Toni Morrisons großes Epos über eine von Rassismus und Bigotterie bedrohte Gruppe von Frauen und die Folgen der Versklavung - mit einem erstmals
Oklahoma, Mitte der siebziger Jahre: In einem verlassenen Kloster suchen Frauen, Schwarze und weiße, Zuflucht. Sie sind Ausgestoßene aus der amerikanischen Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, voller Gegensätze wie Rassismus und Bürgerrechtsbewegung, Misogynie und Feminismus, Individualismus und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Das friedliche Leben im Kloster findet bald ein brutales Ende: Die Einwohner der benachbarten Stadt Ruby, Nachfahren ehemals versklavter Menschen, selbstgerecht und zutiefst patriarchal organisiert, nehmen Anstoß an der Freiheit und vermeintlichen Freizügigkeit der Frauen.
Nach Beloved und Jazz bildet Paradies den krönenden Abschluss von Toni Morrisons grandioser Trilogie über die Nachwirkungen der Versklavung in den USA. Ein so poetisches wie engagiertes literarisches Meisterwerk.
Oklahoma, Mitte der siebziger Jahre: In einem verlassenen Kloster suchen Frauen, Schwarze und weiße, Zuflucht. Sie sind Ausgestoßene aus der amerikanischen Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, voller Gegensätze wie Rassismus und Bürgerrechtsbewegung, Misogynie und Feminismus, Individualismus und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Das friedliche Leben im Kloster findet bald ein brutales Ende: Die Einwohner der benachbarten Stadt Ruby, Nachfahren ehemals versklavter Menschen, selbstgerecht und zutiefst patriarchal organisiert, nehmen Anstoß an der Freiheit und vermeintlichen Freizügigkeit der Frauen.
Nach Beloved und Jazz bildet Paradies den krönenden Abschluss von Toni Morrisons grandioser Trilogie über die Nachwirkungen der Versklavung in den USA. Ein so poetisches wie engagiertes literarisches Meisterwerk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Flugverbot im Garten Eden
Aristokratie der schwärzesten Haut: Toni Morrisons neuer Roman erzählt vom Rassismus innerhalb einer schwarzen Gemeinschaft / Von Hubert Spiegel
Dieses Buch endet mit einem großen P und einem kleinen Fehler. Auf der letzten Seite ihres neuen Romans, nachdem die Romanhandlung Jahrzehnte durchmessen hat und Dutzende von Figuren auf- und wieder abgetreten sind, ist der Nobelpreisträgerin Toni Morrison ein Malheur passiert: ein Fehler im allerletzten Wort. Ein winziges Detail, das kaum ein deutscher Leser bemerken wird, denn es ist nur in der im vorigen Jahr in Amerika erschienenen Originalausgabe enthalten: Toni Morrison, 1931 in Ohio als zweites von vier Kindern eines schwarzen Arbeiterehepaares geboren, Historikerin, Lektorin, Schriftstellerin, Lehrstuhlinhaberin in Princeton, Pulitzerpreisträgerin und Nobelpreisträgerin von 1993, hat das Wort "Paradise" mit einem großen P geschrieben und nicht, wie sie es sich vorgenommen hatte, mit einem kleinen. Eine Kleinigkeit? Gewiss, aber eine, in der die einzige gravierende Schwäche dieses beeindruckenden Romans eingeschlossen ist wie die Mücke im Bernstein. "Paradies" ist ein Buch ohne Kleinschreibung, ein Triumph der Großbuchstaben und ein Roman, in dem überall dort, wo Auslassungspunkte stehen sollten, der senkrechte Balken des Ausrufezeichens in den Himmel wächst.
Im Englischen ist der Unterschied zwischen einem großen und einem kleinen Anfang bei einem Wort wie "paradise" nicht unbedeutend. Der ganze Respekt vor der Verheißung des Wortes, die Hoffnung auf Erlösung und die Achtung vor der Heiligen Schrift finden Ausdruck im großen P. Es ist der Aussichtsturm, den man erklimmen muss, will man auf die fromme Erwartung ungezählter Generationen zurückschauen. Das kleine p hingegen ist das Loch im Zaun, ein Gartentörchen, durch das jeder unbemerkt schlüpfen kann: ein Hindernis, das keines ist.
