Unter dem Schock der Bilder vom Attentat in New York fragen Ben Jellouns Kinder ihren Vater, ob sie Muslime sind, und sie sind voller Unruhe, ob man ihnen an der Schule ihre Religionszugehörigkeit vorwerfen könnte. Um sie zu beruhigen, erklärt der Autor ihnen, was der Islam ist. Er beginnt mit der Geschichte des Propheten Mohammed, seiner Kindheit in Arabien, seinem Erwachsenenleben bis zur Offenbarung durch den Erzengel Gabriel. Er erzählt von den Schwierigkeiten Mohammeds, seine Umgebung zu überzeugen, den Verfolgungen und seinem schließlichen Triumph. Mit dem Tod des Propheten setzt die Ausbreitung des Islam und die muselmanische Eroberung Ägyptens, Syriens, Mesopotamiens und Persiens ein. Er erzählt von den drei Jahrhunderten, in denen sich die arabisch-islamische Zivilisation auf ihrem Höhepunkt befand, zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, und er gibt Beispiele ihres Beitrags zur universellen Kultur: in Medizin, Astronomie, Philosophie, Physik, Mathematik, Architektur undLiteratur. Und er erzählt von der Epoche der kulturellen Symbiose zwischen Juden und Arabern in Andalusien, der Inquisition und Vertreibung von Juden und Muselmanen (1492) und vom Verfall der arabischen Welt, von Kolonisierung und Niedergang bis zur heutigen Situation. "Ich erzähle all das und beziehe mich dabei soweit wie möglich auf meine persönliche Erfahrung, mein Leben im Islam." Am Ende des Buches unterbreiten die Kinder einen Katalog von Begriffen, die der Autor erklärt und kommentiert (Fundamentalismus, Fatwa, Dschihad, Toleranz, Taliban, Märtyrer etc.). Das Buch hat die Form eines fiktiven Dialogs mit Kindern.
Drängende Fragen
"Hüte dich vor den Leuten, die vorgeben, auf alle Fragen der Menschheit eine Antwort zu haben. Die Fanatiker zum Beispiel behaupten, ihre Religion gäbe auf alles eine Antwort. Das ist unmöglich." Auf diese Art beantwortet der Autor Fragen, die nicht nur Heranwachsende an den Islam, seine Wurzeln, seine Geschichte und seine Ziele stellen. Zehn Aquarelle von Paul Klee ergänzen und illustrieren das Gespräch des Dichters mit seinen Kindern.
Tradition und Fortschritt
Tahar Ben Jelloun, ein in Paris lebender Marokkaner, setzt mit diesem Buch Gespräche fort, die unter dem Titel Papa, was ist ein Fremder? international zu einem Bestseller wurden. Der Autor verbreitet eine Botschaft des Verstehens und der Verständigung, wenn er etwa schreibt, man könne Mohammeds Botschaft achten, an Gott glauben und sich dennoch weiterentwickeln, sich an das moderne Leben anpassen, ohne den Glauben, seine Prinzipien und grundlegenden Werte aufzugeben. Das Umdenken müsse in arabischen und islamischen Schulen beginnen. In den Büchern dürfe nicht mehr als "normal" dargestellt werden, dass der Mann seine Frau schlage oder dass die Frau zu Hause bleibe, während der Mann arbeite.
Kirche und Staat
Ben Jelloun plädiert für eine strikte Trennung von Kirche und Staat, wie sie die Türkei als erstes islamisches Land vollzogen hat. Den gegenteiligen Weg schlug Imam Khomeini ein, der 1978 den Schah stürzte, eine islamische Republik ausrief und sagte: "Der Islam ist Politik oder er ist nichts". Tatsächlich regelt der Islam das Leben der Menschen auf eine direktere Weise, als es Christentum und Judentum tun. "Das öffnet Tür und Tor für Gewalt." Und wird ein Kampf im Namen des Islam ausgerufen, dann wird die in diesem Kampf angewendete Gewalt dem Islam auch dann zugeschrieben, wenn sie nicht durch ihn zu rechtfertigen ist.
(Mathias Voigt, literaturtest.de)
"Hüte dich vor den Leuten, die vorgeben, auf alle Fragen der Menschheit eine Antwort zu haben. Die Fanatiker zum Beispiel behaupten, ihre Religion gäbe auf alles eine Antwort. Das ist unmöglich." Auf diese Art beantwortet der Autor Fragen, die nicht nur Heranwachsende an den Islam, seine Wurzeln, seine Geschichte und seine Ziele stellen. Zehn Aquarelle von Paul Klee ergänzen und illustrieren das Gespräch des Dichters mit seinen Kindern.
