love in der Raucherecke und geht mit Thomas Gottschalk zum Konzert von Brian Wilson. Andere sind tot und werden doch gegenwärtig, Kurt Cobain, Helmut Dietl.
Stuckrad-Barre erzählt mit seiner eigenen Geschichte zugleich die Geschichte der Popkultur der letzten 20 Jahre. »Panikherz« ist eine Reise in die Nacht, eine Suche nach Wahrheit, eine Rückkehr aus dem Nebel.
Er wollte genau da rein: zu den Helden, in die rauschhaften Nächte - dahin, wo die Musik spielt. Erst hinter und dann auf die Bühne. Unglaublich schnell kam er an, stürzte sich hinein und ging darin fast verloren. Udo Lindenbergs rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird Freund und später Retter.
Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm, Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Und nun eine Selbstfindung am dafür unwahrscheinlichsten Ort - im mythenumrankten »Chateau Marmont« in Hollywood, in das ihn Udo führte. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman. Drumherum tobt der Rausch, der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine Träume und Helden - und trifft viele von ihnen wieder. Mit Bret Easton Ellis inspiziert er einen Duschvorhang, er begegnet Westernhagen beim Arzt und Courtney Love in der Raucherecke und geht mit Thomas Gottschalk zum Konzert von Brian Wilson. Andere sind tot und werden doch gegenwärtig, Kurt Cobain, Helmut Dietl.
Stuckrad-Barre erzählt mit seiner eigenen Geschichte zugleich die Geschichte der Popkultur der letzten 20 Jahre. »Panikherz« ist eine Reise in die Nacht, eine Suche nach Wahrheit, eine Rückkehr aus dem Nebel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2016Es kenne ihn die Welt
Man wusste oder hoffte, dass er so ein Buch in sich hat: Benjamin von Stuckrad-Barre legt seine Autobiographie vor. Sie hat über weite Strecken Format, nur das Ende ist hässlich und klein.
Benjamin von Stuckrad-Barre muss durch die Hölle gegangen sein; nach allem, was er erzählt, ist es ein Wunder, dass er noch lebt: viel Drogen, Alkohol sowieso, dazu noch Bulimie (Ess-Brechsucht). Das Buch, das er darüber geschrieben hat, wird man am ehesten als Autobiographie bezeichnen können. Neuerdings wird auch von einem "Memoir" gesprochen (gibt es "Ferien" in der Einzahl?). Aber "Memoiren" klänge zu edel, außerdem ist der Autor dafür noch nicht alt genug und seine Bedeutung für die Kultur, mit Verlaub, insgesamt (noch?) zu gering.
Eine Autobiographie bedarf, frei nach Goethe, der Liebe zu sich selbst. Demnach wäre Benjamin von Stuckrad-Barre dafür gar nicht qualifiziert, denn er hegt eine gegenteilige Empfindung für sich selbst. Nach Auskunft von Ärzten wie von Betroffenen wird der Bulimiker meistens von Selbsthass geplagt. Vielleicht ist das Buch deswegen so gut geworden. Wer ertrüge schon 560 Seiten Eigenliebe? Die achtzig Seiten, die sie dann trotzdem noch enthalten, reichen und sind, bei Lichte betrachtet, ein Makel, über den nur Fans hinwegsehen werden. Dazu kommen wir noch.
Benjamin von Stuckrad-Barre ist ein interessanter Fall und wahrscheinlich das größte Talent, das der auf Popkultur spezialisierte Journalismus in den vergangenen zwanzig Jahren gesehen hat. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre haute er in Zeitungen und Zeitschriften seine Idole Marius Müller-Westernhagen und, vor allem, Udo Lindenberg gehörig in die Pfanne, und wer das las, konnte kaum glauben, dass dieser schlagfertige, scharfzüngige Autor damals erst Anfang zwanzig war. Solche Verrisse sind natürlich Anfängerfehler; der Versuchung, jemanden öffentlich zu beleidigen, gibt man, wenn man jung ist und Aufmerksamkeit braucht, schon mal nach; aber es ist durchaus nicht so, dass Stuckrad-Barre dies ganz ohne Argumente getan hätte. Er hatte immer ein Auge für die Schwachpunkte von Popmusikern, denen damals fast ausschließlich sein Interesse galt, für Eitelkeiten, künstlerische und altersmäßige Angemessenheiten, kurz: für die Frage, ob jemand, wie man so sagt, "in Würde altert". Dass er das selbst noch nicht gelernt hat, ist eine Tatsache, der wir "Panikherz" verdanken, eine ausgesprochen egomanische, aber nur gegen sich selbst rücksichtslose, gegenüber allen anderen eher milde, gerechte oder geradezu liebevolle Erzählung. Was Lindenberg betrifft, so wird der Leser, der ein Normalverhältnis zu ihm unterhält, schnell feststellen, dass Stuckrad-Barre es in dieser Hinsicht übertreibt, wie man überhaupt fragen kann, was ausgerechnet diesen Sänger, der gewiss etwas geleistet hat, aber die vergangenen fünfundzwanzig Jahre nur noch betrunken und undurchsichtig vor sich hin nuschelt, so zum Helden prädestiniert.
Weniger eine Geschmacksfrage ist, was man davon halten soll, wenn ein Suchtkranker so dermaßen viel verbrannte Erde hinterlässt. "Es kenne mich die Welt, auf dass sie mir verzeihe"? Man ist geneigt, an den Ausspruch August von Platens zu denken. Denn tatsächlich erschließt sich manches aus Stuckrad-Barres Werdegang und seinem bisweilen fast schnöselig wirkenden Gehabe nun doch ganz gut: Viel Unsicherheit war dabei im Spiel, dazu der unbedingte Wille, "dazuzugehören", den Stars so dicht wie möglich auf den Fersen zu sein, ja im Grunde auch so ein Leben zu führen.