Nach dem Erscheinen des Buches hat Toni Morrison erklärt, sie habe mit ihrem Roman das Paradies aus den Wolken holen wollen. Es solle zu einem Ort werden, der für jeden zugänglich ist, "für die Passagiere und für die Besatzung". Ein merkwürdiger Satz. Toni Morrison spricht vom Garten Eden, als handle es sich um einen Jumbojet mit Flugverbot. Tatsächlich gibt es in diesem Roman leitendes Personal, zahlende Gäste und blinde Passagiere, die für ihr Fernweh mit dem Leben bezahlen.
Das Massaker findet im Morgengrauen statt. Neun Männer haben sich auf den Weg gemacht, ein altes Herrenhaus, das so genannte Kloster, zu überfallen, in dem eine Gemeinschaft blinder Passagiere lebt, vier Außenseiterinnen, Ausgestoßene, gestrandet auf der Flucht vor sich selbst und den maroden Verhältnissen, aus denen sie kommen. Die Männer sind auf der Jagd, einer Hexenjagd, wie sie glauben, und am Ende des Romans kennen wir nicht nur die Gründe für die blutige Kleinbürgerrevolte im Paradies, sondern auch die Geschichten aller Beteiligten, der Opfer wie der Täter. Wie die früheren Romane "Jazz" (dt. 1993) oder "Menschenkind" (dt. 1989) besteht auch "Paradies" zu einem gut Teil aus der Beschreibung von Schicksalen und Lebensläufen. Ihre Summe fügt sich nicht nur zu den Porträts zweier Gemeinschaften, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, sondern erklärt auch, warum ein Paradies das andere mit Hass und Gewalt überzieht.
Das Herrenhaus der unheimlichen Frauen, die Drogen nehmen und seltsame Exerzitien der Selbsterfahrung in dessen Kellergewölben praktizieren, und Ruby, die benachbarte Kleinstadt mit ausschließlich schwarzer Bevölkerung, die von Spießbürgern bewohnt und von bornierten Patriarchen regiert wird, sind Refugien, Flucht- und Trutzburgen schwarzer Gemeinschaften, die auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel verfolgen: Sie bilden Schutzräume schwarzer Identität.
Die Vorgeschichte Rubys beginnt in den Jahren der "Reconstruction", jener Ära der amerikanischen Geschichte, als nach dem Ende des Bürgerkriegs die Sklaverei abgeschafft wurde und der Wiederaufbau eines verwüsteten Landes begann. Damals, im Jahr 1889, machten sich neun schwarze Familien auf den Weg, das Gelobte Land zu finden, ein Land, in dem Schwarze in Frieden und Freiheit unter ihresgleichen leben konnten. Aber auf ihrer Reise, die sie aus dem Süden nach Oklahoma führte, waren die 158 ehemaligen Sklaven "auf keinem Fußbreit Boden zwischen Yazoo und Fort Smith willkommen". Der Zug durch die amerikanische Wüste, der mit der Gründung von Haven, der Vorläufersiedlung von Ruby endet, wird als klassischer amerikanischer Gründungsmythos geschildert, als Aufbruch eines neuen erwählten Volkes ins Unbekannte, als Aufstieg einer Gemeinschaft, die sich selbst neu erfinden kann und erfinden muss, weil sie keine gemeinsamen Erinnerungen hat. Was die ehemaligen Sklaven verbindet, ist nicht Erinnerung, sondern Verdrängung. Die Überwindung der Scham vor der eigenen Geschichte, das zentrale Motiv im Werk der ersten schwarzen Preisträgerin in der Geschichte des Nobelpreises, ist auch in ihrem jüngsten Roman ein wichtiges Thema.
Erst im weiteren Verlauf des Buches wird erkennbar, dass der Gründungsmythos auch ein Gründungstrauma war: "Wohlhabende Indianer und verarmte Weiße wiesen sie ab, Hofhunde verjagten sie, Huren und Hurenbälger in Arbeitercamps riefen ihnen Schmähungen nach, aber nichts von alldem konnte sie auf die aggressive Ablehnung vorbereiten, mit der sie sich in den Negersiedlungen konfrontiert sahen, die bereits im Aufbau waren." Der Grund für diese letzte, unerwartete Ablehnung lag nicht in ihrer Hautfarbe, sondern in deren Tönung: Rubys Gründerväter waren tiefschwarz, schwärzer als andere Schwarze, von denen sie fortgejagt wurden. Diese frühe Verletzung, deren wahre Ursache in Ruby beharrlich verschwiegen wird, aber noch den Nachkommen im Kopf steckt "wie eine Gewehrkugel", führt zu einer klandestinen Aristokratie der schwärzesten Haut, zur Vorherrschaft der ältesten Familien und sogar zu Inzucht, um sie zu wahren.
