"Midway through his life, the artist G begins to paint upside down. Eventually, he paints his wife upside down. He also makes her ugly. The paintings are a great success. In Paris, a woman is attacked by a stranger in the street. Her attacker flees, but not before turning around to contemplate her victim, like an artist stepping back from a canvas. At the age of twenty-two, the painter G leaves home for a new life in another country, far from the disapproval of her parents. Her paintings attract the disapproval of the man she later marries. When a mother dies, her children confront her legacy: the stories she told, the roles she assigned to them, the ways she withheld her love. Her death is a kind of freedom. Parade is a novel that demolishes the conventions of storytelling. It surges past the limits of identity, character, and plot to tell the story of G, an artist whose life contains many lives. Rachel Cusk is a writer and visionary like no other, who turns language upside down to show us our world as it really is."--
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2024Die Ruinen
ihrer Kunst
In ihrem Buch „Parade“ zerstört
Rachel Cusk mutwillig alles,
was die Bezeichnung „Roman“ verspricht.
Eine harte Prüfung für ihre Fans.
VON JOHANNA ADORJÁN
Die Schriftstellerin Rachel Cusk arbeitet seit Jahren an der Abschaffung des Romans. Bemerkenswert daran ist vor allem das Mittel, das sie für ihren Feldzug wählt: den Roman. Roman für Roman rückt sie näher an ihr Ziel, dieser literarischen Gattung alles auszutreiben, was sie ausmacht. Charaktere hat sie schon vor Längerem beerdigt. Sie tauchten schon in ihren letzten Werken nur noch als Schemen auf. Austauschbar wie Platzhalter, allein dazu da, etwas zu erzählen. In ihrem neuen Roman, „Parade“, killt sie nun mehr oder weniger den Rest. Auf 170 Seiten lässt sich besichtigen, was übrigbleibt: die Ruinen des Romans, nachdem Rachel Cusk sich ihn vorgenommen hat.
Das erste Kapitel, das in einer geringfügig anderen Version letztes Jahr bereits im New Yorker erschien, schneidet zwischen zwei verschiedenen Episoden hin und her. Zum einen geht es um einen Künstler namens G, der irgendwann, Vergleiche mit lebenden Künstlern sind bestimmt beabsichtigt, beschließt, alles nur noch auf dem Kopf stehend zu malen. Wichtiger als er aber ist hier seine Frau und wie es ihr mit dieser künstlerischen Entscheidung ihres Mannes geht: Ihr kommt es vor, als zeige er die Welt auf seinen Gemälden nunmehr so, wie sie, als Frau, sie erlebt. Auf dem Kopf stehend. Die andere Episode handelt von einer Ich-Erzählerin, die auf der Straße Opfer einer zufälligen Aggression wird. Eine Passantin schlägt ihr im Vorbeilaufen mit Wucht gegen den Kopf. Dieser Vorfall erschüttert die Ich-Erzählerin zutiefst, auch und gerade weil es eine Frau war, die sie attackierte.
Als aufmerksamer Leser hält man nun inne und sinnt darüber nach, was beide Episoden miteinander zu tun haben. Was die Autorin uns also damit sagen will, dass sie diese zwei unzusammenhängenden und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Episoden miteinander verschränkt. Man kann zu dem Schluss kommen, dass es ihr um Gewalt geht, die Frauen erfahren. Sei sie tatsächlich physisch oder durch den bloßen Umstand verursacht, als Frau in diese von Männern dominierte Welt hineingeboren worden zu sein. Eine Welt, in der männliche Künstler, dem Text zufolge, das Bild der Frau stärker bestimmen als Frauen selbst, was bei Frauen zu einer Art Dissoziation führe, einer gestörten Wahrnehmung der Welt. Es geht um die weibliche Erfahrung der Existenz, die, immer noch dem Text zufolge, eine gewaltsame ist.
Cusk, die 1967 in Kanada geboren wurde, in den USA und Großbritannien aufwuchs und inzwischen in Paris lebt, hat zu Beginn ihrer Karriere Romane geschrieben, die den herkömmlichen Gesetzen dieser Gattung treu waren. Es gab handelnde Personen mit ausgedachten Namen, eine erkennbare Handlung. Bekannt wurde sie mit Non-Fiction, allem voran einem Buch, das das eigene Muttersein nicht gerade verklärt. „A Life's Work: On Becoming a Mother“ hieß das Original von 2001). Mit der Zeit wurde ihr Schreiben immer mehr zu einer Suche nach Möglichkeiten, literarisch nicht bereits Dagewesenes zu reproduzieren. Ihre Frustration von ihrem Medium, Sprache, scheint dabei immer größer geworden zu sein. Bei einem Auftritt in Paris erklärte sie jüngst, sie finde Sprache „wirklich, wirklich ermüdend“.
Ihre Charaktere hatten irgendwann statt Namen nur noch Buchstaben, um ihre Sprecherposition zu kennzeichnen. Cusks „Outline“-Trilogie, bestehend aus den Romanen „Outline“ (2014), „Transit“ (2016) und „Kudos“ (2018), begründete eine Art eigenes Genre, das sich als möglichst teilnahmslose Beobachtung beschreiben lässt. Es gab darin eine Ich-Erzählerin, die Schriftstellerin war und auch in anderen Punkten an die Autorin erinnerte. Wesentlich aber war, dass ihr Leute teilweise recht irre Sachen erzählten, die sie im Buch wiedergibt. Diese sachlich gehaltenen Wiedergaben machen mehr oder weniger den Inhalt dieser drei Bücher aus. Das las sich merkwürdig, aufregend und irgendwie neu. Auch, weil Cusks Erzählton so etwas elegant Gelangweiltes hat. Als wäre entweder nichts oder alles gleich wichtig. Das Ganze spielt in privilegierten kreativen Milieus. Es geht viel um Kunst. Man fährt aufs Land. Denkt viel über sich selbst nach. Führt existenzielle Gespräche beim Spazierengehen.