Tradition und Fortschritt
Tahar Ben Jelloun, ein in Paris lebender Marokkaner, setzt mit diesem Buch Gespräche fort, die unter dem Titel Papa, was ist ein Fremder? international zu einem Bestseller wurden. Der Autor verbreitet eine Botschaft des Verstehens und der Verständigung, wenn er etwa schreibt, man könne Mohammeds Botschaft achten, an Gott glauben und sich dennoch weiterentwickeln, sich an das moderne Leben anpassen, ohne den Glauben, seine Prinzipien und grundlegenden Werte aufzugeben. Das Umdenken müsse in arabischen und islamischen Schulen beginnen. In den Büchern dürfe nicht mehr als "normal" dargestellt werden, dass der Mann seine Frau schlage oder dass die Frau zu Hause bleibe, während der Mann arbeite.
Kirche und Staat
Ben Jelloun plädiert für eine strikte Trennung von Kirche und Staat, wie sie die Türkei als erstes islamisches Land vollzogen hat. Den gegenteiligen Weg schlug Imam Khomeini ein, der 1978 den Schah stürzte, eine islamische Republik ausrief und sagte: "Der Islam ist Politik oder er ist nichts". Tatsächlich regelt der Islam das Leben der Menschen auf eine direktere Weise, als es Christentum und Judentum tun. "Das öffnet Tür und Tor für Gewalt." Und wird ein Kampf im Namen des Islam ausgerufen, dann wird die in diesem Kampf angewendete Gewalt dem Islam auch dann zugeschrieben, wenn sie nicht durch ihn zu rechtfertigen ist.
(Mathias Voigt, literaturtest.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Kein Schweinefleisch mehr in der Mensa
Niemals ratlos: Papa Ben Jelloun erklärt, wer die wahren und die falschen Muslime sind
Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Fez geboren, emigrierte 1961 nach Frankreich und erhielt 1987 den Prix Goncourt. Der Einwanderer aus dem Magrebh war von weißen Parisern vielfältig erniedrigt worden. Sensibel beschrieb er Mechanismen von Demütigung und Diskriminierung. Im Rassismus sah Jelloun eine Seelenkrankheit, die in Statusunsicherheit und Größenwahn gründe. Die latente Gewaltbereitschaft der Rassisten diene nur dazu, Ängste hinter symbolisch inszenierter Stärke zu verstecken. "Papa, was ist ein Fremder?" hieß sein Buch, mit dem er Kindern diese Mechanismen zu erklären versuchte. Es wurde ein Bestseller. Nun will Jelloun erneut Kindern aktuelle Konflikte erläutern, indem er auf fiktionale Fragen seiner Tochter antwortet.
Doch "Papa, was ist der Islam?" überzeugt nicht. Dies mag mit dem Gegenstand zu tun haben. Der Islam umfaßt eine Fülle religiöser Deutungskulturen, die Selbstverständnis und Lebensführung der Gläubigen unterschiedlich prägen. Belehrungen über den Islam drohen diese hohe innere Pluralität abzublenden. Zwar nimmt Jelloun die Binnenperspektive eines Frommen ein, der alten Gottesglauben mit modernen Freiheitsidealen verknüpfen möchte. Sein Reformislam ist tolerant, weltoffen und auf ein universalistisches Menschenrechtsethos verpflichtet. Die Frage nach der Entstehung und Verbreitung harter, fundamentalistischer Formen des Islam beantwortet Jelloun aber nur unzureichend.
Natürlich hat die kleine Tochter die schrecklichen Bilder des 11. September gesehen. In der Schule wird ihr seitdem gesagt, daß viele Muslime böse Menschen sind. Deshalb will sie keine Muslimin mehr sein und in der Schulmensa demnächst Schweinefleisch essen. Der Vater-Autor beantwortet die Fragen mit klaren Gut-Böse-Unterscheidungen. Schon bald kommt die Antwort, die den Grundtenor seiner kleinen dialogischen Islamkunde bildet: "Bevor du aufhörst, eine Muslimin zu sein, muß ich dir erst einmal erklären, daß die Bösen, von denen du redest, keine wahren Muslime sind." Beispiele aus der Religionsgeschichte des Islam sollen der Tochter zeigen: Allah ist gnädig, barmherzig und von großer Güte. Mit der Schariah, dem Religionsgesetz, will er allen Menschen zu einem moralischen Leben in wechselseitiger Rücksichtnahme und Solidarität verhelfen. Der edle Tugendlehrer Mohammed habe Bescheidenheit, Demut und Einfühlung vorgelebt. Die Terroristen des 11. September seien hingegen nur fanatische "Ignoranten, die die islamische Religion nicht kennen".
