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Knapp 10 Jahre ist Oliver alt - und dennoch versteht er viel mehr, als seine Eltern ihm zutrauen. Er spielt Klavier und Cello, schreibt einen Indianerroman, bringt sich die ersten Englischkenntnisse bei und nimmt alles, was die Erwachsenen sagen, wörtlich. Wollen seine Mutter und sein Vater auf einen Ball gehen, dann sieht er sie eine runde Lederkugel hinabrutschen und böse aufschlagen. Er kann jedoch nicht ahnen, wie recht er mit seinen Gedankenspielen hat. Sein Held ist Muhammad Ali. Ihn liebt er, weil er unbesiegbar scheint, weil er den Kriegsdienst in Vietnam und der US-Gesellschaft den…mehr

Produktbeschreibung
Knapp 10 Jahre ist Oliver alt - und dennoch versteht er viel mehr, als seine Eltern ihm zutrauen. Er spielt Klavier und Cello, schreibt einen Indianerroman, bringt sich die ersten Englischkenntnisse bei und nimmt alles, was die Erwachsenen sagen, wörtlich. Wollen seine Mutter und sein Vater auf einen Ball gehen, dann sieht er sie eine runde Lederkugel hinabrutschen und böse aufschlagen. Er kann jedoch nicht ahnen, wie recht er mit seinen Gedankenspielen hat. Sein Held ist Muhammad Ali. Ihn liebt er, weil er unbesiegbar scheint, weil er den Kriegsdienst in Vietnam und der US-Gesellschaft den Kampf angesagt hat. Noch steht Oliver selbst nicht im gleißenden Licht des Rings, doch scheint auch für ihn der Kampf eröffnet: Offenbar wollen ihn seine Eltern um sein Erbe bringen. Oder übertreibt er? Was wirklich vorgeht, entzieht sich Oliver lange. Seltsam findet er, dass sein Vater sich häufig bei seiner Nachbarin aufhält, die er selber in seinen Tagträumen anschwärmt. Deren Mann ist d och vor einiger Zeit gestorben, und sein Vater, ein Spezialist für Herzerkrankungen, hat keinen Grund mehr für Hausbesuche. Auch will es ihm nicht in Kopf, warum seine Mutter unbedingt in Berlin wohnen möchte und sein Vater dort eine eigene Klinik aufbauen soll. Auf jeden Fall aber probiert er es mit dem Boxen, auch wenn sein Vater meint, dass er bestenfalls ein Papiergewicht sei.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2001

Ausdauertraining
Stephan Reimertz geht in seinem Romandebüt über zwölf Runden

"Das Schönste im Leben ist die Freiheit!" - In Schlagertexten findet sich bisweilen mehr Lebenswahrheit, als man ihnen zugestehen mag. Diese wundersame Entdeckung macht der zehnjährige Ich-Erzähler Oliver in Stephan Reimertz' Roman "Papiergewicht", als er seiner Schulkameradin Kirsten zuliebe dem harmonischen Zwiegesang von Roy Black und Klein-Anita Gehör schenkt. Rückblickend zeichnet der erwachsene Protagonist die Zeit seiner Kindheit als einen beständigen Kampf um seine Freiheit - die Freiheit anders, die Freiheit, er selbst sein zu dürfen.

Reimertz' bisherige Bücher, eine "teeologische" Studie "Vom Genuß des Tees", eine Biographie über den Maler Max Beckmann und eine Lebens- und Werkdarstellung von Woody Allen haben gezeigt, daß der knapp vierzigjährige Autor Wissensvermittlung und Humor zu verbinden weiß. Nun ist das Romandebüt die Probe auf sein erzählerisches Talent.

Der Held dieses Buches ist ein verkanntes Wunderkind, dessen Fähigkeiten bei den Eltern auf stetige Zurückweisung und Mißbilligung stoßen. Sie empfinden seine Andersartigkeit als belastenden Störfaktor, der ihnen das Leben erschwert; besonders die Mutter straft ihn mit Ignoranz, Liebesentzug und gelegentlich sogar mit haßerfüllten Beschimpfungen. Agieren fast ausnahmslos alle Figuren im Roman wie mechanisch aufgezogene Puppen, so bleibt die Mutter so sehr stereotypen Mustern verhaftet, daß es jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt. An keiner Stelle deuten sich liebende Muttergefühle auch nur an. Mit Nachdruck unterstreicht sie bei jeder Gelegenheit ihre Enttäuschung darüber, daß Oliver in keiner Weise ihren Hoffnungen entspricht: Was sie erwartet, sind Unauffälligkeit, Normalität, Durchschnittlichkeit.