Diesmal ist Cusks Ansatz noch radikaler: Sie habe einen abstrakten Roman schaffen wollen, sagte sie in Interviews. Also so etwas wie einen Rothko, nur mit den Mitteln der Sprache. Ganz ist ihr das (glücklicherweise) nicht geglückt. Aber es gibt nun auch keine einheitliche Erzählperspektive mehr, der Leser ist mehr oder weniger allein mit dem Text, weiß oft nicht, wer gerade spricht und ehrlich gesagt, allzu oft auch nicht, worüber. Es tauchen unterschiedliche Künstler im Buch auf, sie alle heißen G – ob sie nun an Baselitz erinnern, an Louise Bourgeois oder den Regisseur Éric Rohmer.
Immer wieder mal ragt eine Passage heraus, mit der die Zentren, die im Gehirn für narratives Denken zuständig sind, leichter etwas anfangen können. Einmal geht es zum Beispiel um Hebammen auf irgendeiner Insel, die Sterbewillige nachts mit einem Hammerschlag in den Tod befördern – wobei „geht es um“ bei Cusk halt immer bedeutet: Jemand erzählt davon. Anekdoten wie diese motivieren, dranzubleiben. Doch insgesamt ist „Parade“ eine enorm frustrierende Leseerfahrung. Man kämpft sich durch die Seiten und kann die Autorin nur dafür bestaunen, so frei von dem Wunsch zu sein, gerne gelesen zu werden.
In der englischen Originalfassung, die vor ein paar Wochen erschien, liest sich das Buch immerhin besser. Cusks Sprache ist extrem verdichtet. Was sie bisweilen in einen Satz packt, reicht anderen Autoren als Inhalt für ein ganzes Buch. Auf Englisch klingt das souverän, sogar beiläufig. Das Deutsche aber bewältigt eine solch hohe Informationsdichte nicht nebenbei. Es wird hier schnell sperrig. Und klingt dann so: „Die unvollständige, deformierte Freiheit seiner Frau hatte auf ihn eine lähmende Wirkung. Sie war nur wenige Meter entfernt, trotzdem konnte er sie weder benutzen noch loswerden: Ihretwegen war er nicht frei, er selbst zu sein. Was ihn lähmte, war ihre unentwickelte Gleichwertigkeit.“ Oder so: „In unserem Körper lebten wir wie in einem ständigen Ausnahmezustand. Wir verschlissen ihn bei dem Versuch, ihn entweder zu befriedigen oder zu ermüden. Uns in Schlaf oder Lust zu verlieren, gelang uns nie. Wir blieben schlaflos und wachsam.“ Das ist der holprige Sound dieses Buchs, das Rachel Cusks langjährige Übersetzerin Eva Bonné ins Deutsche übertragen hat, worum man sie nicht beneidet.
Es gibt mehrere Kapitel, die jeweils zwischen verschiedenen Ebenen hin und her springen. Manches wird auktorial erzählt, anderes in Ich- oder auch Wir-Form. So etwas wie eine Handlung gibt es natürlich nicht. Es sind eher nur Themen, die umkreist werden und gutmütige Rezensenten dazu verleiten könnten, zu behaupten, das Buch handle von Kunst. Oder von Gewalt. Von weiblicher Identität. Der Schwierigkeit, Künstlerin und Mutter zu sein. Von bewunderten Männern und sich unterwerfenden Frauen. Von Kapitalismus. Von allem ein bisschen. Oder, und auch das trifft zu: von gar nichts. Es sind einfach mehr oder weniger interessante aneinandergereihte Textpassagen – Gedanken, Anekdoten, Gespräche –, die assoziativ um diese Themen kreisen und sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie bedeutungsschwanger klingen. Die Bedeutung enthüllt sich dann allerdings nie, es kommt sozusagen nie zur Geburt, sondern der Text mäandert bedeutungsscheinschwanger vor sich hin.
Hinzu kommen viele merkwürdig misslungene Beschreibungen. „Sie verwechselte den Tod mit einem Kompliment, und als sie schließlich begriff, dass dieser dunkle Fremde kein Prinz war, sondern ein Mörder, gab es für sie kein Entkommen mehr.“ Oder: „David blickte schweigend auf seine Finger, die das Weinglas umklammert hielten wie aus eigenem Antrieb.“ Oder: „Seine Zerstreutheit hatte etwas Einstudiertes, als wäre sie eine vorgefertigte Reaktion auf Leute, die seine Autorität herausforderten.“ Es stehe bitte auf, wer sich darunter etwas vorstellen kann.
Was aber das größte Problem ist: Es macht einfach keinen Spaß, ein Buch zu lesen, das vorgibt, ein Roman zu sein, während es gleichzeitig an dessen Abschaffung arbeitet. Rachel Cusk hat einen leserfeindlichen Roman geschrieben. Sie verweigert sich jeder Erwartung, mit der Menschen normalerweise einen Roman aufschlagen. Sie tut das bewusst und mit Vorsatz. Es ist ein intellektuelles Experiment. Ein kühnes literarisches Unterfangen. Immerhin kein Mittelmaß.
Ihr
gelangweilter
Ton ist
merkwürdig
und
aufregend
Sie finde Sprache
„wirklich, wirklich
ermüdend“, sagte
die in Kanada geborene
Schriftstellerin
Rachel Cusk jüngst
in Paris, wo sie
inzwischen lebt.
Foto: M. Perez/Agencia EFE/Imago
Rachel Cusk: Parade.
Roman. Aus dem
Englischen von
Eva Bonné. Suhrkamp,
Berlin 2024. 171 Seiten,
25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ihrer Kunst
In ihrem Buch „Parade“ zerstört
Rachel Cusk mutwillig alles,
was die Bezeichnung „Roman“ verspricht.
Eine harte Prüfung für ihre Fans.
VON JOHANNA ADORJÁN
Die Schriftstellerin Rachel Cusk arbeitet seit Jahren an der Abschaffung des Romans. Bemerkenswert daran ist vor allem das Mittel, das sie für ihren Feldzug wählt: den Roman. Roman für Roman rückt sie näher an ihr Ziel, dieser literarischen Gattung alles auszutreiben, was sie ausmacht. Charaktere hat sie schon vor Längerem beerdigt. Sie tauchten schon in ihren letzten Werken nur noch als Schemen auf. Austauschbar wie Platzhalter, allein dazu da, etwas zu erzählen. In ihrem neuen Roman, „Parade“, killt sie nun mehr oder weniger den Rest. Auf 170 Seiten lässt sich besichtigen, was übrigbleibt: die Ruinen des Romans, nachdem Rachel Cusk sich ihn vorgenommen hat.