Das ist ihm, jedenfalls gemessen am Suchtverhalten und den vielen Abstürzen, gelungen. Folglich muss dieser Wille ungeheure Kräfte aktiviert haben, nur, dass sie sich rasch gegen den Autor selbst richteten. An einer Stelle, die man als so rührend wie alarmierend empfindet, legt der WDR-Moderator Friedrich Küppersbusch ihm die Hand auf die Schulter und sagt: "Junge, du hast ganz schön viel Energie."
Mit Leichtigkeit trägt es ihn fort aus dem norddeutschen Pfarrhaus, dem er entstammt. Die gewissenhaften, durchaus an Weltverbesserung interessierten Eltern sind dermaßen alternativ, dass er sich schon als Kind nach Oberflächlichkeit sehnt: Markenkleidung, Nutella, Unterhaltungsmusik (statt Klassik), Urlaub im Süden (statt Wandern), überhaupt nach allen Versatzstücken, welche die damals noch in vollem Ernst so kritisierte "Konsumgesellschaft" bereithielt. Aber Stuckrad-Barre reitet auf dieser Herkunft nicht herum, er konturiert sie mit wenigen Strichen und erspart einem langweilige Details. Sein Sinn für Tempo und Dynamik, den er mit der Lektüre von Hunter S. Thompson und Jörg Fauser geschärft haben dürfte, ist bemerkenswert.
Mit Einfallsreichtum und Mut gelingt es dem Außenseiter, der von der Klassenschönen geschnitten wird, für die Abiturfeier eine Punkband anzuheuern. Von da an geht alles sehr schnell: Praktikum bei der "taz", Redakteur beim deutschen "Rolling Stone", Referent bei Küppersbusch, Gagschreiber für Harald Schmidt - dies alles absolviert er mit einem für sein damaliges Alter bemerkenswertem Durchblick und der Hartnäckigkeit eines Groupies. Und er schildert es, von einigen wenigen Erklärungen zu allzu bekannten Phänomenen abgesehen, ausgesprochen kurzweilig, pointiert und mit der Selbstironie eines "Hein vom Dorf", der weiß, dass er mit noch so energischen Vorstößen in großstädtisch-glamouröse Sphären seine Herkunft nicht abschütteln kann. Das ist gar nicht so weit weg vom schnörkellosen Ton entfernter Verwandter wie Heinz Strunk oder Walter Kempowski.
Den Kopf hat er voller Ideen, aus denen später immer großspurigere "Projekte" werden, die er den Leuten aufschwatzt, und das Geld dürfte dafür reichlich geflossen sein, ohne dass Stuckrad-Barre hier ins Detail ginge. Vielleicht hat er da schon den Überblick verloren oder wollte gar keinen haben. Als seine ersten beiden Romane, "Soloalbum" und "Livealbum", die man immer noch gerne liest, 1998/99 erscheinen, ist er selbst ein Popstar, das Genre heißt ja "Popliteratur". Es ist sympathisch, dass Stuckrad-Barre von diesen und den folgenden Büchern ("Remix" und "Blackbox") kaum ein Wort sagt und noch nicht einmal deren Titel erwähnt. In den späten Neunzigern stand er, mit noch nicht einmal 25 Jahren, auf dem Höhepunkt in seiner Karriere.
Denn danach kommt der Abstieg, vor allem in Form von Kokain, das er erstmals mit dem amerikanischen Schriftsteller Bret Easton Ellis, auch so einem Meister kalter Pracht, einnimmt. Stuckrad-Barre beschreibt die Räusche und Ernüchterungen, den kalten Schweiß der Sucht, die Klinikaufenthalte und die dauernden Rückfälle ohne Zuhilfenahme von Psychologie, ohne Ausflüchte. Es geht ihm nur um das, was er tut und lässt, wobei die wiederkehrenden Verhaltensmuster selbst nach Hunderten von Seiten nicht ermüden. Immer wieder umkreist Stuckrad-Barre dabei den Kern seiner zwangsneurotischen Persönlichkeit: Unsicherheit, gepaart mit Geltungsdrang; Erlebnishunger, gepaart mit einem Ruhebedürfnis, dem er nur mit chemischer Hilfe nachkommen kann, die alle Nerven betäubt und das Denken abschaltet.
In der eigentümlichen Mischung aus Kurzweiligkeit und einer Selbstkritik, die das Ergebnis seiner mühsam wiedergewonnenen Nüchternheit, vielleicht auch Reue sein muss, liegt die eigentliche Leistung; darin und in dem noblen, diskreten Ton über seine Eltern und die drei Geschwister. Das Bekenntnis zur Familie, die ihn lange nicht geschert hat, kommt so überraschend wie glaubwürdig.
Bis hierhin ist es ein beeindruckendes, wenn auch naturgemäß extrem exhibitionistisches Buch. Aber dann stockt es plötzlich, Besinnung tritt ein. Stuckrad-Barre ist - das muss eine gewaltige Energieleistung gewesen sein - clean und trocken. Er treibt sich in Los Angeles herum, wo er das alles geschrieben hat, geht mit Thomas Gottschalk ins Brian-Wilson-Konzert, verabschiedet sich von seinem todkranken Freund Helmut Dietl und denkt ansonsten pausenlos über seine Helden nach. Passieren tut nichts mehr. Aber die Reflexion, zu der Stuckrad-Barre sich jetzt genötigt sieht, ist weniger seine Stärke. Die Kultur- und Medienkritik, zu der er sich aufschwingt, ist doch sehr von der Stange: Leute, die nur noch fotografieren, statt etwas zu erleben; das Altern der Popkultur und ihrer Protagonisten; das "Handgemachte" in der Musik als "Authentizitätskitsch"; die Beach Boys, die in Wahrheit wasserscheu waren - man hat das schon tausendmal gehört und wundert sich, wie dieser so auf Originalität erpichte Autor überhaupt noch davon anfangen mag.