Das Urtrauma definiert Grenzen und Gesetze der Gemeinde: "Weil ihnen die Welt auf ihrem Zug nach Oklahoma 1890 alles verweigert hatte, verweigerten die Bürger von Haven einander nichts, wachsam achteten sie auf jedes Zeichen von Mangel und Not." So wird Ruby zu einer verschworenen Gemeinschaft, eine schwarze Mittelstandsidylle mit einer ausgeprägten Law-and-order-Mentalität, die jederzeit umschlagen kann in die Xenophobie des Hinterwäldlers: Wer als Fremder nach Ruby kommt, kommt als Feind, ob er es will oder nicht.
Es sind die jungen Leute von Ruby, die in den sechziger Jahren gegen dieses Erbe aufbegehren. Unterstützt von Reverend Missner, einem der Geistlichen von Ruby, dem Einzigen, der nicht aus einer der alten Familien stammt, stellen sie Traditionen in Frage und beschwören schließlich fast einen Krieg der Alten gegen die Jungen herauf. Der Konflikt entzündet sich an der nur noch zum Teil leserlichen Inschrift auf dem Gemeinschaftsofen des Ortes, einer Art Bundeslade von Ruby.
Die Schilderung dieser Auseinandersetzung zählt zu den beeindruckendsten Passagen des Buches. Was vordergründig wie ein Gefecht um die Deutungshoheit über den Sinnspruch der Gründungsväter aussieht, ist in Wirklichkeit ein Ausläufer jenes Konflikts, der ganz Amerika erschütterte. In Ruby, wo es keine Weißen gibt, stellt sich die Rassenfrage in anderer Form: Darf die Gemeinde, wenn die Schwarzen des ganzen Landes um ihre Rechte kämpfen, in der selbst gewählten Isolation verharren?
Der Kampf um den Spruch auf dem Ofen zeigt die Fragen, die Toni Morrison erzählerisches Werk bewegen, wie in einer Nussschale: Wie wird Geschichte rekonstruiert, wer besitzt die Definitionshoheit über die Überlieferung, wer lenkt die Metamorphosen der Tradition, welche Verpflichtungen erwachsen aus einer Hautfarbe, die ihren Trägern immer auch eine Bürde ist? Der Roman "Menschenkind" schilderte den Kampf der entflohenen Sklavin Sethe um die Wiedergewinnung ihrer verdrängten Erinnerungen, in "Paradies" ist die Möglichkeit unmittelbarer Rekonstruktion nicht mehr gegeben: Die Inschrift auf dem Ofen ist unwiederbringlich zerstört, das Band der Geschichte zerrissen. Auch aus diesem Grund ist das Massaker an den Frauen im Kloster unausweichlich. Hier schlagen die Väter von Ruby jene Schlacht gegen das verhasste Fremde und Neue, die sie im Ort selbst nur um den Preis ihrer Söhne und Töchter schlagen könnten.
Paradies" ist Toni Morrisons siebenter Roman und ihre erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis von 1993. Nach seinem Erscheinen im vorigen Jahr ist der Roman von der amerikanischen Kritik als ihr bislang bestes Buch gefeiert worden, aber auch auf heftige Ablehnung gestoßen. Moniert wurden die Darstellung schwarzer männlicher Sexualität, das Fehlen zentraler Figuren und ungebrochen sympathischer Charaktere, die Vielzahl der Personen, der komplizierte Aufbau von Handlung, Genealogie und Erzählperspektive. Der Rezensent der "Financial Times" fühlte sich bei der Lektüre an ein Telefonbuch erinnert, bescheinigte der Autorin "erzählerische Inkompetenz" und bezeichnete ihre Erzähltechnik als "Form der Folter". Solche Urteile sind grotesk, zumal Morrisons seit je gerühmte Erzähltechnik, die zahlreiche Stimmen und Zeitebenen mit größter Geschmeidigkeit zusammenführt, in "Paradies" einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Allerdings ist das Buch tatsächlich nicht leicht zu lesen. Zwar beruhen die Konflikte auf simplen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten, Traditionalisten und Anhängern des Fortschritts. Aber wer den Überblick behalten will, ist versucht, auf eigene Faust Zeittafel und Personenverzeichnis anzulegen. Für die moralischen Postulate der Autorin empfiehlt sich eine eigene Liste.