Das erste Kapitel, das in einer geringfügig anderen Version letztes Jahr bereits im New Yorker erschien, schneidet zwischen zwei verschiedenen Episoden hin und her. Zum einen geht es um einen Künstler namens G, der irgendwann, Vergleiche mit lebenden Künstlern sind bestimmt beabsichtigt, beschließt, alles nur noch auf dem Kopf stehend zu malen. Wichtiger als er aber ist hier seine Frau und wie es ihr mit dieser künstlerischen Entscheidung ihres Mannes geht: Ihr kommt es vor, als zeige er die Welt auf seinen Gemälden nunmehr so, wie sie, als Frau, sie erlebt. Auf dem Kopf stehend. Die andere Episode handelt von einer Ich-Erzählerin, die auf der Straße Opfer einer zufälligen Aggression wird. Eine Passantin schlägt ihr im Vorbeilaufen mit Wucht gegen den Kopf. Dieser Vorfall erschüttert die Ich-Erzählerin zutiefst, auch und gerade weil es eine Frau war, die sie attackierte.
Als aufmerksamer Leser hält man nun inne und sinnt darüber nach, was beide Episoden miteinander zu tun haben. Was die Autorin uns also damit sagen will, dass sie diese zwei unzusammenhängenden und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Episoden miteinander verschränkt. Man kann zu dem Schluss kommen, dass es ihr um Gewalt geht, die Frauen erfahren. Sei sie tatsächlich physisch oder durch den bloßen Umstand verursacht, als Frau in diese von Männern dominierte Welt hineingeboren worden zu sein. Eine Welt, in der männliche Künstler, dem Text zufolge, das Bild der Frau stärker bestimmen als Frauen selbst, was bei Frauen zu einer Art Dissoziation führe, einer gestörten Wahrnehmung der Welt. Es geht um die weibliche Erfahrung der Existenz, die, immer noch dem Text zufolge, eine gewaltsame ist.
Cusk, die 1967 in Kanada geboren wurde, in den USA und Großbritannien aufwuchs und inzwischen in Paris lebt, hat zu Beginn ihrer Karriere Romane geschrieben, die den herkömmlichen Gesetzen dieser Gattung treu waren. Es gab handelnde Personen mit ausgedachten Namen, eine erkennbare Handlung. Bekannt wurde sie mit Non-Fiction, allem voran einem Buch, das das eigene Muttersein nicht gerade verklärt. „A Life's Work: On Becoming a Mother“ hieß das Original von 2001). Mit der Zeit wurde ihr Schreiben immer mehr zu einer Suche nach Möglichkeiten, literarisch nicht bereits Dagewesenes zu reproduzieren. Ihre Frustration von ihrem Medium, Sprache, scheint dabei immer größer geworden zu sein. Bei einem Auftritt in Paris erklärte sie jüngst, sie finde Sprache „wirklich, wirklich ermüdend“.
Ihre Charaktere hatten irgendwann statt Namen nur noch Buchstaben, um ihre Sprecherposition zu kennzeichnen. Cusks „Outline“-Trilogie, bestehend aus den Romanen „Outline“ (2014), „Transit“ (2016) und „Kudos“ (2018), begründete eine Art eigenes Genre, das sich als möglichst teilnahmslose Beobachtung beschreiben lässt. Es gab darin eine Ich-Erzählerin, die Schriftstellerin war und auch in anderen Punkten an die Autorin erinnerte. Wesentlich aber war, dass ihr Leute teilweise recht irre Sachen erzählten, die sie im Buch wiedergibt. Diese sachlich gehaltenen Wiedergaben machen mehr oder weniger den Inhalt dieser drei Bücher aus. Das las sich merkwürdig, aufregend und irgendwie neu. Auch, weil Cusks Erzählton so etwas elegant Gelangweiltes hat. Als wäre entweder nichts oder alles gleich wichtig. Das Ganze spielt in privilegierten kreativen Milieus. Es geht viel um Kunst. Man fährt aufs Land. Denkt viel über sich selbst nach. Führt existenzielle Gespräche beim Spazierengehen.
Diesmal ist Cusks Ansatz noch radikaler: Sie habe einen abstrakten Roman schaffen wollen, sagte sie in Interviews. Also so etwas wie einen Rothko, nur mit den Mitteln der Sprache. Ganz ist ihr das (glücklicherweise) nicht geglückt. Aber es gibt nun auch keine einheitliche Erzählperspektive mehr, der Leser ist mehr oder weniger allein mit dem Text, weiß oft nicht, wer gerade spricht und ehrlich gesagt, allzu oft auch nicht, worüber. Es tauchen unterschiedliche Künstler im Buch auf, sie alle heißen G – ob sie nun an Baselitz erinnern, an Louise Bourgeois oder den Regisseur Éric Rohmer.
Immer wieder mal ragt eine Passage heraus, mit der die Zentren, die im Gehirn für narratives Denken zuständig sind, leichter etwas anfangen können. Einmal geht es zum Beispiel um Hebammen auf irgendeiner Insel, die Sterbewillige nachts mit einem Hammerschlag in den Tod befördern – wobei „geht es um“ bei Cusk halt immer bedeutet: Jemand erzählt davon. Anekdoten wie diese motivieren, dranzubleiben. Doch insgesamt ist „Parade“ eine enorm frustrierende Leseerfahrung. Man kämpft sich durch die Seiten und kann die Autorin nur dafür bestaunen, so frei von dem Wunsch zu sein, gerne gelesen zu werden.