Mit der Unterscheidung zwischen wahrem, guten Islam und bösem gewalttätigen Pseudo-Islam macht Jelloun es sich leicht. Er kann nun darauf verzichten, die religiösen Motive der Attentäter zu deuten und möglichen Zusammenhängen zwischen islamischer Symbolwelt, Bereitschaft zum Selbstmord und Gewaltphantasien nachzugehen. Statt Analyse bietet er Moralismus. Jellouns Islam ist eine wunderbare Religion, die die Kulturen der Welt befruchtete und auch Nicht-Muslimen positive Werte vermittelt. Gewiß, es gibt auch Schattenseiten. Insgesamt muß man das "Wertvolle der islamischen Zivilisation" sehen. Der islamische Monotheismus habe einen vorbildlichen Habitus aktiver Weltoffenheit begründet, der nur dank böser Mißverständnisse einiger machtbesessener arabischer Herrscher in Unterdrückung und Selbstverabsolutierung umschlug.
Jelloun gelingen in der Erläuterung der Biographie des Propheten, der Frühgeschichte des Islam und der kulturellen Leistungen arabischer Gelehrter gute Beschreibungen. Doch was trägt die Erinnerung an die hochentwickelte islamische Gelehrsamkeit von einst dazu bei, die neue, keineswegs auf den Islam beschränkte religiöse Gewalt zu verstehen? Statt dessen entwirft der Autor das Bild eines pathologischen Niedergangs. Seit den Kreuzzügen und verstärkt durch den westlichen Kolonialismus kam es zu einer islamischen Regression, die sich in Freiheitsfeindschaft und Intoleranz zeigte. Jelloun deutet die enge Verbindung von Religion und Politik als eine Reaktion auf westliche Überfremdung. Gleichzeitig betont er eine absolute Geltung islamischer Glaubenswahrheiten. "Religionen vertragen weder Zweifel noch Lachen. Logik und Glauben sind unvereinbar", wird der Tochter erklärt. Warum dürfen Gläubige nicht lachen? Weshalb ist kein methodischer Zweifel erlaubt? Auch Jellouns menschenfreundlicher Reformislam ist eine irritierend hermetische Glaubenswelt. Der Glaube, der zu Demut verhelfen soll, birgt keine starken symbolischen Potentiale der Selbstbegrenzung. Strukturen der Differenzierung von Religion, Politik und Wissenschaft können dann nur von außen, nicht aber aus eigenen Gründen des Religiösen entwickelt werden.
Jelloun sieht in den Islamisten ungebildete Reaktionäre, die alte heilige Schriften wörtlich lesen. Ihre Aggressivität sei die Folge von Unwissenheit und bornierter Unkultur. Mit diesem Klischee vom dummen Fundamentalisten beweist Jelloun nur Mangel an religionsdiagnostischem Sachverstand. Wie kann religiöser Glaube in Wahn und Sehnsucht nach Erlösung in grausame Gewalt umschlagen? Dies ist eine Frage, auf die auch akademische Religionsexperten keine überzeugenden Antworten kennen. Wer kann schon ins Herz gebildeter junger Männer aus wohlhabenden Mittelstandsfamilien schauen, die lange unter uns lebten und dabei einen absoluten Haß auf uns entwickelten? Diese Gläubigen bereiten ihren wildfremden "Gottesfeinden" die Hölle, nur weil sie endlich im Himmel ihrer Erlösungshoffnungen sein wollen. Läßt sich dies Kindern verständlich machen?
Jellouns These, der 11. September habe mit dem Islam nichts zu tun und drücke nur die böse Ignoranz politisch Verführter aus, trägt nicht weit. Die Religionsgeschichten der Moderne waren immer auch geprägt von brutaler Gewalt. Auf der einen Seite die Guten, auf der anderen verführte Böse - dieses simple Muster offenbart wenig Erklärungskraft. Niemals läßt sich der Vater selbst in Frage stellen, und immer hat er schnelle, hölzerne Antworten parat. Hoffentlich stellen ihm seine Töchter bald Fragen, die ihn ratlos machen.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Tahar Ben Jelloun: "Papa, was ist der Islam?". Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2002. 96 S., geb., 12,-. Ab 12 J.
