Carl-Christian Elze sucht in seinen Gedichten die großen Schauplätze menschlicher Erfahrung auf und nimmt die Leser_innen mit auf diese Expedition in die menschliche Existenz. Es ist ein Kampf zwischen Angst und Zuversicht, zwischen Panik und Produktion, zwischen Glauben und (Ver)Zweifeln. "panik/paradies" eröffnet uns Leser_innen ein überbordendes Spektrum an Auseinandersetzungen: Kindheit und Kindheitserinnerung, Geschichte und wie wir sie erzählen, tradiertes Wissen und reflektierte Kritik, Politik und ihre Auswirkung auf unser Selbstbild und die Bilder, die wir von anderen haben. "panik/paradies" nimmt uns mit in die extremen Kippmomente von Empfindungen, wo sie umschlagen von Faszination zu Verachtung, von Begehren zu Langeweile, von Liebe zu Gleichgültigkeit. "so viel falsches und gutes in einem. / heilig heillos verpackt. was überwiegt? / nichts bleibt in der schwebe auf dauer.", schreibt Elze und meint damit nichts weniger als die Menschheit.Präzise, aber nie pedantisch -spielerisch, aber nie verspielt - wütend, aber nie verachtungsvoll - voller Zuneigung, aber nie verknallt. Elzes Gedichte sind Spiegel unserer Empfindungen beim Lesen: Wie begegnen wir dem Schmerz, wie dem Tod?, wie der Trauer?, wie dem immer wiederkehrenden Gefühl der Ohnmacht, der Angst. Es muss doch eine Sprache geben, die die existentiellen Fragen zu fassen vermag? Terzinen, Sonette, Balladen, Zyklen, Listen, Gebete, Beschwörungen - Elze breitet das Besteck des Dichters in fast verzweifelter Vielfalt aus. Gerade in der Vielstimmigkeit, die im Band hörbar und spürbar wird, liegt eine Möglichkeit, eine Sagbarkeit. Es ist Elzes unverwechselbarer Ton, sein Flow, sein Atem."panik/paradies" ist nichts weniger als eine unbedingte, eine schonungslose Hingabe an die Existenz und an die scheinbar unendlichen Fragen, die sie aufwirft.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Kraftvoll und wuchtig kommen die neuen Gedichte von Carl-Christian Elze über den desaströsen Zustand der Welt daher, befindet Rezensent Björn Hayer: Angst und Sorge bestimmen die Gedichte, etwa wenn es um Putin geht oder um den rauen Umgangston in sozialen Medien, in denen die "worte wie säuren" wirken. Im Stil der Décadence-Lyrik schreibt Elze vom "dreckloch von welt" und regt Hayer mit seinen Poemen trotzdem dazu an, nach Überbleibseln des Guten zu suchen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2024Großmutters Frisur sitzt
Carl-Christian Elzes leichthändige Gedichte
Mysophobie ist die Angst vor Ansteckung, die Angst vor Schmutz, vor Bakterien und Krankheitskeimen. Dass auch achtjährige Kinder darunter leiden können, ist kaum zu glauben. Im Eröffnungszyklus seines neuen Gedichtbandes macht Carl-Christian Elze einen solchen Fall aber schmerzhaft anschaulich: "das kind wäscht sich / wäscht sich jeden einzelnen finger / wäscht sich mehrmals jeden einzelnen finger / eine minute, zwei minuten, schrubbt sich / seine rauen rissigen hände wie ein großer chirurg."
Die Angst beherrscht das ganze Leben des Kindes: Nie fasst es die Türklinke mit den Händen an, selbst die eigene Hose auszuziehen oder die vermeintlich schmutzigen Schnürsenkel zuzubinden stellt eine unüberwindliche Hürde dar. Die Haut ist nicht durchlässig, sagt der Vater, ich pass auf dich auf, sagt er, doch auch eine Therapeutin kann dem Kind, dem Vater, der Familie nicht helfen: "deine angst ist eine drecksau, schreit der vater / ich will ihr die fresse einschlagen, schreit der vater / [...] / die therapeutin ist scheißdreck, wimmert der vater / nichts hilft. nichts."
1974 in Berlin geboren, in Leipzig aufgewachsen und dort lebend, stand Carl-Christian Elze mit seinem Debütroman "Freudenberg" vor zwei Jahren auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. "panik/paradies" ist sein inzwischen siebter Gedichtband, und tatsächlich zeichnet ihn eine reife Souveränität aus. So vielfältig die Themen, so frei verfügt Elze über Formen und Sprechhaltungen. Mal gereimt, meist ungereimt, mal metrisch gebunden, meist frei im Rhythmus und doch immer auf den Punkt.
Ergreifend dabei ist nicht nur der Zyklus über das kranke Kind. Auch Nichthundefreunde werden ihr kaltes Herz vom Sterben eines kleinen, aus einem rumänischen Tierheim geretteten Hündchens rühren lassen: "jede nacht hör ich dich würgen / schalte das licht ein und stütz dich / deine augen zwei schlitze. // nur noch galle, die dich verlässt: / kleine aufgeschäumte pfützchen." Wie hier die Schlitze in den Pfützchen widerklingen, um später in einem gelbstichigen Grün zum vokalhellen Akkord zu finden, ist ebenso einfach wie wirkungsvoll.