In der englischen Originalfassung, die vor ein paar Wochen erschien, liest sich das Buch immerhin besser. Cusks Sprache ist extrem verdichtet. Was sie bisweilen in einen Satz packt, reicht anderen Autoren als Inhalt für ein ganzes Buch. Auf Englisch klingt das souverän, sogar beiläufig. Das Deutsche aber bewältigt eine solch hohe Informationsdichte nicht nebenbei. Es wird hier schnell sperrig. Und klingt dann so: „Die unvollständige, deformierte Freiheit seiner Frau hatte auf ihn eine lähmende Wirkung. Sie war nur wenige Meter entfernt, trotzdem konnte er sie weder benutzen noch loswerden: Ihretwegen war er nicht frei, er selbst zu sein. Was ihn lähmte, war ihre unentwickelte Gleichwertigkeit.“ Oder so: „In unserem Körper lebten wir wie in einem ständigen Ausnahmezustand. Wir verschlissen ihn bei dem Versuch, ihn entweder zu befriedigen oder zu ermüden. Uns in Schlaf oder Lust zu verlieren, gelang uns nie. Wir blieben schlaflos und wachsam.“ Das ist der holprige Sound dieses Buchs, das Rachel Cusks langjährige Übersetzerin Eva Bonné ins Deutsche übertragen hat, worum man sie nicht beneidet.
Es gibt mehrere Kapitel, die jeweils zwischen verschiedenen Ebenen hin und her springen. Manches wird auktorial erzählt, anderes in Ich- oder auch Wir-Form. So etwas wie eine Handlung gibt es natürlich nicht. Es sind eher nur Themen, die umkreist werden und gutmütige Rezensenten dazu verleiten könnten, zu behaupten, das Buch handle von Kunst. Oder von Gewalt. Von weiblicher Identität. Der Schwierigkeit, Künstlerin und Mutter zu sein. Von bewunderten Männern und sich unterwerfenden Frauen. Von Kapitalismus. Von allem ein bisschen. Oder, und auch das trifft zu: von gar nichts. Es sind einfach mehr oder weniger interessante aneinandergereihte Textpassagen – Gedanken, Anekdoten, Gespräche –, die assoziativ um diese Themen kreisen und sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie bedeutungsschwanger klingen. Die Bedeutung enthüllt sich dann allerdings nie, es kommt sozusagen nie zur Geburt, sondern der Text mäandert bedeutungsscheinschwanger vor sich hin.
Hinzu kommen viele merkwürdig misslungene Beschreibungen. „Sie verwechselte den Tod mit einem Kompliment, und als sie schließlich begriff, dass dieser dunkle Fremde kein Prinz war, sondern ein Mörder, gab es für sie kein Entkommen mehr.“ Oder: „David blickte schweigend auf seine Finger, die das Weinglas umklammert hielten wie aus eigenem Antrieb.“ Oder: „Seine Zerstreutheit hatte etwas Einstudiertes, als wäre sie eine vorgefertigte Reaktion auf Leute, die seine Autorität herausforderten.“ Es stehe bitte auf, wer sich darunter etwas vorstellen kann.
Was aber das größte Problem ist: Es macht einfach keinen Spaß, ein Buch zu lesen, das vorgibt, ein Roman zu sein, während es gleichzeitig an dessen Abschaffung arbeitet. Rachel Cusk hat einen leserfeindlichen Roman geschrieben. Sie verweigert sich jeder Erwartung, mit der Menschen normalerweise einen Roman aufschlagen. Sie tut das bewusst und mit Vorsatz. Es ist ein intellektuelles Experiment. Ein kühnes literarisches Unterfangen. Immerhin kein Mittelmaß.
Ihr
gelangweilter
Ton ist
merkwürdig
und
aufregend
Sie finde Sprache
„wirklich, wirklich
ermüdend“, sagte
die in Kanada geborene
Schriftstellerin
Rachel Cusk jüngst
in Paris, wo sie
inzwischen lebt.
Foto: M. Perez/Agencia EFE/Imago
Rachel Cusk: Parade.
Roman. Aus dem
Englischen von
Eva Bonné. Suhrkamp,
Berlin 2024. 171 Seiten,
25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2024Ein brutaler Schlag und was daraus folgte
Von Thomas David
Als Rachel Cusk im Frühjahr 2022 in einer Seitenstraße des Boulevard de Sébastopol von einer Frau angegriffen wurde, hatte sie den Schlüssel zu ihrem nächsten Buch noch nicht gefunden. Im Jahr zuvor war "Der andere Ort" erschienen, der Roman, den Cusk während des Lockdowns und der schweren Erkrankung ihres Ehemanns in ihrem Haus im nordenglischen Norfolk geschrieben hatte. Auf ihren Spaziergängen durch Paris war Cusk jetzt der Frage nachgegangen, ob es möglich sei, das malerische Verfahren der Inversion, das Georg Baselitz bekannt gemacht hatte, in die Literatur zu übertragen und in ihrem nächsten Roman gewissermaßen "auf dem Kopf" zu schreiben. Cusk hatte zuvor im Centre Pompidou eine Retrospektive gesehen, die Georg Baselitz gewidmet war.
Als ihr dann eine Fremde, die sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, einen brutalen Schlag versetzte und Cusk zuerst nicht wusste, ob ihr ein Dachziegel auf den Kopf gefallen oder sie von einem Auto angefahren worden war, da schien nicht nur ihr Leben bedroht. Auch das Gefühl der Freiheit war durch den heimtückischen Angriff erschüttert, das Cusk erfüllt hatte, seitdem sie ihr Haus in Norfolk verkauft und dem verhassten England im Protest gegen Boris Johnson und den Brexit den Rücken gekehrt hatte. Sie fühlte sich orientierungslos und verwirrt.
"Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, was dieses persönliche Erlebnis für meinen neuen Roman bedeutete", sagt Rachel Cusk heute. Sie sitzt in ihrer Wohnung im eleganten, nördlich der Seine gelegenen Stadtviertel Marais am Esstisch. Links die großen, einem ruhigen Innenhof zugewandten Fenster. Rechts die offene Küche, in der Cusks Ehemann, der Maler Siemon Scamell-Katz, am Herd steht und ein Omelett zubereitet. Weiter hinten ein Sofa und ein kleiner runder Tisch. Farbige Teppiche auf altem Eichenfußboden. Spiegel, die dem lichtdurchfluteten Raum zusätzliche Helligkeit verleihen. An einer rauen, vom Putz befreiten Wand hängen zwei große abstrakte Gemälde, in denen Scamell-Katz die Erinnerungen an die dunkle Landschaft seiner Kindheit verarbeitet hat, geprägt von der brutalen Unterdrückung eigener Wünsche und Instinkte.
