Wahre Lehre und falsche Dokumente, heilige Kriege und diplomatische Kunst: Die katholische Kirche kennt die Abgründe der Politik; schließlich entstand sie aus messianischer Antipolitik. Wie aber konnte eine verfolgte Migrantensekte aus dem Nahen Osten zur größten Institution der Weltgeschichte werden? Warum ist das immer wieder gefährdete Papsttum heute die Verkörperung von Kontinuität? Der Philosoph und politische Theoretiker Otto Kallscheuer analysiert die Kirche als Corpus, erzählt von der Orthodoxie als Erfindung, vom Klerus als Rückgrat und von der Rettung des Katholizismus durch die Frauen. Er berichtet von den Päpsten als Kriegsherren und Friedensvermittler, als Feinde der Aufklärung und Befreier von weltlicher Ideologie - und von ihrer Verzweiflung angesichts der Weltkriege des Zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Problemgeschichte des kirchlichen Rom bringt auch die spirituelle Grammatik des Westens zum Vorschein. Längst verlagert sich der Schwerpunkt der katholischen Christenheit in den globalen Süden. Gelingt es heute einem lateinamerikanischen Papst, in den neuen-alten Weltkonflikten, gegenüber dem Haß aktueller Volks- und Religionskriege zum Friedensstifter zu werden?Papst und Zeit liefert die historischen und politischen Hintergründe zu den aktuellen Debatten in der katholischen Kirche - auch zu Zerreißproben im Vatikan. Um das Papsttum zu begreifen, braucht es Weltgeschichte und Theologie.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Philosoph und Doyen des linken Katholizismus Otto Kallscheuer nimmt eine interessante Perspektive auf die katholische Kirche ein, befindet Rezensent Thomas Brose: Er macht sich in einem umfassenden Buch Gedanken darüber, wie sich die Rolle des Papstes zur Weltpolitik verhält und wie die Sphären Politik und Christentum im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufeinandertreffen. "Geschichtliche Wechselfälle" wie die Begegnung zwischen Bonifaz VIII. und dem französischen König 1300, die zur Exilierung der Päpste nach Avignon führte, strukturieren das Buch, erklärt der Kritiker, und führen immer wieder zu den Fragen, wie die Macht in der Kirche aussieht und wie das Papsttum sich in der Zukunft gestalten lässt. Eine kluge Analyse, die theologische mit geschichtlichen und politischen Überlegungen verbindet, so Brose abschließend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2024Ex Cathedra
Otto Kallscheuer sondiert die Theologie des Papsttums
"Papst und Zeit" ist ein enigmatischer Titel. Tatsächlich legt sich Otto Kallscheuer nie ganz fest, in welches Genre sein Buch fällt. Trotz des kirchengeschichtlichen und theologischen Sujets handelt es sich um kein strikt akademisches Werk, sondern eine sehr persönliche, dabei oft überaus anregende Sicht auf das Papsttum und seine Geschichte, die hier ausgebreitet wird.
Auf den ersten Blick kann das Buch einschüchternd wirken. Allein der Umfang und das achtseitige Inhaltsverzeichnis dürften einige Leser abschrecken. Kein Wunder also, dass Kallscheuer eine Gebrauchsanweisung vorangestellt hat. Sie macht klar, dass die folgenden fast neunhundert Seiten nicht von vorn bis hinten gelesen werden müssen, sondern das Buch auch als Nachschlagewerk zu kirchen- und theologiegeschichtlichen Themen verwendet werden kann. Zwischen dreißig, oft eigenwillig betitelten Hauptkapiteln sind so zwanzig "Fokus"-Sektionen eingefügt, die eher Exkursen gleichen und zwischen denen zu springen sich lohnt.