Selbstzufriedenheit tritt ein - dieser Eindruck dürfte kaum beabsichtigt gewesen sein. Einige Fragen hätte man noch an ihn: Können die Ironiker, auf die er so große Stücke hält (Harald Schmidt, David Letterman, Bret Easton Ellis), überhaupt "Helden" sein? Und muss der bei Lindenberg abgeschaute und in großem Stil nachgemachte Dauerrausch zur "Haltung" hochgelogen werden, oder hätte es das Eingeständnis einer gewissen Haltlosigkeit nicht auch getan?
Schließlich, eine Stelle, die eine Art Sollbruchstelle ist und den Verdacht nahelegt, dass Stuckrad-Barre manchmal einfach auf dem falschen Dampfer ist: Zuletzt hört er die Band Blur. Der Sänger singt, dass Liebe das Allergrößte ist: "Und ja, dann ist Popmusik auf ihrer höchsten Stufe, wenn ein solcher Satz nicht als klebrige Schlagerformel versickert." Der Größenwahn, der ihn sich im Genie Brian Wilson narzisstisch spiegeln lässt, sei ihm zugestanden. Aber dass er sich zu guter Letzt über den Schlager erheben muss, steht ihm nicht gut zu Gesicht. Vom Recht auf Betrogenwerden, von Weltflucht müsste er inzwischen das eine oder andere begriffen haben. Stuckrad-Barre ist damit auf der niedrigsten Stufe angekommen, sein großes Buch hat einen auffälligen Kratzer.
EDO REENTS.
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Panikherz".
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 576 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man wusste oder hoffte, dass er so ein Buch in sich hat: Benjamin von Stuckrad-Barre legt seine Autobiographie vor. Sie hat über weite Strecken Format, nur das Ende ist hässlich und klein.
Benjamin von Stuckrad-Barre muss durch die Hölle gegangen sein; nach allem, was er erzählt, ist es ein Wunder, dass er noch lebt: viel Drogen, Alkohol sowieso, dazu noch Bulimie (Ess-Brechsucht). Das Buch, das er darüber geschrieben hat, wird man am ehesten als Autobiographie bezeichnen können. Neuerdings wird auch von einem "Memoir" gesprochen (gibt es "Ferien" in der Einzahl?). Aber "Memoiren" klänge zu edel, außerdem ist der Autor dafür noch nicht alt genug und seine Bedeutung für die Kultur, mit Verlaub, insgesamt (noch?) zu gering.
Eine Autobiographie bedarf, frei nach Goethe, der Liebe zu sich selbst. Demnach wäre Benjamin von Stuckrad-Barre dafür gar nicht qualifiziert, denn er hegt eine gegenteilige Empfindung für sich selbst. Nach Auskunft von Ärzten wie von Betroffenen wird der Bulimiker meistens von Selbsthass geplagt. Vielleicht ist das Buch deswegen so gut geworden. Wer ertrüge schon 560 Seiten Eigenliebe? Die achtzig Seiten, die sie dann trotzdem noch enthalten, reichen und sind, bei Lichte betrachtet, ein Makel, über den nur Fans hinwegsehen werden. Dazu kommen wir noch.
Benjamin von Stuckrad-Barre ist ein interessanter Fall und wahrscheinlich das größte Talent, das der auf Popkultur spezialisierte Journalismus in den vergangenen zwanzig Jahren gesehen hat. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre haute er in Zeitungen und Zeitschriften seine Idole Marius Müller-Westernhagen und, vor allem, Udo Lindenberg gehörig in die Pfanne, und wer das las, konnte kaum glauben, dass dieser schlagfertige, scharfzüngige Autor damals erst Anfang zwanzig war. Solche Verrisse sind natürlich Anfängerfehler; der Versuchung, jemanden öffentlich zu beleidigen, gibt man, wenn man jung ist und Aufmerksamkeit braucht, schon mal nach; aber es ist durchaus nicht so, dass Stuckrad-Barre dies ganz ohne Argumente getan hätte. Er hatte immer ein Auge für die Schwachpunkte von Popmusikern, denen damals fast ausschließlich sein Interesse galt, für Eitelkeiten, künstlerische und altersmäßige Angemessenheiten, kurz: für die Frage, ob jemand, wie man so sagt, "in Würde altert". Dass er das selbst noch nicht gelernt hat, ist eine Tatsache, der wir "Panikherz" verdanken, eine ausgesprochen egomanische, aber nur gegen sich selbst rücksichtslose, gegenüber allen anderen eher milde, gerechte oder geradezu liebevolle Erzählung. Was Lindenberg betrifft, so wird der Leser, der ein Normalverhältnis zu ihm unterhält, schnell feststellen, dass Stuckrad-Barre es in dieser Hinsicht übertreibt, wie man überhaupt fragen kann, was ausgerechnet diesen Sänger, der gewiss etwas geleistet hat, aber die vergangenen fünfundzwanzig Jahre nur noch betrunken und undurchsichtig vor sich hin nuschelt, so zum Helden prädestiniert.
Weniger eine Geschmacksfrage ist, was man davon halten soll, wenn ein Suchtkranker so dermaßen viel verbrannte Erde hinterlässt. "Es kenne mich die Welt, auf dass sie mir verzeihe"? Man ist geneigt, an den Ausspruch August von Platens zu denken. Denn tatsächlich erschließt sich manches aus Stuckrad-Barres Werdegang und seinem bisweilen fast schnöselig wirkenden Gehabe nun doch ganz gut: Viel Unsicherheit war dabei im Spiel, dazu der unbedingte Wille, "dazuzugehören", den Stars so dicht wie möglich auf den Fersen zu sein, ja im Grunde auch so ein Leben zu führen.