So wie Highfield, das Haus an der Küste Norfolks, das Cusk und Scamell-Katz gemeinsam entworfen und gestaltet hatten, ist auch diese im dritten Stock gelegene und sich über schmale Treppen bis unters Dach erstreckende Pariser Wohnung ein friedliches Refugium. Die stilvolle Ordnung, in der jedes ausgesuchte Detail einen festen Platz zu haben scheint, zeuge von der Einigung, so Cusk, die sie mit ihrem eher unordentlichen und chaotischen Ehemann getroffen hat. Die Ordnung, mit der sich Cusk umgibt, ist Ausdruck eines ihr anerzogenen Kontrollbedürfnisses - und ebenfalls das Relikt einer Kindheit.
Einem fremden Besucher offenbart Cusks Pariser Wohnung das gleiche kompromisslose Formbewusstsein, das auch die Romane der 1967 in Kanada geborenen Schriftstellerin auszeichnet. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie in Los Angeles verbracht, bevor sie 1974 von ihren britischen Eltern ins englische Bury St Edmunds und in eine katholische Mädchenschule im nahen Cambridge verpflanzt wurde. Cusk fühlte sich noch als Studentin durch ihre Entwurzelung und Erziehung derart ausgelöscht, dass sie ihren ersten Roman "Saving Agnes" heimlich schrieb. Damit begann 1993 das Projekt ihrer künstlerischen Selbsterkundung. Die Stigmata von Scham und Schuld trägt sie bis heute.
In den vier Teilen ihres neuen Romans "Parade" beschreibt Cusk eine radikale Entwicklung weiblicher Selbstermächtigung. "Der Angriff auf der Straße", erklärt sie, "zeigte mir, dass Gewalt essenziell ist und eine Frau in der Lage sein muss, jemanden zu schlagen, bevor sie selbst zur Schöpferin werden kann." Das war der Schlüssel zum neuen Buch. Irgendwann sei ihr aufgegangen, dass es sich bei dem Angriff "um den Versuch einer Frau handeln könnte, sich auszudrücken". Cusk beschreibt, wie die davonlaufende Angreiferin noch einmal stehen bleibt und sich - "wie eine Künstlerin, die einen Schritt zurücktritt und ihr Werk bewundert" - nach der blutend am Boden kauernden Ich-Erzählerin umdreht. "Dies", so Cusk, "ist die erste Version einer Künstlerin, die einem ins Gesicht schlägt."
In "Parade" wechseln sich die Beobachtungen und Reflexionen der namenlosen Ich-Erzählerin ab mit fragmentarischen biographischen Skizzen verschiedener Künstlerinnen und Künstler namens "G", in denen neben Georg Baselitz etwa Louise Bourgeois, Paula Modersohn-Becker oder Filmemacher Éric Rohmer zu erkennen sind. Ein faszinierender Roman, der ähnlich wie ihre zwischen 2014 und 2018 erschienene "Outline"-Trilogie auch in formaler Hinsicht provoziert - und alle konventionellen Leseerwartungen an dekorative Beschreibungen von Figuren und Schauplätzen, an eine stringente Romanhandlung in den Wind schlägt. Cusk war schon beim Schreiben ihres Debütromans überzeugt, dass das Erfinden einer Handlung ihre literarische Selbsterkundung unterlaufen und sie damit einen ähnlichen Verrat an der Wahrheit begehen würde wie ihre Mutter - die das abhängige und unerfüllte Dasein als Hausfrau ihres Mannes kompensierte, indem sie die Familiengeschichte mit haltlosen Übertreibungen oder blanken Lügen ausschmückte.
Der verstörende Teil des neuen Romans, in dem Cusk über den Tod ihrer Mutter schreibt, zeugt vom gleichen, auf Authentizität und Wahrheit insistierenden Gestus, mit dem sich Cusk schon als Kind den mütterlichen Erfindungen widersetzt hat. Dieser Gestus hat dabei nichts von der Bekenntnishaftigkeit einer ausschließlich selbstbezogenen autofiktionalen Literatur. Der stille elterliche Hass und das strafende Schweigen, die das rebellische Kind auf sich zog, haben Cusk geprägt. Später fand das Widerhall in jener lähmenden öffentlichen Empörung, die 2001 Cusks schonungsloser Essay über ihre Mutterschaft und elf Jahre später ihr Memoir über das Scheitern ihrer zweiten Ehe auslösten. Das Image der "meistgehassten Schriftstellerin Großbritanniens" haftet ihrem Werk noch immer an.
In "Parade" hält die Ich-Erzählerin den rohen Angriff anfangs für ihre eigene Schuld und glaubt, er habe den Ursprung in ihr selbst. "Frauen können von dieser Gewalt nur dann verschont bleiben", so Cusk, "wenn sie eine Art falsches Selbst erschaffen, das diese Gewalt wie eine Stuntfrau stellvertretend für sie erfährt." Cusk trägt eine schwarze Bluse, eine schwarze Hose und weiße Sneaker. Auf dem Esstisch steht ein Blumenstrauß, auf dem Fensterbrett eine Plätzchenform in Gestalt des "Wanderers über dem Nebelmeer" - Cusk und Scamell-Katz haben sie von ihrem Besuch der Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Hamburg mitgebracht, als groteskes Beispiel für den Ausverkauf von Kunst. Als Cusk das Gurren der Taube hört, die draußen vor einem der geöffneten Fenster sitzt, steht sie auf, um sie zu verscheuchen. Cusk leidet an einer milden Form von Ornithophobie. Sie sagt: "Hau ab, Taube. Flieg niemals in mein Haus."