Sich Kallscheuers Buch, das den Brückenschlag zwischen Nachschlagewerk und Feuilleton versucht, von der Struktur her zu erschließen, ist nicht immer einfach. Es geht um die Verschränkung einer tatsachenbezogenen Kirchengeschichte ('wie es eigentlich gewesen') mit der über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Theologie des Papsttums. So eröffnet sich ein ideengeschichtlicher Zugang zum Herrschaftsanspruch, zur Politik und zur Diplomatie des Heiligen Stuhls.
Kallscheuers Buch ist nach eigener Aussage "eine konzeptionelle oder Problemgeschichte des Papsttums. Wer will, kann auch Theorie sagen." Eigentlich müsste man aber von einer Vielzahl an Problemgeschichten sprechen. Der Autor entwickelt keine übergreifende politische Theorie des Papsttums oder der päpstlichen Theologie, sondern vermittelt den Lesern vielmehr eine Mehrzahl an Theorien, die durch die Päpste im Lauf der Geschichte vertreten und verbreitet worden sind.
Die eigentliche Stärke des Buchs liegt in der Verknüpfung von Beobachtungen. Während die einzelnen Kapitel nicht unbedingt Neues bieten, können sie insgesamt doch neue Perspektiven eröffnen - von den Mysterien, die die ersten Päpste umranken, zu den politischen Wirrungen zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter, den Religionskriegen der Frühen Neuzeit und bis hin zum italienischen Risorgimento und der Transformation der katholischen Weltkirche nach 1945.
In all diesen Themengebieten erweist sich Kallscheuer als kompetenter Beobachter. Die Leistung des Buchs besteht dabei im Nachzeichnen von großen Verbindungslinien, die Kallscheuer über Epochenumbrüche hinweg ausmachen kann. Das ist stets theologisch fundiert, wenn es auch Gefahr läuft, Kontinuitäten zu konstruieren, die so ausgeprägt tatsächlich nie waren. Hinter den großen Trends können historische Komplexitäten, Widersprüche und - wenn man so will - auch die 'Ergebnisoffenheit', welche die Kirchengeschichte gekennzeichnet hat, leicht verblassen.
Besonders herauszuheben ist das Kapitel, in dem der umstrittene Papst Pius XII. als "eiskalter Engel" auftritt. Hier zeigt sich auch Kallscheuers Blick auf die Ambivalenzen von Kirchenpolitik. So sieht er etwa das Schweigen des Papstes zur Schoa im Weltkrieg in einem "nuklearen Schweigen" in der Zeit des Wettrüstens nach 1945 fortgeschrieben, in welcher der Heilige Stuhl nur bedingt als Friedensmacht aufzutreten bereit war, Pius und seine Nachfolger vielmehr eine Allianz zwischen "Potomac und Tiber" forcierten. "Mit mindestens einem Jahrhundert Verspätung", resümiert Kallscheuer, "war die Papstkirche in der demokratischen Staatenwelt angekommen."
Das Buch macht die Geschichte des Papsttums einem breiten Publikum zugänglich, und bei allen Vereinfachungen, die Kallscheuer dabei vornehmen muss, gelingen ihm doch interessante Zuspitzungen. Gerade der nicht streng wissenschaftliche Gestus der Darstellung entfaltet dabei seinen eigenen Reiz. SIMON UNGER-ALVI
Otto Kallscheuer: "Papst und Zeit". Heilsgeschichte und Weltpolitik.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.
956 S., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Otto Kallscheuer sondiert die Theologie des Papsttums
"Papst und Zeit" ist ein enigmatischer Titel. Tatsächlich legt sich Otto Kallscheuer nie ganz fest, in welches Genre sein Buch fällt. Trotz des kirchengeschichtlichen und theologischen Sujets handelt es sich um kein strikt akademisches Werk, sondern eine sehr persönliche, dabei oft überaus anregende Sicht auf das Papsttum und seine Geschichte, die hier ausgebreitet wird.