Nie zuvor, so ist gesagt worden, habe Toni Morrison in einem ihrer Bücher eine feministischere Position bezogen. Darüber zu streiten wäre müßig, aber gewiss ist, dass unter all den seltsamen weiblichen Heiligen im Werk der Autorin diese vier einen Platz unmittelbar am Altar beanspruchen dürfen: Mavis, eine Mutter, die ihre beiden Säuglinge in der Sonnenglut im Auto hat ersticken lassen, während sie im klimatisierten Supermarkt Würstchen einkaufte, Gigi, die außer Sex nicht viel im Kopf hat, Seneca, die mit Sicherheitsnadeln Straßenpläne in ihre Haut einritzt, seitdem sie als Kind missbraucht wurde, Connie, eine blinde Seherin und katholische Voodoo-Priesterin und zuletzt die neue "Ehrwürdige Mutter" der verlorenen schwarzen Frauen. Toni Morrison beschreibt Verzweiflung, Depression und Leid ihrer Heldinnen, ihre Dummheit und Einfalt, ihre Weisheit und ihre Zauberkräfte. Diese Porträts sind mal liebevoll, mal spöttisch, aber zuletzt lässt die Nobelpreisträgerin alle Zurückhaltung fahren und steuert ungebremst auf eine Apotheose mit schwarzem Puderzucker zu. Wenn von der "Verzückung heiliger Frauen bei ihrem Tanz im warmen, süßen Regen" die Rede ist, prangt der Kitsch in Großbuchstaben.
Die Romane dieser großen Epikerin sind Versuche, die Dämonen des schwarzen Amerika zu bannen: die Vergangenheit in der Sklaverei, Hass und Gewalt zwischen den Rassen und den Geschlechtern. Der deutsche Leser sollte nicht vergessen, dass sie nicht für ein internationales Publikum, sondern für eine genau definierte, exklusive Leserschaft geschrieben sind. Der moralisch-didaktische Tonfall, Elemente, die Gospelmusik und die Rhetorik schwarzer Predigten ebenso zitieren wie die Schauergeschichten des "American Gothic", die "slave narrative" des neunzehnten Jahrhunderts oder die zynischen Abrechnungen mit dem schwarzen Binnenrassismus der "Harlem Renaissance" Ende der zwanziger Jahre - all dies ist für den deutschen Leser nicht auf Anhieb nachvollziehbar. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, begegnet in "Paradies" nicht nur der wichtigsten Stimme schwarzer Literatur Amerikas, sondern einer der großen Stimmen der Weltliteratur.
Toni Morrison: "Paradies". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 495 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aristokratie der schwärzesten Haut: Toni Morrisons neuer Roman erzählt vom Rassismus innerhalb einer schwarzen Gemeinschaft / Von Hubert Spiegel
Dieses Buch endet mit einem großen P und einem kleinen Fehler. Auf der letzten Seite ihres neuen Romans, nachdem die Romanhandlung Jahrzehnte durchmessen hat und Dutzende von Figuren auf- und wieder abgetreten sind, ist der Nobelpreisträgerin Toni Morrison ein Malheur passiert: ein Fehler im allerletzten Wort. Ein winziges Detail, das kaum ein deutscher Leser bemerken wird, denn es ist nur in der im vorigen Jahr in Amerika erschienenen Originalausgabe enthalten: Toni Morrison, 1931 in Ohio als zweites von vier Kindern eines schwarzen Arbeiterehepaares geboren, Historikerin, Lektorin, Schriftstellerin, Lehrstuhlinhaberin in Princeton, Pulitzerpreisträgerin und Nobelpreisträgerin von 1993, hat das Wort "Paradise" mit einem großen P geschrieben und nicht, wie sie es sich vorgenommen hatte, mit einem kleinen. Eine Kleinigkeit? Gewiss, aber eine, in der die einzige gravierende Schwäche dieses beeindruckenden Romans eingeschlossen ist wie die Mücke im Bernstein. "Paradies" ist ein Buch ohne Kleinschreibung, ein Triumph der Großbuchstaben und ein Roman, in dem überall dort, wo Auslassungspunkte stehen sollten, der senkrechte Balken des Ausrufezeichens in den Himmel wächst.