Dann erzählt sie von der Wohnung der Schauspielerin Kristin Scott-Thomas, in der sie und Scamell-Katz nach ihrem übereilten Umzug nach Paris vorübergehend Zuflucht fanden. Sie erzählt von einer anderen Wohnung im Marais, die sie nach kurzer Zeit wieder aufgegeben haben, um sich östlich von Limoges ein Haus auf dem Land zu kaufen. In ihrer jetzigen Pariser Wohnung leben die beiden erst seit vergangenem Herbst. Während Cusk einen Anruf ihrer Tochter Albertine entgegennimmt, kocht Scamell-Katz Kaffee - und erzählt von seinen neuen Bildern und vom Scheitern seines Versuchs, eine Pariser Stadtlandschaft zu malen, inspiriert von William Turners Londoner Ansichten. Nach dem Kaffee nimmt er seine Jacke, und wir fahren mit der Metro in sein Atelier im östlich von Paris gelegenen Montreuil.
"Als Rachel von der Frau angegriffen wurde, telefonierte sie gerade mit mir", erinnert sich Scamell-Katz. "Wir waren ins Gespräch vertieft, sodass sie der Schlag vollkommen unvorbereitet traf. Das Erlebnis war traumatisch, und sie meidet die Straße bis heute." Auf mehreren Staffeleien stehen die Bilder, an denen er gerade arbeitet: dünne Aluminiumtafeln, auf die Scamell-Katz zahlreiche hauchfeine Öl- und Lackschichten aufträgt, aus denen sich in einem langwierigen Prozess die besondere Wirkung seiner Gemälde ergibt. Auf einem Tisch die Schleifmaschine, mit der er die Spuren des Malprozesses von den Oberflächen der Bilder tilgt.
"Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, dass Rachel über dieses Erlebnis schreiben würde, weil es zu persönlich war und keine universelle Erfahrung zu repräsentieren schien - obwohl sich später herausstellte, dass die drogenabhängige Frau am Vortag eine andere Passantin auf gleiche Weise angegriffen hatte." In seinen alles Gegenständliche und Figurative transzendierenden Landschaftsdarstellungen, deren glatte Firnis keinen Pinselduktus, keine spezifische künstlerische Handschrift erkennen lässt, überwindet Scamell-Katz selbst die Subjektivität, um zu einer universellen Erfahrung des Erhabenen vorzudringen. Auf einer Staffelei ein weißes, von kaum wahrnehmbaren kreidigen Schatten durchzogenes älteres Bild: Scamell-Katz hat darauf seine Krankheit und die Todesnähe verarbeitet, die Ansicht von Leere und Nichts.
Seine Frau, erzählt er, habe sich gefragt, welche Bedeutung der Angriff hat und wie er sich als eine allgemeine menschliche Erfahrung erzählen lässt. "Es ist brillant, wie es Rachel in 'Parade' schließlich gelingt, das Persönliche zu überwinden und das eigene Erleben in etwas zu übersetzen, das eine allgemeine weibliche Erfahrung ausdrückt", sagt er. "Indem sie einen Weg gefunden hat, die Universalität zu verstehen, konnte sie die Gewalt des Angriffs sogar verzeihen. Die Gewalt dieses Angriffs", fügt er hinzu. "Denn ich glaube nicht, dass sie den Kritikern ihrer Bücher verzeiht." Das ablehnende Schweigen der Mutter, die Rachel Cusk noch auf dem Sterbebett ihre Liebe versagte und die Tochter mit der Ungewissheit über die wahre Natur ihrer Gefühle zurückließ, wirkt offenbar als Verletzung bis über den Tod hinaus.
"Als Kind hatte Siemon keinen freien Willen, und ich glaube, das hat ihn eine gewisse Demut gelehrt. Das Ungewöhnliche an seinen Bildern ist eine männliche Demut, von der ich glaube, dass sie der Schlüssel zur Zukunft ist." Erneuter Ortswechsel, Rachel Cusk sitzt inzwischen vor dem Café der Buchhandlung Shakespeare & Company an einem Tisch. Sie trägt ein weißes T-Shirt, eine große Sonnenbrille, die ihre Augen verbirgt. "Männliche Gewalt", behauptet Cusk, "ist viel unmittelbarer und destruktiver als die Gewalt von Frauen, und ich bin davon überzeugt, viele Männer haben in ihrem Innern ein Verlangen nach dieser Demut."
An den anderen Tischen vor allem Touristen, ein dicht gedrängtes Nebeneinander mit Blick auf Notre-Dame. Zwischen den Tischen zwei Tauben, die sich um Kuchenkrümel streiten. "Eines der Themen, das mich als Schriftstellerin immer interessiert hat und über das ich insbesondere in meinem letzten Roman geschrieben hatte", sagt Cusk, "ist die Tatsache, dass Frauen männliche Werte übernommen haben und voller männlicher Wahrnehmungen sind, weil sie sich Kunst von Männern angesehen oder die Bücher von Männern gelesen haben." In "Parade" erzählt sie von der Emanzipation einer authentischen weiblichen Stimme, von der künstlerischen Befreiung aus der männlichen Dominanz. "Die Frage ist, wie Frauen zu ihrer eigenen Wahrnehmung finden." Der brutale Schlag, den ihr die Angreiferin auf offener Straße versetzte, war ein Anfang.
Rachel Cusk, "Parade". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, 171 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Thomas David
Als Rachel Cusk im Frühjahr 2022 in einer Seitenstraße des Boulevard de Sébastopol von einer Frau angegriffen wurde, hatte sie den Schlüssel zu ihrem nächsten Buch noch nicht gefunden. Im Jahr zuvor war "Der andere Ort" erschienen, der Roman, den Cusk während des Lockdowns und der schweren Erkrankung ihres Ehemanns in ihrem Haus im nordenglischen Norfolk geschrieben hatte. Auf ihren Spaziergängen durch Paris war Cusk jetzt der Frage nachgegangen, ob es möglich sei, das malerische Verfahren der Inversion, das Georg Baselitz bekannt gemacht hatte, in die Literatur zu übertragen und in ihrem nächsten Roman gewissermaßen "auf dem Kopf" zu schreiben. Cusk hatte zuvor im Centre Pompidou eine Retrospektive gesehen, die Georg Baselitz gewidmet war.