Das ist ihm, jedenfalls gemessen am Suchtverhalten und den vielen Abstürzen, gelungen. Folglich muss dieser Wille ungeheure Kräfte aktiviert haben, nur, dass sie sich rasch gegen den Autor selbst richteten. An einer Stelle, die man als so rührend wie alarmierend empfindet, legt der WDR-Moderator Friedrich Küppersbusch ihm die Hand auf die Schulter und sagt: "Junge, du hast ganz schön viel Energie."
Mit Leichtigkeit trägt es ihn fort aus dem norddeutschen Pfarrhaus, dem er entstammt. Die gewissenhaften, durchaus an Weltverbesserung interessierten Eltern sind dermaßen alternativ, dass er sich schon als Kind nach Oberflächlichkeit sehnt: Markenkleidung, Nutella, Unterhaltungsmusik (statt Klassik), Urlaub im Süden (statt Wandern), überhaupt nach allen Versatzstücken, welche die damals noch in vollem Ernst so kritisierte "Konsumgesellschaft" bereithielt. Aber Stuckrad-Barre reitet auf dieser Herkunft nicht herum, er konturiert sie mit wenigen Strichen und erspart einem langweilige Details. Sein Sinn für Tempo und Dynamik, den er mit der Lektüre von Hunter S. Thompson und Jörg Fauser geschärft haben dürfte, ist bemerkenswert.
Mit Einfallsreichtum und Mut gelingt es dem Außenseiter, der von der Klassenschönen geschnitten wird, für die Abiturfeier eine Punkband anzuheuern. Von da an geht alles sehr schnell: Praktikum bei der "taz", Redakteur beim deutschen "Rolling Stone", Referent bei Küppersbusch, Gagschreiber für Harald Schmidt - dies alles absolviert er mit einem für sein damaliges Alter bemerkenswertem Durchblick und der Hartnäckigkeit eines Groupies. Und er schildert es, von einigen wenigen Erklärungen zu allzu bekannten Phänomenen abgesehen, ausgesprochen kurzweilig, pointiert und mit der Selbstironie eines "Hein vom Dorf", der weiß, dass er mit noch so energischen Vorstößen in großstädtisch-glamouröse Sphären seine Herkunft nicht abschütteln kann. Das ist gar nicht so weit weg vom schnörkellosen Ton entfernter Verwandter wie Heinz Strunk oder Walter Kempowski.
Den Kopf hat er voller Ideen, aus denen später immer großspurigere "Projekte" werden, die er den Leuten aufschwatzt, und das Geld dürfte dafür reichlich geflossen sein, ohne dass Stuckrad-Barre hier ins Detail ginge. Vielleicht hat er da schon den Überblick verloren oder wollte gar keinen haben. Als seine ersten beiden Romane, "Soloalbum" und "Livealbum", die man immer noch gerne liest, 1998/99 erscheinen, ist er selbst ein Popstar, das Genre heißt ja "Popliteratur". Es ist sympathisch, dass Stuckrad-Barre von diesen und den folgenden Büchern ("Remix" und "Blackbox") kaum ein Wort sagt und noch nicht einmal deren Titel erwähnt. In den späten Neunzigern stand er, mit noch nicht einmal 25 Jahren, auf dem Höhepunkt in seiner Karriere.
Denn danach kommt der Abstieg, vor allem in Form von Kokain, das er erstmals mit dem amerikanischen Schriftsteller Bret Easton Ellis, auch so einem Meister kalter Pracht, einnimmt. Stuckrad-Barre beschreibt die Räusche und Ernüchterungen, den kalten Schweiß der Sucht, die Klinikaufenthalte und die dauernden Rückfälle ohne Zuhilfenahme von Psychologie, ohne Ausflüchte. Es geht ihm nur um das, was er tut und lässt, wobei die wiederkehrenden Verhaltensmuster selbst nach Hunderten von Seiten nicht ermüden. Immer wieder umkreist Stuckrad-Barre dabei den Kern seiner zwangsneurotischen Persönlichkeit: Unsicherheit, gepaart mit Geltungsdrang; Erlebnishunger, gepaart mit einem Ruhebedürfnis, dem er nur mit chemischer Hilfe nachkommen kann, die alle Nerven betäubt und das Denken abschaltet.
In der eigentümlichen Mischung aus Kurzweiligkeit und einer Selbstkritik, die das Ergebnis seiner mühsam wiedergewonnenen Nüchternheit, vielleicht auch Reue sein muss, liegt die eigentliche Leistung; darin und in dem noblen, diskreten Ton über seine Eltern und die drei Geschwister. Das Bekenntnis zur Familie, die ihn lange nicht geschert hat, kommt so überraschend wie glaubwürdig.
Bis hierhin ist es ein beeindruckendes, wenn auch naturgemäß extrem exhibitionistisches Buch. Aber dann stockt es plötzlich, Besinnung tritt ein. Stuckrad-Barre ist - das muss eine gewaltige Energieleistung gewesen sein - clean und trocken. Er treibt sich in Los Angeles herum, wo er das alles geschrieben hat, geht mit Thomas Gottschalk ins Brian-Wilson-Konzert, verabschiedet sich von seinem todkranken Freund Helmut Dietl und denkt ansonsten pausenlos über seine Helden nach. Passieren tut nichts mehr. Aber die Reflexion, zu der Stuckrad-Barre sich jetzt genötigt sieht, ist weniger seine Stärke. Die Kultur- und Medienkritik, zu der er sich aufschwingt, ist doch sehr von der Stange: Leute, die nur noch fotografieren, statt etwas zu erleben; das Altern der Popkultur und ihrer Protagonisten; das "Handgemachte" in der Musik als "Authentizitätskitsch"; die Beach Boys, die in Wahrheit wasserscheu waren - man hat das schon tausendmal gehört und wundert sich, wie dieser so auf Originalität erpichte Autor überhaupt noch davon anfangen mag.