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Niemals ratlos: Papa Ben Jelloun erklärt, wer die wahren und die falschen Muslime sind
Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Fez geboren, emigrierte 1961 nach Frankreich und erhielt 1987 den Prix Goncourt. Der Einwanderer aus dem Magrebh war von weißen Parisern vielfältig erniedrigt worden. Sensibel beschrieb er Mechanismen von Demütigung und Diskriminierung. Im Rassismus sah Jelloun eine Seelenkrankheit, die in Statusunsicherheit und Größenwahn gründe. Die latente Gewaltbereitschaft der Rassisten diene nur dazu, Ängste hinter symbolisch inszenierter Stärke zu verstecken. "Papa, was ist ein Fremder?" hieß sein Buch, mit dem er Kindern diese Mechanismen zu erklären versuchte. Es wurde ein Bestseller. Nun will Jelloun erneut Kindern aktuelle Konflikte erläutern, indem er auf fiktionale Fragen seiner Tochter antwortet.
Doch "Papa, was ist der Islam?" überzeugt nicht. Dies mag mit dem Gegenstand zu tun haben. Der Islam umfaßt eine Fülle religiöser Deutungskulturen, die Selbstverständnis und Lebensführung der Gläubigen unterschiedlich prägen. Belehrungen über den Islam drohen diese hohe innere Pluralität abzublenden. Zwar nimmt Jelloun die Binnenperspektive eines Frommen ein, der alten Gottesglauben mit modernen Freiheitsidealen verknüpfen möchte. Sein Reformislam ist tolerant, weltoffen und auf ein universalistisches Menschenrechtsethos verpflichtet. Die Frage nach der Entstehung und Verbreitung harter, fundamentalistischer Formen des Islam beantwortet Jelloun aber nur unzureichend.
Natürlich hat die kleine Tochter die schrecklichen Bilder des 11. September gesehen. In der Schule wird ihr seitdem gesagt, daß viele Muslime böse Menschen sind. Deshalb will sie keine Muslimin mehr sein und in der Schulmensa demnächst Schweinefleisch essen. Der Vater-Autor beantwortet die Fragen mit klaren Gut-Böse-Unterscheidungen. Schon bald kommt die Antwort, die den Grundtenor seiner kleinen dialogischen Islamkunde bildet: "Bevor du aufhörst, eine Muslimin zu sein, muß ich dir erst einmal erklären, daß die Bösen, von denen du redest, keine wahren Muslime sind." Beispiele aus der Religionsgeschichte des Islam sollen der Tochter zeigen: Allah ist gnädig, barmherzig und von großer Güte. Mit der Schariah, dem Religionsgesetz, will er allen Menschen zu einem moralischen Leben in wechselseitiger Rücksichtnahme und Solidarität verhelfen. Der edle Tugendlehrer Mohammed habe Bescheidenheit, Demut und Einfühlung vorgelebt. Die Terroristen des 11. September seien hingegen nur fanatische "Ignoranten, die die islamische Religion nicht kennen".
Mit der Unterscheidung zwischen wahrem, guten Islam und bösem gewalttätigen Pseudo-Islam macht Jelloun es sich leicht. Er kann nun darauf verzichten, die religiösen Motive der Attentäter zu deuten und möglichen Zusammenhängen zwischen islamischer Symbolwelt, Bereitschaft zum Selbstmord und Gewaltphantasien nachzugehen. Statt Analyse bietet er Moralismus. Jellouns Islam ist eine wunderbare Religion, die die Kulturen der Welt befruchtete und auch Nicht-Muslimen positive Werte vermittelt. Gewiß, es gibt auch Schattenseiten. Insgesamt muß man das "Wertvolle der islamischen Zivilisation" sehen. Der islamische Monotheismus habe einen vorbildlichen Habitus aktiver Weltoffenheit begründet, der nur dank böser Mißverständnisse einiger machtbesessener arabischer Herrscher in Unterdrückung und Selbstverabsolutierung umschlug.