Als ihr dann eine Fremde, die sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, einen brutalen Schlag versetzte und Cusk zuerst nicht wusste, ob ihr ein Dachziegel auf den Kopf gefallen oder sie von einem Auto angefahren worden war, da schien nicht nur ihr Leben bedroht. Auch das Gefühl der Freiheit war durch den heimtückischen Angriff erschüttert, das Cusk erfüllt hatte, seitdem sie ihr Haus in Norfolk verkauft und dem verhassten England im Protest gegen Boris Johnson und den Brexit den Rücken gekehrt hatte. Sie fühlte sich orientierungslos und verwirrt.
"Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, was dieses persönliche Erlebnis für meinen neuen Roman bedeutete", sagt Rachel Cusk heute. Sie sitzt in ihrer Wohnung im eleganten, nördlich der Seine gelegenen Stadtviertel Marais am Esstisch. Links die großen, einem ruhigen Innenhof zugewandten Fenster. Rechts die offene Küche, in der Cusks Ehemann, der Maler Siemon Scamell-Katz, am Herd steht und ein Omelett zubereitet. Weiter hinten ein Sofa und ein kleiner runder Tisch. Farbige Teppiche auf altem Eichenfußboden. Spiegel, die dem lichtdurchfluteten Raum zusätzliche Helligkeit verleihen. An einer rauen, vom Putz befreiten Wand hängen zwei große abstrakte Gemälde, in denen Scamell-Katz die Erinnerungen an die dunkle Landschaft seiner Kindheit verarbeitet hat, geprägt von der brutalen Unterdrückung eigener Wünsche und Instinkte.
So wie Highfield, das Haus an der Küste Norfolks, das Cusk und Scamell-Katz gemeinsam entworfen und gestaltet hatten, ist auch diese im dritten Stock gelegene und sich über schmale Treppen bis unters Dach erstreckende Pariser Wohnung ein friedliches Refugium. Die stilvolle Ordnung, in der jedes ausgesuchte Detail einen festen Platz zu haben scheint, zeuge von der Einigung, so Cusk, die sie mit ihrem eher unordentlichen und chaotischen Ehemann getroffen hat. Die Ordnung, mit der sich Cusk umgibt, ist Ausdruck eines ihr anerzogenen Kontrollbedürfnisses - und ebenfalls das Relikt einer Kindheit.
Einem fremden Besucher offenbart Cusks Pariser Wohnung das gleiche kompromisslose Formbewusstsein, das auch die Romane der 1967 in Kanada geborenen Schriftstellerin auszeichnet. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie in Los Angeles verbracht, bevor sie 1974 von ihren britischen Eltern ins englische Bury St Edmunds und in eine katholische Mädchenschule im nahen Cambridge verpflanzt wurde. Cusk fühlte sich noch als Studentin durch ihre Entwurzelung und Erziehung derart ausgelöscht, dass sie ihren ersten Roman "Saving Agnes" heimlich schrieb. Damit begann 1993 das Projekt ihrer künstlerischen Selbsterkundung. Die Stigmata von Scham und Schuld trägt sie bis heute.
In den vier Teilen ihres neuen Romans "Parade" beschreibt Cusk eine radikale Entwicklung weiblicher Selbstermächtigung. "Der Angriff auf der Straße", erklärt sie, "zeigte mir, dass Gewalt essenziell ist und eine Frau in der Lage sein muss, jemanden zu schlagen, bevor sie selbst zur Schöpferin werden kann." Das war der Schlüssel zum neuen Buch. Irgendwann sei ihr aufgegangen, dass es sich bei dem Angriff "um den Versuch einer Frau handeln könnte, sich auszudrücken". Cusk beschreibt, wie die davonlaufende Angreiferin noch einmal stehen bleibt und sich - "wie eine Künstlerin, die einen Schritt zurücktritt und ihr Werk bewundert" - nach der blutend am Boden kauernden Ich-Erzählerin umdreht. "Dies", so Cusk, "ist die erste Version einer Künstlerin, die einem ins Gesicht schlägt."
In "Parade" wechseln sich die Beobachtungen und Reflexionen der namenlosen Ich-Erzählerin ab mit fragmentarischen biographischen Skizzen verschiedener Künstlerinnen und Künstler namens "G", in denen neben Georg Baselitz etwa Louise Bourgeois, Paula Modersohn-Becker oder Filmemacher Éric Rohmer zu erkennen sind. Ein faszinierender Roman, der ähnlich wie ihre zwischen 2014 und 2018 erschienene "Outline"-Trilogie auch in formaler Hinsicht provoziert - und alle konventionellen Leseerwartungen an dekorative Beschreibungen von Figuren und Schauplätzen, an eine stringente Romanhandlung in den Wind schlägt. Cusk war schon beim Schreiben ihres Debütromans überzeugt, dass das Erfinden einer Handlung ihre literarische Selbsterkundung unterlaufen und sie damit einen ähnlichen Verrat an der Wahrheit begehen würde wie ihre Mutter - die das abhängige und unerfüllte Dasein als Hausfrau ihres Mannes kompensierte, indem sie die Familiengeschichte mit haltlosen Übertreibungen oder blanken Lügen ausschmückte.
Der verstörende Teil des neuen Romans, in dem Cusk über den Tod ihrer Mutter schreibt, zeugt vom gleichen, auf Authentizität und Wahrheit insistierenden Gestus, mit dem sich Cusk schon als Kind den mütterlichen Erfindungen widersetzt hat. Dieser Gestus hat dabei nichts von der Bekenntnishaftigkeit einer ausschließlich selbstbezogenen autofiktionalen Literatur. Der stille elterliche Hass und das strafende Schweigen, die das rebellische Kind auf sich zog, haben Cusk geprägt. Später fand das Widerhall in jener lähmenden öffentlichen Empörung, die 2001 Cusks schonungsloser Essay über ihre Mutterschaft und elf Jahre später ihr Memoir über das Scheitern ihrer zweiten Ehe auslösten. Das Image der "meistgehassten Schriftstellerin Großbritanniens" haftet ihrem Werk noch immer an.