Selbstzufriedenheit tritt ein - dieser Eindruck dürfte kaum beabsichtigt gewesen sein. Einige Fragen hätte man noch an ihn: Können die Ironiker, auf die er so große Stücke hält (Harald Schmidt, David Letterman, Bret Easton Ellis), überhaupt "Helden" sein? Und muss der bei Lindenberg abgeschaute und in großem Stil nachgemachte Dauerrausch zur "Haltung" hochgelogen werden, oder hätte es das Eingeständnis einer gewissen Haltlosigkeit nicht auch getan?
Schließlich, eine Stelle, die eine Art Sollbruchstelle ist und den Verdacht nahelegt, dass Stuckrad-Barre manchmal einfach auf dem falschen Dampfer ist: Zuletzt hört er die Band Blur. Der Sänger singt, dass Liebe das Allergrößte ist: "Und ja, dann ist Popmusik auf ihrer höchsten Stufe, wenn ein solcher Satz nicht als klebrige Schlagerformel versickert." Der Größenwahn, der ihn sich im Genie Brian Wilson narzisstisch spiegeln lässt, sei ihm zugestanden. Aber dass er sich zu guter Letzt über den Schlager erheben muss, steht ihm nicht gut zu Gesicht. Vom Recht auf Betrogenwerden, von Weltflucht müsste er inzwischen das eine oder andere begriffen haben. Stuckrad-Barre ist damit auf der niedrigsten Stufe angekommen, sein großes Buch hat einen auffälligen Kratzer.
EDO REENTS.
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Panikherz".
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 576 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
An der Autobiografie des Popliteraten Benjamin von Stuckrad-Barre beeindruckt den Rezensenten Klaus Bittermann vor allem eines: Wie es dem Autor gelingt, seine jahrelange Abhängigkeit von Alkohol und Kokain mitsamt ihren Auswirkungen nachvollziehbar zu beschreiben. Stuckrad-Barre bleibt dabei nach Ansicht des Kritikers "distanziert, analytisch, erscheint nie mitleidig", schafft es aber gleichzeitig, Bittermann die Sucht begreifbar zu machen. Die Fähigkeit, sein Publikum zu unterhalten, beherrscht Stuckrad-Barre wie kaum ein anderer, findet Bittermann. Auch deshalb sei das Buch reich an Höhepunkten. Besonders angetan haben es dem Rezensenten die Auslassungen über ein angstbesetztes Klassentreffen, zu dem Stuckrad-Barre eingeladen war. Auch die enge Freundschaft des Autors zu Udo Lindenberg hebt der Rezensent hervor. Alles in allem: "ein großes Buch, ein Buch, das bleiben wird", versichert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Damit das vorweg klar ist: Das Buch ist geil.« spiegel.de
Trockengebiete
In seinem neuen Buch „Panikherz“
schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre über
seine Drogensucht und seine Rekonvaleszenz
im Hollywood-Hotel Château Marmont
VON ANDRIAN KREYE
Es ist eine hübsche vorgezogene Pointe, dass die Aufregung um Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Panikherz“ schon vor dem Erscheinen keine rechte Richtung findet. Um genau dieses Ungreifbare ging es ja der jungen deutschen Literatur in den späten Neunzigerjahren, als Schriftsteller wie Christian Kracht, Judith Hermann oder Florian Illies vorübergehend wie Popstars behandelt wurden. Sie konnten mit Provokation kokettieren, mit Gefühligkeit oder Deutungshoheiten, ohne konsequent eine Haltung entwickeln zu müssen. Dafür beherrschten sie Ironie, Stil und Pose in Perfektion.
Für ihre Leser waren diese Autoren aber nicht nur „eine neue Generation, die lustvoll erzählt“, wie es im Spiegel damals hieß. Sie waren mit Pop aufgewachsen. Die Last der Geschichte war für sie Schulstoff. Mit der spröden Nachkriegsliteratur konnten sie nichts anfangen. Deswegen war die viel gescholtene Oberflächlichkeit dieser neuen Literatur ein Befreiungsmoment aus den Innerlichkeits- und Moralzwängen, die nach 1968 zum Dogma geworden waren. Und keiner inszenierte sich damals so konsequent als Popstar wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Seine Bücher hießen „Soloalbum“ (1998), „Live-Album“ (1999) oder „Remix“ (1999), er gab Lesungen in Konzerthallen und pflegte einen beachtlichen Drogenkonsum.
Das war nicht nur Pose. Nur wenige konnten so scharf beobachten und formulieren wie er. Seine Texte verhandelten vielleicht Banalitäten, waren oft egomanisch. Aber es ging nicht um Inhalte. Es ging um die Zuspitzung eines Sprachgefühls und einer Ironie, die so viele teilten und so wenige beherrschten. Dann kam der Absturz.
Über all das hat er nun nach jahrelanger Pause ein Buch geschrieben. In der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ stritten sie neulich darüber. Maxim Biller fand das Buch „moralisierend“ und „ekelhaft“, Eva Menasse „herzanrührend“ und „witzig“. Im Spiegel porträtierte Thomas Hüetlin Stuckrad-Barre auf vier Seiten wie einen Popstar. Die Welt hob ihn mit einem Foto auf den Titel und schrieb von „seinem neuen Roman“. Sie hatten alle recht. Nur mit dem Roman lagen sie etwas schief. „Panikherz“ ist ein Krankenbericht. Oder um im Pop-Genre zu bleiben, ein „Confessional Album“, wie man die musikalischen Offenbarungen nennt, mit denen sich Stars aus den Trockengebieten der Rekonvaleszenz zurückmelden.