Jelloun gelingen in der Erläuterung der Biographie des Propheten, der Frühgeschichte des Islam und der kulturellen Leistungen arabischer Gelehrter gute Beschreibungen. Doch was trägt die Erinnerung an die hochentwickelte islamische Gelehrsamkeit von einst dazu bei, die neue, keineswegs auf den Islam beschränkte religiöse Gewalt zu verstehen? Statt dessen entwirft der Autor das Bild eines pathologischen Niedergangs. Seit den Kreuzzügen und verstärkt durch den westlichen Kolonialismus kam es zu einer islamischen Regression, die sich in Freiheitsfeindschaft und Intoleranz zeigte. Jelloun deutet die enge Verbindung von Religion und Politik als eine Reaktion auf westliche Überfremdung. Gleichzeitig betont er eine absolute Geltung islamischer Glaubenswahrheiten. "Religionen vertragen weder Zweifel noch Lachen. Logik und Glauben sind unvereinbar", wird der Tochter erklärt. Warum dürfen Gläubige nicht lachen? Weshalb ist kein methodischer Zweifel erlaubt? Auch Jellouns menschenfreundlicher Reformislam ist eine irritierend hermetische Glaubenswelt. Der Glaube, der zu Demut verhelfen soll, birgt keine starken symbolischen Potentiale der Selbstbegrenzung. Strukturen der Differenzierung von Religion, Politik und Wissenschaft können dann nur von außen, nicht aber aus eigenen Gründen des Religiösen entwickelt werden.
Jelloun sieht in den Islamisten ungebildete Reaktionäre, die alte heilige Schriften wörtlich lesen. Ihre Aggressivität sei die Folge von Unwissenheit und bornierter Unkultur. Mit diesem Klischee vom dummen Fundamentalisten beweist Jelloun nur Mangel an religionsdiagnostischem Sachverstand. Wie kann religiöser Glaube in Wahn und Sehnsucht nach Erlösung in grausame Gewalt umschlagen? Dies ist eine Frage, auf die auch akademische Religionsexperten keine überzeugenden Antworten kennen. Wer kann schon ins Herz gebildeter junger Männer aus wohlhabenden Mittelstandsfamilien schauen, die lange unter uns lebten und dabei einen absoluten Haß auf uns entwickelten? Diese Gläubigen bereiten ihren wildfremden "Gottesfeinden" die Hölle, nur weil sie endlich im Himmel ihrer Erlösungshoffnungen sein wollen. Läßt sich dies Kindern verständlich machen?
Jellouns These, der 11. September habe mit dem Islam nichts zu tun und drücke nur die böse Ignoranz politisch Verführter aus, trägt nicht weit. Die Religionsgeschichten der Moderne waren immer auch geprägt von brutaler Gewalt. Auf der einen Seite die Guten, auf der anderen verführte Böse - dieses simple Muster offenbart wenig Erklärungskraft. Niemals läßt sich der Vater selbst in Frage stellen, und immer hat er schnelle, hölzerne Antworten parat. Hoffentlich stellen ihm seine Töchter bald Fragen, die ihn ratlos machen.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Tahar Ben Jelloun: "Papa, was ist der Islam?". Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2002. 96 S., geb., 12,-
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "einen der wenigen, vielleicht den ersten ernsthaften Versuch", Kindern die Welt des Islam zu erklären, bezeichnet Rezensent Volker S. Stahr das als Vater-Tochter-Gespräch konzipierte Buch. Mit für einen Schriftsteller bemerkenswert einfachen Worten unternehme der marokkanische Autor eine "Erklärungsreise durch die Welt des Islam und die vielen Verwerfungen, die der 11. September in dieser Welt wie auch darüber hinaus hervorgerufen" habe. Er beschreibe seine Entstehung im Mekka des 7. Jahrhunderts, das "große Zeitalter einer großen Kultur im Mittelalter, erzähle von den Bibliotheken in Bagdad oder Cordoba und dem Wissensdrang der arabischen Herrscher bis zu den Errungenschaften in Astronomie, Medizin oder Philosophie. Ben Jelloun schließe mit dem Niedergang und mit den Problemen der Araber und Muslime in und mit der heutigen Welt und spare auch unangenehme Themen nicht aus. An manchen Stellen gleicht das Werk einem Wörterbuch, schreibt der Rezensent. In Großbuchstaben sieht er Begriffe hervorgehoben und erklärt. Er nimmt den Autor auch gegen Vorwürfe anderer Kritiker in Schutz, denen das Buch zu naiv war.
© Perlentaucher Medien GmbH
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