Im Englischen ist der Unterschied zwischen einem großen und einem kleinen Anfang bei einem Wort wie "paradise" nicht unbedeutend. Der ganze Respekt vor der Verheißung des Wortes, die Hoffnung auf Erlösung und die Achtung vor der Heiligen Schrift finden Ausdruck im großen P. Es ist der Aussichtsturm, den man erklimmen muss, will man auf die fromme Erwartung ungezählter Generationen zurückschauen. Das kleine p hingegen ist das Loch im Zaun, ein Gartentörchen, durch das jeder unbemerkt schlüpfen kann: ein Hindernis, das keines ist.
Nach dem Erscheinen des Buches hat Toni Morrison erklärt, sie habe mit ihrem Roman das Paradies aus den Wolken holen wollen. Es solle zu einem Ort werden, der für jeden zugänglich ist, "für die Passagiere und für die Besatzung". Ein merkwürdiger Satz. Toni Morrison spricht vom Garten Eden, als handle es sich um einen Jumbojet mit Flugverbot. Tatsächlich gibt es in diesem Roman leitendes Personal, zahlende Gäste und blinde Passagiere, die für ihr Fernweh mit dem Leben bezahlen.
Das Massaker findet im Morgengrauen statt. Neun Männer haben sich auf den Weg gemacht, ein altes Herrenhaus, das so genannte Kloster, zu überfallen, in dem eine Gemeinschaft blinder Passagiere lebt, vier Außenseiterinnen, Ausgestoßene, gestrandet auf der Flucht vor sich selbst und den maroden Verhältnissen, aus denen sie kommen. Die Männer sind auf der Jagd, einer Hexenjagd, wie sie glauben, und am Ende des Romans kennen wir nicht nur die Gründe für die blutige Kleinbürgerrevolte im Paradies, sondern auch die Geschichten aller Beteiligten, der Opfer wie der Täter. Wie die früheren Romane "Jazz" (dt. 1993) oder "Menschenkind" (dt. 1989) besteht auch "Paradies" zu einem gut Teil aus der Beschreibung von Schicksalen und Lebensläufen. Ihre Summe fügt sich nicht nur zu den Porträts zweier Gemeinschaften, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, sondern erklärt auch, warum ein Paradies das andere mit Hass und Gewalt überzieht.
Das Herrenhaus der unheimlichen Frauen, die Drogen nehmen und seltsame Exerzitien der Selbsterfahrung in dessen Kellergewölben praktizieren, und Ruby, die benachbarte Kleinstadt mit ausschließlich schwarzer Bevölkerung, die von Spießbürgern bewohnt und von bornierten Patriarchen regiert wird, sind Refugien, Flucht- und Trutzburgen schwarzer Gemeinschaften, die auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel verfolgen: Sie bilden Schutzräume schwarzer Identität.
Die Vorgeschichte Rubys beginnt in den Jahren der "Reconstruction", jener Ära der amerikanischen Geschichte, als nach dem Ende des Bürgerkriegs die Sklaverei abgeschafft wurde und der Wiederaufbau eines verwüsteten Landes begann. Damals, im Jahr 1889, machten sich neun schwarze Familien auf den Weg, das Gelobte Land zu finden, ein Land, in dem Schwarze in Frieden und Freiheit unter ihresgleichen leben konnten. Aber auf ihrer Reise, die sie aus dem Süden nach Oklahoma führte, waren die 158 ehemaligen Sklaven "auf keinem Fußbreit Boden zwischen Yazoo und Fort Smith willkommen". Der Zug durch die amerikanische Wüste, der mit der Gründung von Haven, der Vorläufersiedlung von Ruby endet, wird als klassischer amerikanischer Gründungsmythos geschildert, als Aufbruch eines neuen erwählten Volkes ins Unbekannte, als Aufstieg einer Gemeinschaft, die sich selbst neu erfinden kann und erfinden muss, weil sie keine gemeinsamen Erinnerungen hat. Was die ehemaligen Sklaven verbindet, ist nicht Erinnerung, sondern Verdrängung. Die Überwindung der Scham vor der eigenen Geschichte, das zentrale Motiv im Werk der ersten schwarzen Preisträgerin in der Geschichte des Nobelpreises, ist auch in ihrem jüngsten Roman ein wichtiges Thema.