Es war allerdings konsequent, Stuckrad-Barre auf dem Welt-Titel zu zeigen. Seit 2008 ist er beim Springer-Verlag unter Vertrag. Und er ist dort nicht nur irgendein Autor. Er war eine der ersten und eine der größten Trophäen einer Charme-Offensive, bei der Springer sich mit Literaten und Popjournalisten eine Berlin-Mitte-Hipster-Aura zusammenkaufte, mit der er seinen Ruf als Verlag der Witwenschüttler und Revanchisten hinter sich lassen wollte. Stuckrad-Barre war da eine Leuchtturmfigur, die schon mit ihrem Namen dafür sorgte, dass es plötzlich schick war, für Springerblätter zu schreiben. Eine Zeit lang lieferte er auch seine besten Texte für die Zeitungen und Zeitschriften dort.
Für Stuckrad-Barre selbst war das mit Springer, wie er mal erzählte, eine späte Trotzreaktion gegen seine Herkunft aus einer linksliberal bewegten Pastorenfamilie in der Provinz. Wenn man die ersten Kapitel von „Panikherz“ liest, ahnt man, wie es seinen Eltern gehen musste, als er zum 100. Geburtstag des Verlagsgründers ein Theaterstück über selbigen schrieb, das bei der Jubelfeier aufgeführt wurde. Aber wie soll man auch eine Elterngeneration provozieren, die einen Exklusivanspruch auf das Rebellentum hat?
Springer kommt in „Panikherz“ allerdings nicht vor. Das Elternhaus sehr wohl. Gleich zu Beginn beschreibt er die Betulichkeit der bildungsbürgerlichen Eltern mit einer Verachtung, die wohl auf eine Fährte führen soll. Er verrennt sich allerdings schon auf den ersten Seiten in Manierismen, die er über die gesamte Länge des Buches verteilt. Zum einen streut er wie manisch Textzeilen seines Idols und späteren Freundes Udo Lindenberg ein. Das gerät rasch zur kryptischen Selbstreferenzialität. Zum anderen konstruiert er mit Versalien, Gänsefüßchen, Gedankenstrichen und Ausrufezeichen ein Satzbild permanenter Empörung, das in einer SMS funktioniert, aber nicht auf 564 Seiten.
Nötig hätte er die Kunstgriffe nicht. Das zeigt sich in den Beschreibungen seiner Kindheit und Jugend. Wenn man die freudlosen Mahlzeiten in solchen Pastorenfamilien erlebt hat, wenn man die Beklemmung deutscher Klein- und Mittelstädte kennt, erkennt man auch heute noch, wie enorm scharfStuckrad-Barre beobachten und beschreiben kann. Das kann unerbittlich sein. Oder auch sehr lustig.
Gleich auf den ersten fünf Seiten steht eine Szene mit Udo Lindenberg bei der amerikanischen Einreisebehörde am Flughafen von Los Angeles, die auch in einer amerikanischen Comedy-Serie funktionieren würde. Und es gibt so schöne Passagen wie die Beschreibung des Hotels Château Marmont in West Hollywood, in dem er sich vom Entzug erholt.
Fährten gibt es viele in diesem Buch. Das Elternhaus. Die „Lichter der Großstadt“-Sentimentalität. Die bedingungslose Verehrung prominenter Ersatzväter wie Udo Lindenberg, Helmut Dietl und Thomas Gottschalk. Und alle Fährten führen in den Abgrund.
Nun sind Drogenbücher ein besonders schwieriges Genre. Zum einen, weil sich der Autor nicht schonen darf, um glaubwürdig zu bleiben. Zum anderen, weil es eigentlich nur zwei Blaupausen für Drogenbücher gibt. Die eine ist Hunter S. Thompsons „Angst und Schrecken in Las Vegas“, die andere Christiane F.s „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die meisten, die sich an das Thema wagen, wären gerne Thompson, der den Rausch als letztgültigen Akt der Auflehnung interpretierte. Doch das wird immer schwieriger, weil Drogen längst keine Kultur mehr sind, sondern nur noch eine epidemische Krankheit.
Auch „Panikherz“ leidet an den notorischen Schwächen des Genres, am Selbstmitleid und an der Überschätzung des Autors, wie viele Details und Wegstrecken er den Lesern zumuten kann, ohne sie zu langweilen.
Und wie alle Bücher über schwere Krankheiten und Traumata würde man auch „Panikherz“ gerne der objektiven Bewertung entziehen, weil sich da doch jemand traut, seine schwächsten Momente zu beschreiben und dann auch noch Schlüsse daraus zieht wie: „Ich selbst kannte mich einfach zu gut, um mich zu mögen.“ Oder die bittere Erkenntnis: „Die vielleicht deprimierendste Eigenschaft einer Drogensucht ist, dass sie zu einem wirklich spießigen Leben führt. Wenn wir Spießertum definieren als eine totale, zwanghafte Regelmäßigkeit, die nichts so fürchtet wie Varianten und Abwechslung.“
Aber Benjamin von Stuckrad-Barre ist eben kein Popstar, der über seinen Absturz schreibt, sondern ein Autor, der es vor fast zwei Jahrzehnten fertiggebracht hat, einen neuen Ton zu finden, der vielen viel bedeutete. Und es gibt neben den Manierismen einige Gründe, warum das in „Panikherz“ nur punktuell gelingt.
Zum einen findet er keine Linie. Das Buch hangelt sich von Satz zu Satz, von Szene zu Szene, die einzeln oft brillant sind, als Ganzes aber nicht vom Fleck kommen. Das Ungreifbare wird zur Unentschlossenheit. Zum anderen hat ihn das Schicksal des Pioniers ereilt. Zu viele Epigonen haben versucht, seinen Ton und seinen Blick zu imitieren. Die Blätter und Blogs sind voll von Autoren, die glauben, ein „ey Mann“-Ton und ein wenig Hipster-Ressentiment reichten schon, um sich als literarischer Journalist zu qualifizieren. In den sozialen Netzwerken ist das schließlich zur hohlen Jagd nach Pointen geworden.