In "Parade" hält die Ich-Erzählerin den rohen Angriff anfangs für ihre eigene Schuld und glaubt, er habe den Ursprung in ihr selbst. "Frauen können von dieser Gewalt nur dann verschont bleiben", so Cusk, "wenn sie eine Art falsches Selbst erschaffen, das diese Gewalt wie eine Stuntfrau stellvertretend für sie erfährt." Cusk trägt eine schwarze Bluse, eine schwarze Hose und weiße Sneaker. Auf dem Esstisch steht ein Blumenstrauß, auf dem Fensterbrett eine Plätzchenform in Gestalt des "Wanderers über dem Nebelmeer" - Cusk und Scamell-Katz haben sie von ihrem Besuch der Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Hamburg mitgebracht, als groteskes Beispiel für den Ausverkauf von Kunst. Als Cusk das Gurren der Taube hört, die draußen vor einem der geöffneten Fenster sitzt, steht sie auf, um sie zu verscheuchen. Cusk leidet an einer milden Form von Ornithophobie. Sie sagt: "Hau ab, Taube. Flieg niemals in mein Haus."
Dann erzählt sie von der Wohnung der Schauspielerin Kristin Scott-Thomas, in der sie und Scamell-Katz nach ihrem übereilten Umzug nach Paris vorübergehend Zuflucht fanden. Sie erzählt von einer anderen Wohnung im Marais, die sie nach kurzer Zeit wieder aufgegeben haben, um sich östlich von Limoges ein Haus auf dem Land zu kaufen. In ihrer jetzigen Pariser Wohnung leben die beiden erst seit vergangenem Herbst. Während Cusk einen Anruf ihrer Tochter Albertine entgegennimmt, kocht Scamell-Katz Kaffee - und erzählt von seinen neuen Bildern und vom Scheitern seines Versuchs, eine Pariser Stadtlandschaft zu malen, inspiriert von William Turners Londoner Ansichten. Nach dem Kaffee nimmt er seine Jacke, und wir fahren mit der Metro in sein Atelier im östlich von Paris gelegenen Montreuil.
"Als Rachel von der Frau angegriffen wurde, telefonierte sie gerade mit mir", erinnert sich Scamell-Katz. "Wir waren ins Gespräch vertieft, sodass sie der Schlag vollkommen unvorbereitet traf. Das Erlebnis war traumatisch, und sie meidet die Straße bis heute." Auf mehreren Staffeleien stehen die Bilder, an denen er gerade arbeitet: dünne Aluminiumtafeln, auf die Scamell-Katz zahlreiche hauchfeine Öl- und Lackschichten aufträgt, aus denen sich in einem langwierigen Prozess die besondere Wirkung seiner Gemälde ergibt. Auf einem Tisch die Schleifmaschine, mit der er die Spuren des Malprozesses von den Oberflächen der Bilder tilgt.
"Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, dass Rachel über dieses Erlebnis schreiben würde, weil es zu persönlich war und keine universelle Erfahrung zu repräsentieren schien - obwohl sich später herausstellte, dass die drogenabhängige Frau am Vortag eine andere Passantin auf gleiche Weise angegriffen hatte." In seinen alles Gegenständliche und Figurative transzendierenden Landschaftsdarstellungen, deren glatte Firnis keinen Pinselduktus, keine spezifische künstlerische Handschrift erkennen lässt, überwindet Scamell-Katz selbst die Subjektivität, um zu einer universellen Erfahrung des Erhabenen vorzudringen. Auf einer Staffelei ein weißes, von kaum wahrnehmbaren kreidigen Schatten durchzogenes älteres Bild: Scamell-Katz hat darauf seine Krankheit und die Todesnähe verarbeitet, die Ansicht von Leere und Nichts.
Seine Frau, erzählt er, habe sich gefragt, welche Bedeutung der Angriff hat und wie er sich als eine allgemeine menschliche Erfahrung erzählen lässt. "Es ist brillant, wie es Rachel in 'Parade' schließlich gelingt, das Persönliche zu überwinden und das eigene Erleben in etwas zu übersetzen, das eine allgemeine weibliche Erfahrung ausdrückt", sagt er. "Indem sie einen Weg gefunden hat, die Universalität zu verstehen, konnte sie die Gewalt des Angriffs sogar verzeihen. Die Gewalt dieses Angriffs", fügt er hinzu. "Denn ich glaube nicht, dass sie den Kritikern ihrer Bücher verzeiht." Das ablehnende Schweigen der Mutter, die Rachel Cusk noch auf dem Sterbebett ihre Liebe versagte und die Tochter mit der Ungewissheit über die wahre Natur ihrer Gefühle zurückließ, wirkt offenbar als Verletzung bis über den Tod hinaus.
"Als Kind hatte Siemon keinen freien Willen, und ich glaube, das hat ihn eine gewisse Demut gelehrt. Das Ungewöhnliche an seinen Bildern ist eine männliche Demut, von der ich glaube, dass sie der Schlüssel zur Zukunft ist." Erneuter Ortswechsel, Rachel Cusk sitzt inzwischen vor dem Café der Buchhandlung Shakespeare & Company an einem Tisch. Sie trägt ein weißes T-Shirt, eine große Sonnenbrille, die ihre Augen verbirgt. "Männliche Gewalt", behauptet Cusk, "ist viel unmittelbarer und destruktiver als die Gewalt von Frauen, und ich bin davon überzeugt, viele Männer haben in ihrem Innern ein Verlangen nach dieser Demut."
An den anderen Tischen vor allem Touristen, ein dicht gedrängtes Nebeneinander mit Blick auf Notre-Dame. Zwischen den Tischen zwei Tauben, die sich um Kuchenkrümel streiten. "Eines der Themen, das mich als Schriftstellerin immer interessiert hat und über das ich insbesondere in meinem letzten Roman geschrieben hatte", sagt Cusk, "ist die Tatsache, dass Frauen männliche Werte übernommen haben und voller männlicher Wahrnehmungen sind, weil sie sich Kunst von Männern angesehen oder die Bücher von Männern gelesen haben." In "Parade" erzählt sie von der Emanzipation einer authentischen weiblichen Stimme, von der künstlerischen Befreiung aus der männlichen Dominanz. "Die Frage ist, wie Frauen zu ihrer eigenen Wahrnehmung finden." Der brutale Schlag, den ihr die Angreiferin auf offener Straße versetzte, war ein Anfang.
Rachel Cusk, "Parade". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné. Suhrkamp Verlag, 171 Seiten, 25 Euro.
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