Erst im weiteren Verlauf des Buches wird erkennbar, dass der Gründungsmythos auch ein Gründungstrauma war: "Wohlhabende Indianer und verarmte Weiße wiesen sie ab, Hofhunde verjagten sie, Huren und Hurenbälger in Arbeitercamps riefen ihnen Schmähungen nach, aber nichts von alldem konnte sie auf die aggressive Ablehnung vorbereiten, mit der sie sich in den Negersiedlungen konfrontiert sahen, die bereits im Aufbau waren." Der Grund für diese letzte, unerwartete Ablehnung lag nicht in ihrer Hautfarbe, sondern in deren Tönung: Rubys Gründerväter waren tiefschwarz, schwärzer als andere Schwarze, von denen sie fortgejagt wurden. Diese frühe Verletzung, deren wahre Ursache in Ruby beharrlich verschwiegen wird, aber noch den Nachkommen im Kopf steckt "wie eine Gewehrkugel", führt zu einer klandestinen Aristokratie der schwärzesten Haut, zur Vorherrschaft der ältesten Familien und sogar zu Inzucht, um sie zu wahren.
Das Urtrauma definiert Grenzen und Gesetze der Gemeinde: "Weil ihnen die Welt auf ihrem Zug nach Oklahoma 1890 alles verweigert hatte, verweigerten die Bürger von Haven einander nichts, wachsam achteten sie auf jedes Zeichen von Mangel und Not." So wird Ruby zu einer verschworenen Gemeinschaft, eine schwarze Mittelstandsidylle mit einer ausgeprägten Law-and-order-Mentalität, die jederzeit umschlagen kann in die Xenophobie des Hinterwäldlers: Wer als Fremder nach Ruby kommt, kommt als Feind, ob er es will oder nicht.
Es sind die jungen Leute von Ruby, die in den sechziger Jahren gegen dieses Erbe aufbegehren. Unterstützt von Reverend Missner, einem der Geistlichen von Ruby, dem Einzigen, der nicht aus einer der alten Familien stammt, stellen sie Traditionen in Frage und beschwören schließlich fast einen Krieg der Alten gegen die Jungen herauf. Der Konflikt entzündet sich an der nur noch zum Teil leserlichen Inschrift auf dem Gemeinschaftsofen des Ortes, einer Art Bundeslade von Ruby.
Die Schilderung dieser Auseinandersetzung zählt zu den beeindruckendsten Passagen des Buches. Was vordergründig wie ein Gefecht um die Deutungshoheit über den Sinnspruch der Gründungsväter aussieht, ist in Wirklichkeit ein Ausläufer jenes Konflikts, der ganz Amerika erschütterte. In Ruby, wo es keine Weißen gibt, stellt sich die Rassenfrage in anderer Form: Darf die Gemeinde, wenn die Schwarzen des ganzen Landes um ihre Rechte kämpfen, in der selbst gewählten Isolation verharren?
Der Kampf um den Spruch auf dem Ofen zeigt die Fragen, die Toni Morrison erzählerisches Werk bewegen, wie in einer Nussschale: Wie wird Geschichte rekonstruiert, wer besitzt die Definitionshoheit über die Überlieferung, wer lenkt die Metamorphosen der Tradition, welche Verpflichtungen erwachsen aus einer Hautfarbe, die ihren Trägern immer auch eine Bürde ist? Der Roman "Menschenkind" schilderte den Kampf der entflohenen Sklavin Sethe um die Wiedergewinnung ihrer verdrängten Erinnerungen, in "Paradies" ist die Möglichkeit unmittelbarer Rekonstruktion nicht mehr gegeben: Die Inschrift auf dem Ofen ist unwiederbringlich zerstört, das Band der Geschichte zerrissen. Auch aus diesem Grund ist das Massaker an den Frauen im Kloster unausweichlich. Hier schlagen die Väter von Ruby jene Schlacht gegen das verhasste Fremde und Neue, die sie im Ort selbst nur um den Preis ihrer Söhne und Töchter schlagen könnten.