Auf den ersten Blick kann das Buch einschüchternd wirken. Allein der Umfang und das achtseitige Inhaltsverzeichnis dürften einige Leser abschrecken. Kein Wunder also, dass Kallscheuer eine Gebrauchsanweisung vorangestellt hat. Sie macht klar, dass die folgenden fast neunhundert Seiten nicht von vorn bis hinten gelesen werden müssen, sondern das Buch auch als Nachschlagewerk zu kirchen- und theologiegeschichtlichen Themen verwendet werden kann. Zwischen dreißig, oft eigenwillig betitelten Hauptkapiteln sind so zwanzig "Fokus"-Sektionen eingefügt, die eher Exkursen gleichen und zwischen denen zu springen sich lohnt.
Sich Kallscheuers Buch, das den Brückenschlag zwischen Nachschlagewerk und Feuilleton versucht, von der Struktur her zu erschließen, ist nicht immer einfach. Es geht um die Verschränkung einer tatsachenbezogenen Kirchengeschichte ('wie es eigentlich gewesen') mit der über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Theologie des Papsttums. So eröffnet sich ein ideengeschichtlicher Zugang zum Herrschaftsanspruch, zur Politik und zur Diplomatie des Heiligen Stuhls.
Kallscheuers Buch ist nach eigener Aussage "eine konzeptionelle oder Problemgeschichte des Papsttums. Wer will, kann auch Theorie sagen." Eigentlich müsste man aber von einer Vielzahl an Problemgeschichten sprechen. Der Autor entwickelt keine übergreifende politische Theorie des Papsttums oder der päpstlichen Theologie, sondern vermittelt den Lesern vielmehr eine Mehrzahl an Theorien, die durch die Päpste im Lauf der Geschichte vertreten und verbreitet worden sind.
Die eigentliche Stärke des Buchs liegt in der Verknüpfung von Beobachtungen. Während die einzelnen Kapitel nicht unbedingt Neues bieten, können sie insgesamt doch neue Perspektiven eröffnen - von den Mysterien, die die ersten Päpste umranken, zu den politischen Wirrungen zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter, den Religionskriegen der Frühen Neuzeit und bis hin zum italienischen Risorgimento und der Transformation der katholischen Weltkirche nach 1945.
In all diesen Themengebieten erweist sich Kallscheuer als kompetenter Beobachter. Die Leistung des Buchs besteht dabei im Nachzeichnen von großen Verbindungslinien, die Kallscheuer über Epochenumbrüche hinweg ausmachen kann. Das ist stets theologisch fundiert, wenn es auch Gefahr läuft, Kontinuitäten zu konstruieren, die so ausgeprägt tatsächlich nie waren. Hinter den großen Trends können historische Komplexitäten, Widersprüche und - wenn man so will - auch die 'Ergebnisoffenheit', welche die Kirchengeschichte gekennzeichnet hat, leicht verblassen.
Besonders herauszuheben ist das Kapitel, in dem der umstrittene Papst Pius XII. als "eiskalter Engel" auftritt. Hier zeigt sich auch Kallscheuers Blick auf die Ambivalenzen von Kirchenpolitik. So sieht er etwa das Schweigen des Papstes zur Schoa im Weltkrieg in einem "nuklearen Schweigen" in der Zeit des Wettrüstens nach 1945 fortgeschrieben, in welcher der Heilige Stuhl nur bedingt als Friedensmacht aufzutreten bereit war, Pius und seine Nachfolger vielmehr eine Allianz zwischen "Potomac und Tiber" forcierten. "Mit mindestens einem Jahrhundert Verspätung", resümiert Kallscheuer, "war die Papstkirche in der demokratischen Staatenwelt angekommen."
Das Buch macht die Geschichte des Papsttums einem breiten Publikum zugänglich, und bei allen Vereinfachungen, die Kallscheuer dabei vornehmen muss, gelingen ihm doch interessante Zuspitzungen. Gerade der nicht streng wissenschaftliche Gestus der Darstellung entfaltet dabei seinen eigenen Reiz. SIMON UNGER-ALVI
Otto Kallscheuer: "Papst und Zeit". Heilsgeschichte und Weltpolitik.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.
956 S., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.