Er selbst beschreibt das in seinem Buch „Panikherz“ sogar am besten, und zwar in einer Szene, in der er hört, wie ein Fremdenführer vor seinem Rekonvaleszenzhotel Château Marmont den Touristen über Mikro von all den Stars erzählt, die dort gestorben sind. „Diese Bustouren sind eine Verdinglichung der unangenehmsten Internet-Begleiterscheinung, dieses Hähähä, diese Freude an fremder, bestenfalls berühmter Leute Verfehlungen, Verlusten und Peinlichkeiten, und die sich darüber ergießende Ressentiment-Gülle, das Digital-Tourette der mit Witzelzwang-Pseudonym operierenden Schreibtisch-Mut-Deppen. Die Suchbegriffshitparaden sind Rankings aktueller Schadenfreude-Adressen.“ So aber wird Ironie zum Anachronismus.
Viele Fährten legt der Autor
in seinem Buch, aber alle führen
sie in den Abgrund
Was einst brillant war,
ist durch die Epigonen zur hohlen
Jagd nach Pointen geworden
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 576 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Fast wie ein Popstar: Benjamin von Stuckrad-Barre.
Foto: Julia Zimmermann
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In seinem neuen Buch „Panikherz“
schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre über
seine Drogensucht und seine Rekonvaleszenz
im Hollywood-Hotel Château Marmont
VON ANDRIAN KREYE
Es ist eine hübsche vorgezogene Pointe, dass die Aufregung um Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Panikherz“ schon vor dem Erscheinen keine rechte Richtung findet. Um genau dieses Ungreifbare ging es ja der jungen deutschen Literatur in den späten Neunzigerjahren, als Schriftsteller wie Christian Kracht, Judith Hermann oder Florian Illies vorübergehend wie Popstars behandelt wurden. Sie konnten mit Provokation kokettieren, mit Gefühligkeit oder Deutungshoheiten, ohne konsequent eine Haltung entwickeln zu müssen. Dafür beherrschten sie Ironie, Stil und Pose in Perfektion.
Für ihre Leser waren diese Autoren aber nicht nur „eine neue Generation, die lustvoll erzählt“, wie es im Spiegel damals hieß. Sie waren mit Pop aufgewachsen. Die Last der Geschichte war für sie Schulstoff. Mit der spröden Nachkriegsliteratur konnten sie nichts anfangen. Deswegen war die viel gescholtene Oberflächlichkeit dieser neuen Literatur ein Befreiungsmoment aus den Innerlichkeits- und Moralzwängen, die nach 1968 zum Dogma geworden waren. Und keiner inszenierte sich damals so konsequent als Popstar wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Seine Bücher hießen „Soloalbum“ (1998), „Live-Album“ (1999) oder „Remix“ (1999), er gab Lesungen in Konzerthallen und pflegte einen beachtlichen Drogenkonsum.
Das war nicht nur Pose. Nur wenige konnten so scharf beobachten und formulieren wie er. Seine Texte verhandelten vielleicht Banalitäten, waren oft egomanisch. Aber es ging nicht um Inhalte. Es ging um die Zuspitzung eines Sprachgefühls und einer Ironie, die so viele teilten und so wenige beherrschten. Dann kam der Absturz.
Über all das hat er nun nach jahrelanger Pause ein Buch geschrieben. In der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ stritten sie neulich darüber. Maxim Biller fand das Buch „moralisierend“ und „ekelhaft“, Eva Menasse „herzanrührend“ und „witzig“. Im Spiegel porträtierte Thomas Hüetlin Stuckrad-Barre auf vier Seiten wie einen Popstar. Die Welt hob ihn mit einem Foto auf den Titel und schrieb von „seinem neuen Roman“. Sie hatten alle recht. Nur mit dem Roman lagen sie etwas schief. „Panikherz“ ist ein Krankenbericht. Oder um im Pop-Genre zu bleiben, ein „Confessional Album“, wie man die musikalischen Offenbarungen nennt, mit denen sich Stars aus den Trockengebieten der Rekonvaleszenz zurückmelden.
Es war allerdings konsequent, Stuckrad-Barre auf dem Welt-Titel zu zeigen. Seit 2008 ist er beim Springer-Verlag unter Vertrag. Und er ist dort nicht nur irgendein Autor. Er war eine der ersten und eine der größten Trophäen einer Charme-Offensive, bei der Springer sich mit Literaten und Popjournalisten eine Berlin-Mitte-Hipster-Aura zusammenkaufte, mit der er seinen Ruf als Verlag der Witwenschüttler und Revanchisten hinter sich lassen wollte. Stuckrad-Barre war da eine Leuchtturmfigur, die schon mit ihrem Namen dafür sorgte, dass es plötzlich schick war, für Springerblätter zu schreiben. Eine Zeit lang lieferte er auch seine besten Texte für die Zeitungen und Zeitschriften dort.
Für Stuckrad-Barre selbst war das mit Springer, wie er mal erzählte, eine späte Trotzreaktion gegen seine Herkunft aus einer linksliberal bewegten Pastorenfamilie in der Provinz. Wenn man die ersten Kapitel von „Panikherz“ liest, ahnt man, wie es seinen Eltern gehen musste, als er zum 100. Geburtstag des Verlagsgründers ein Theaterstück über selbigen schrieb, das bei der Jubelfeier aufgeführt wurde. Aber wie soll man auch eine Elterngeneration provozieren, die einen Exklusivanspruch auf das Rebellentum hat?