Paradies" ist Toni Morrisons siebenter Roman und ihre erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis von 1993. Nach seinem Erscheinen im vorigen Jahr ist der Roman von der amerikanischen Kritik als ihr bislang bestes Buch gefeiert worden, aber auch auf heftige Ablehnung gestoßen. Moniert wurden die Darstellung schwarzer männlicher Sexualität, das Fehlen zentraler Figuren und ungebrochen sympathischer Charaktere, die Vielzahl der Personen, der komplizierte Aufbau von Handlung, Genealogie und Erzählperspektive. Der Rezensent der "Financial Times" fühlte sich bei der Lektüre an ein Telefonbuch erinnert, bescheinigte der Autorin "erzählerische Inkompetenz" und bezeichnete ihre Erzähltechnik als "Form der Folter". Solche Urteile sind grotesk, zumal Morrisons seit je gerühmte Erzähltechnik, die zahlreiche Stimmen und Zeitebenen mit größter Geschmeidigkeit zusammenführt, in "Paradies" einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Allerdings ist das Buch tatsächlich nicht leicht zu lesen. Zwar beruhen die Konflikte auf simplen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten, Traditionalisten und Anhängern des Fortschritts. Aber wer den Überblick behalten will, ist versucht, auf eigene Faust Zeittafel und Personenverzeichnis anzulegen. Für die moralischen Postulate der Autorin empfiehlt sich eine eigene Liste.
Nie zuvor, so ist gesagt worden, habe Toni Morrison in einem ihrer Bücher eine feministischere Position bezogen. Darüber zu streiten wäre müßig, aber gewiss ist, dass unter all den seltsamen weiblichen Heiligen im Werk der Autorin diese vier einen Platz unmittelbar am Altar beanspruchen dürfen: Mavis, eine Mutter, die ihre beiden Säuglinge in der Sonnenglut im Auto hat ersticken lassen, während sie im klimatisierten Supermarkt Würstchen einkaufte, Gigi, die außer Sex nicht viel im Kopf hat, Seneca, die mit Sicherheitsnadeln Straßenpläne in ihre Haut einritzt, seitdem sie als Kind missbraucht wurde, Connie, eine blinde Seherin und katholische Voodoo-Priesterin und zuletzt die neue "Ehrwürdige Mutter" der verlorenen schwarzen Frauen. Toni Morrison beschreibt Verzweiflung, Depression und Leid ihrer Heldinnen, ihre Dummheit und Einfalt, ihre Weisheit und ihre Zauberkräfte. Diese Porträts sind mal liebevoll, mal spöttisch, aber zuletzt lässt die Nobelpreisträgerin alle Zurückhaltung fahren und steuert ungebremst auf eine Apotheose mit schwarzem Puderzucker zu. Wenn von der "Verzückung heiliger Frauen bei ihrem Tanz im warmen, süßen Regen" die Rede ist, prangt der Kitsch in Großbuchstaben.
Die Romane dieser großen Epikerin sind Versuche, die Dämonen des schwarzen Amerika zu bannen: die Vergangenheit in der Sklaverei, Hass und Gewalt zwischen den Rassen und den Geschlechtern. Der deutsche Leser sollte nicht vergessen, dass sie nicht für ein internationales Publikum, sondern für eine genau definierte, exklusive Leserschaft geschrieben sind. Der moralisch-didaktische Tonfall, Elemente, die Gospelmusik und die Rhetorik schwarzer Predigten ebenso zitieren wie die Schauergeschichten des "American Gothic", die "slave narrative" des neunzehnten Jahrhunderts oder die zynischen Abrechnungen mit dem schwarzen Binnenrassismus der "Harlem Renaissance" Ende der zwanziger Jahre - all dies ist für den deutschen Leser nicht auf Anhieb nachvollziehbar. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, begegnet in "Paradies" nicht nur der wichtigsten Stimme schwarzer Literatur Amerikas, sondern einer der großen Stimmen der Weltliteratur.
Toni Morrison: "Paradies". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 495 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein intensives Leseerlebnis, das in seiner poetischen Kraft seinesgleichen sucht. Frankfurter Rundschau