Stark auch die "ballade vom king of karlstadt", einen pfälzischen Ahnen von Donald Trump, oder die Gedichte über einen Großvater, der an der V2 mitgebaut hat und nach dem Krieg für die Sowjetunion arbeiten musste, bevor er wieder in die jetzt DDR genannte Heimat reisen durfte: "großvaters comeback (rehabilitiert) / großmutters frisur (sitzt) / kocht für das schulkind / das immer noch flucht / (lieber auf russisch)."
Nicht zuletzt die Erfahrungen der Wende werden in "panik/paradies" thematisiert, das Gefühl des Jugendlichen, von den Wessis an die Wand geredet zu werden, die Entdeckung der drei "Blüten" des Westens (Pommesbude, Dönerbude, Burgerbude) und die Erinnerung an den sorgsam gehüteten Schatz aus Kinderzeiten: ein grellgelber flauschiger Tennisball - "westtier / seltnes fell".
Dass man in diesem ungeheuer reichhaltigen und umfangreichen Band nicht jeden Text gleichermaßen schätzen wird, liegt in der Natur der Sache. Nicht zuletzt die kuriosen Illustrationen von Nele Brönner aber heben ihn aus der (zugegeben überschaubaren) Menge neuerer Lyrikerscheinungen deutlich hervor. TOBIAS LEHMKUHL
Carl-Christian Elze:
"panik/paradies".
Mit Illustrationen von Nele Brönner.
Verlagshaus Berlin,
Berlin 2023. 212 S., geb., 22,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Carl-Christian Elzes leichthändige Gedichte
Mysophobie ist die Angst vor Ansteckung, die Angst vor Schmutz, vor Bakterien und Krankheitskeimen. Dass auch achtjährige Kinder darunter leiden können, ist kaum zu glauben. Im Eröffnungszyklus seines neuen Gedichtbandes macht Carl-Christian Elze einen solchen Fall aber schmerzhaft anschaulich: "das kind wäscht sich / wäscht sich jeden einzelnen finger / wäscht sich mehrmals jeden einzelnen finger / eine minute, zwei minuten, schrubbt sich / seine rauen rissigen hände wie ein großer chirurg."
Die Angst beherrscht das ganze Leben des Kindes: Nie fasst es die Türklinke mit den Händen an, selbst die eigene Hose auszuziehen oder die vermeintlich schmutzigen Schnürsenkel zuzubinden stellt eine unüberwindliche Hürde dar. Die Haut ist nicht durchlässig, sagt der Vater, ich pass auf dich auf, sagt er, doch auch eine Therapeutin kann dem Kind, dem Vater, der Familie nicht helfen: "deine angst ist eine drecksau, schreit der vater / ich will ihr die fresse einschlagen, schreit der vater / [...] / die therapeutin ist scheißdreck, wimmert der vater / nichts hilft. nichts."
1974 in Berlin geboren, in Leipzig aufgewachsen und dort lebend, stand Carl-Christian Elze mit seinem Debütroman "Freudenberg" vor zwei Jahren auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. "panik/paradies" ist sein inzwischen siebter Gedichtband, und tatsächlich zeichnet ihn eine reife Souveränität aus. So vielfältig die Themen, so frei verfügt Elze über Formen und Sprechhaltungen. Mal gereimt, meist ungereimt, mal metrisch gebunden, meist frei im Rhythmus und doch immer auf den Punkt.
Ergreifend dabei ist nicht nur der Zyklus über das kranke Kind. Auch Nichthundefreunde werden ihr kaltes Herz vom Sterben eines kleinen, aus einem rumänischen Tierheim geretteten Hündchens rühren lassen: "jede nacht hör ich dich würgen / schalte das licht ein und stütz dich / deine augen zwei schlitze. // nur noch galle, die dich verlässt: / kleine aufgeschäumte pfützchen." Wie hier die Schlitze in den Pfützchen widerklingen, um später in einem gelbstichigen Grün zum vokalhellen Akkord zu finden, ist ebenso einfach wie wirkungsvoll.
Stark auch die "ballade vom king of karlstadt", einen pfälzischen Ahnen von Donald Trump, oder die Gedichte über einen Großvater, der an der V2 mitgebaut hat und nach dem Krieg für die Sowjetunion arbeiten musste, bevor er wieder in die jetzt DDR genannte Heimat reisen durfte: "großvaters comeback (rehabilitiert) / großmutters frisur (sitzt) / kocht für das schulkind / das immer noch flucht / (lieber auf russisch)."
Nicht zuletzt die Erfahrungen der Wende werden in "panik/paradies" thematisiert, das Gefühl des Jugendlichen, von den Wessis an die Wand geredet zu werden, die Entdeckung der drei "Blüten" des Westens (Pommesbude, Dönerbude, Burgerbude) und die Erinnerung an den sorgsam gehüteten Schatz aus Kinderzeiten: ein grellgelber flauschiger Tennisball - "westtier / seltnes fell".
Dass man in diesem ungeheuer reichhaltigen und umfangreichen Band nicht jeden Text gleichermaßen schätzen wird, liegt in der Natur der Sache. Nicht zuletzt die kuriosen Illustrationen von Nele Brönner aber heben ihn aus der (zugegeben überschaubaren) Menge neuerer Lyrikerscheinungen deutlich hervor. TOBIAS LEHMKUHL
Carl-Christian Elze:
"panik/paradies".
Mit Illustrationen von Nele Brönner.
Verlagshaus Berlin,
Berlin 2023. 212 S., geb., 22,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main