Springer kommt in „Panikherz“ allerdings nicht vor. Das Elternhaus sehr wohl. Gleich zu Beginn beschreibt er die Betulichkeit der bildungsbürgerlichen Eltern mit einer Verachtung, die wohl auf eine Fährte führen soll. Er verrennt sich allerdings schon auf den ersten Seiten in Manierismen, die er über die gesamte Länge des Buches verteilt. Zum einen streut er wie manisch Textzeilen seines Idols und späteren Freundes Udo Lindenberg ein. Das gerät rasch zur kryptischen Selbstreferenzialität. Zum anderen konstruiert er mit Versalien, Gänsefüßchen, Gedankenstrichen und Ausrufezeichen ein Satzbild permanenter Empörung, das in einer SMS funktioniert, aber nicht auf 564 Seiten.
Nötig hätte er die Kunstgriffe nicht. Das zeigt sich in den Beschreibungen seiner Kindheit und Jugend. Wenn man die freudlosen Mahlzeiten in solchen Pastorenfamilien erlebt hat, wenn man die Beklemmung deutscher Klein- und Mittelstädte kennt, erkennt man auch heute noch, wie enorm scharfStuckrad-Barre beobachten und beschreiben kann. Das kann unerbittlich sein. Oder auch sehr lustig.
Gleich auf den ersten fünf Seiten steht eine Szene mit Udo Lindenberg bei der amerikanischen Einreisebehörde am Flughafen von Los Angeles, die auch in einer amerikanischen Comedy-Serie funktionieren würde. Und es gibt so schöne Passagen wie die Beschreibung des Hotels Château Marmont in West Hollywood, in dem er sich vom Entzug erholt.
Fährten gibt es viele in diesem Buch. Das Elternhaus. Die „Lichter der Großstadt“-Sentimentalität. Die bedingungslose Verehrung prominenter Ersatzväter wie Udo Lindenberg, Helmut Dietl und Thomas Gottschalk. Und alle Fährten führen in den Abgrund.
Nun sind Drogenbücher ein besonders schwieriges Genre. Zum einen, weil sich der Autor nicht schonen darf, um glaubwürdig zu bleiben. Zum anderen, weil es eigentlich nur zwei Blaupausen für Drogenbücher gibt. Die eine ist Hunter S. Thompsons „Angst und Schrecken in Las Vegas“, die andere Christiane F.s „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die meisten, die sich an das Thema wagen, wären gerne Thompson, der den Rausch als letztgültigen Akt der Auflehnung interpretierte. Doch das wird immer schwieriger, weil Drogen längst keine Kultur mehr sind, sondern nur noch eine epidemische Krankheit.
Auch „Panikherz“ leidet an den notorischen Schwächen des Genres, am Selbstmitleid und an der Überschätzung des Autors, wie viele Details und Wegstrecken er den Lesern zumuten kann, ohne sie zu langweilen.
Und wie alle Bücher über schwere Krankheiten und Traumata würde man auch „Panikherz“ gerne der objektiven Bewertung entziehen, weil sich da doch jemand traut, seine schwächsten Momente zu beschreiben und dann auch noch Schlüsse daraus zieht wie: „Ich selbst kannte mich einfach zu gut, um mich zu mögen.“ Oder die bittere Erkenntnis: „Die vielleicht deprimierendste Eigenschaft einer Drogensucht ist, dass sie zu einem wirklich spießigen Leben führt. Wenn wir Spießertum definieren als eine totale, zwanghafte Regelmäßigkeit, die nichts so fürchtet wie Varianten und Abwechslung.“
Aber Benjamin von Stuckrad-Barre ist eben kein Popstar, der über seinen Absturz schreibt, sondern ein Autor, der es vor fast zwei Jahrzehnten fertiggebracht hat, einen neuen Ton zu finden, der vielen viel bedeutete. Und es gibt neben den Manierismen einige Gründe, warum das in „Panikherz“ nur punktuell gelingt.
Zum einen findet er keine Linie. Das Buch hangelt sich von Satz zu Satz, von Szene zu Szene, die einzeln oft brillant sind, als Ganzes aber nicht vom Fleck kommen. Das Ungreifbare wird zur Unentschlossenheit. Zum anderen hat ihn das Schicksal des Pioniers ereilt. Zu viele Epigonen haben versucht, seinen Ton und seinen Blick zu imitieren. Die Blätter und Blogs sind voll von Autoren, die glauben, ein „ey Mann“-Ton und ein wenig Hipster-Ressentiment reichten schon, um sich als literarischer Journalist zu qualifizieren. In den sozialen Netzwerken ist das schließlich zur hohlen Jagd nach Pointen geworden.
Er selbst beschreibt das in seinem Buch „Panikherz“ sogar am besten, und zwar in einer Szene, in der er hört, wie ein Fremdenführer vor seinem Rekonvaleszenzhotel Château Marmont den Touristen über Mikro von all den Stars erzählt, die dort gestorben sind. „Diese Bustouren sind eine Verdinglichung der unangenehmsten Internet-Begleiterscheinung, dieses Hähähä, diese Freude an fremder, bestenfalls berühmter Leute Verfehlungen, Verlusten und Peinlichkeiten, und die sich darüber ergießende Ressentiment-Gülle, das Digital-Tourette der mit Witzelzwang-Pseudonym operierenden Schreibtisch-Mut-Deppen. Die Suchbegriffshitparaden sind Rankings aktueller Schadenfreude-Adressen.“ So aber wird Ironie zum Anachronismus.
Viele Fährten legt der Autor
in seinem Buch, aber alle führen
sie in den Abgrund
Was einst brillant war,
ist durch die Epigonen zur hohlen
Jagd nach Pointen geworden
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 576 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Fast wie ein Popstar: Benjamin von Stuckrad-Barre.
Foto: Julia Zimmermann
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