Durchschnittlich ist Oliver nun wahrhaftig nicht zu nennen. In seiner Freizeit spielt er Cello, widmet sich mit Begeisterung der Lektüre von "Oliver Twist" und "Krieg und Frieden", schreibt überdies an einem eigenen Roman, bringt sich die ersten Englischkenntnisse selbst bei und widmet seine Tagträume der schönen Nachbarin Frau Blömeke, die seine Mutter sein könnte.

Oliver durchschaut die verlogene Welt der Eltern, deren nach außen hin dargebotene Liebe nur Fassade des Kampfes ist, den sie gegeneinander führen. Seine Fähigkeit, die Erwachsenenwelt interpretieren zu können, macht Oliver zu einem abgeklärten kleinen Jungen, der im zartesten Kindesalter beschließt, eben kein kleiner Junge mehr zu sein, sich das Weinen abzugewöhnen und es mit der harten Realität aufzunehmen. Seine lakonische, gänzlich unpathetische Sprache gleicht eher der eines weisen alten Mannes, dem jegliche menschliche Abgründe vertraut sind, als der eines Kindes, dessen Lebenserfahrung lediglich zehn Jahre zählt. Oliver ist die einzige Figur im Roman, bei der sich Konturen einer Charakterschaffung andeuten. Aber für einen Jungen seines Alters ist seine Sprache zu gewählt, sein Auftreten zu durchdacht.

An seiner Umgebung verzweifelnd, flüchtet er in den Boxsport und die Bewunderung von Muhammad Ali. Und auch wenn er selbst noch nicht im Boxring steht und der Beurteilung des Vaters folgend bestenfalls "Papiergewicht" genannt werden kann, der Kampf im Ring des Lebens, der sich als viel härter und erbarmungsloser erweisen soll, ist bereits in die ersten Runden gegangen, und mit verbissener, unheimlich anmutender Akribie perfektioniert Oliver seine Deckung.

Stephan Reimertz' Erzähltalent deutet sich immer nur an, die Erzählweise wirkt oftmals unentschlossen, die Geschichte erscheint blaß und strebt auf keinen Punkt zu. Der Roman benötigt gut hundert Seiten, bevor sich das erzählerische Temperament des Autors entfaltet; bevor es soweit ist, dürfte mancher Leser das Handtuch geworfen haben. Wer durchhält, wird im zweiten Drittel mit Spannungsmomenten wie in einem Psychothriller belohnt, bevor der Autor im letzten Drittel zu einem Endspurt ansetzt, der einem Langstreckenlauf gleicht. Was den Leser am Ende erwartet, ist weder eine Überraschung, noch erfüllt es Erwartungen. Es ist nicht mehr von Bedeutung und verschafft Genugtuung allenfalls jenen Anhängern des Boxsports, die meinen, jeder Kampf müsse über die volle Distanz gehen.

CHRISTINA ZINK

Stephan Reimertz: "Papiergewicht". Roman. Luchterhand-Literaturverlag, München 2001. 288 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Fähigkeiten und Kenntnisse von Oliver, dem Helden in Stephan Reimertz' Debütroman "Papiergewicht", lesen sich auf den ersten Blick beeindruckend. Welcher Neunjährige liest schon den Sportteil der FAZ und beherrscht Latein, wie Aimee Torre Brons verrät. Trotzdem sieht die Rezensentin in dem Jungen, der in den siebziger Jahren in einem wohlhabenden Elternhaus groß wird und von der großbusigen Nachbarin träumt, nichts anderes als einen "altklugen Rotzlöffel". Die Unglaubwürdigkeit dieses kindlichen Charakters korrespondiert für Torre Brons mit ihrem Gesamteindruck des Romans. Die Gestaltung des Generationskonflikts im spießigen pseudo-liberalen und gleichzeitig pseudo-fortschrittlichen Umfeld der siebziger Jahre gelingt ihrer Meinung nach schon allein deshalb nicht, weil der Autor keine Charaktere schaffe. Die Figuren wirken konstruiert, zuweilen zur Karikatur reduziert, findet Torre Brons, und die Gedanken und Gefühle des Jungen sind für sie alles andere als altersgerecht. Das Resultat sei ein "literarisches Leichtgewicht", bedauert sie.

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