Wegweisende Essays von Norbert Miller zu seinem 75. Geburtstag am 14. Mai 2012.Norbert Miller hat in den letzten 50 Jahren wichtige Impulse für die Literatur- und Kunstgeschichte gegeben. Schon seine Dissertation »Der empfindsame Erzähler« über die Romananfänge des 18. Jahrhunderts hat Generationen von Studenten begleitet.Dieser Band enthält acht Essays zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert - von Daniel Defoe und dem Paradox des Romanciers, der keine Romane schreiben wollte, bis zum Lyriker W. H. Auden als großem Opernlibrettisten. Daneben stehen Studien zu Grundfragen der Kulturgeschichte: zum Griechenstreit, der den europäischen Klassizismus revolutionierte, zu Garten und Landschaft um 1800 (erschrieben von Jean Paul), zur unheimlichen Verlebendigung der Sphinx in ihrem Schauen und zur erfundenen Wirklichkeit in der Literatur und ihrer Rückstrahlung ins Leben. Essays über Dr. Jekyll und Mr. Hyde sowie über die Vertauschung von Innen- und Außenraum beschließen den Band. Ergänzt wird er durch eine Bibliographie der Schriften des Verfassers.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lehrreich findet der Rezensent sie sowieso, die Essays des großen Komparatisten Norbert Miller. Dass sie auch imstande sind, die Neugier zu wecken, auf W. H. Auden, Daniel Defoe oder die Schicksale literarischer Einbildungskraft, das weiß er spätestens seit der Lektüre der hier erstmals bibliografierten acht Essays aus dem riesigen Gesamtwerk des Autors. Besonders schätzt Jens Bisky Miller für seine Gerechtigkeit im Urteil, das, wie er bewundernd feststellt, nie ohne Vergewisserung der Motive und Eigenarten des jeweiligen Autors gefällt würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2012Siebenkäs aus Bayreuth
Die Welt ist doch genug: Essays von Norbert Miller
Norbert Miller ist ein Grenzgänger. Seine Arbeiten zur bildenden Kunst und zur Musik stehen gleichrangig neben seinen literarischen Erkundungen. Erwähnt seien beispielhaft nur sein Buch zu Piranesi oder seine mit Carl Dahlhaus unternommene Vermessung der europäischen Romantik in der Musik. Dabei ist es aber keineswegs so, dass der Germanist Miller sein Handwerk nicht von der Pike auf gelernt hätte. Seine bis heute maßgebliche Jean-Paul-Ausgabe steht hierfür ebenso ein wie seine Beiträge zur Münchner Goethe-Ausgabe und hier vor allem die umfassende Erschließung von Goethes Italienischer Reise.
Gleichwohl überrascht die Weite des Blickwinkels auch in komparatistischer Hinsicht, wenn man den Essayband zur Hand nimmt, den Millers Schüler herausgegeben haben. Daniel Defoe oder Robert Louis Stevenson, W. H. Auden oder Jules Verne treten hier gleichberechtigt neben Goethe und Jean Paul, von Winckelmann und Caylus ganz zu schweigen. Es sind Arbeiten aus vier Jahrzehnten, die eine breite Belesenheit und eine umfassende Neugierde ebenso verraten wie Distanz zu modischen Theorien oder sperrigem Fachjargon. Der Untertitel "Essays" scheint zunächst gewagt, doch zeigt sich beim näheren Hinsehen sehr wohl, dass es sich nur selten um akademische Aufsätze im engeren Sinne handelt, sondern vielmehr um selbständige Erkundungen von Themenkomplexen und Ideen.
Ein grundlegendes "Paradox", so der erste Teil des Buchtitels, zeigt Miller anlässlich der Autorpersönlichkeit Daniel Defoes auf. Wie kann es sein, dass jemand, "der nach seinen Anlagen und durch seine Erziehung als Dissenter von Kindesbeinen an aller nicht-geistlichen Poesie kritisch und feindlich gegenüberstand", mit seinem Erfolgsbuch "Robinson Crusoe" zum Schöpfer des realistischen Romans wurde? Miller weist hier auf biographische Weichenstellungen, die Abkehr Defoes von tagespolitischen Stellungnahmen und seine zunehmende politische Resignation, ebenso hin wie auf Defoes Rückkehr zu Träumen von fernen Kauffahrten in seiner Jugendzeit. In seinen eigenen Augen verfasste er zudem keine Romane, sondern "mögliche, denkbare Reiseberichte, wahrscheinliche Lebensläufe von Emanationen seiner selbst". So absurd es erscheint, dass ein Romanautor sich in seinen Einlassungen gegen das Romanhafte ausspricht - bei Defoe ist dies tatsächlich ernst gemeint und nicht nur ein literarisches Spiel gewesen wie etwa später in den Romanen Wielands.
Der zweite Bestandteil des Buchtitels, "Wunderschachtel", ist in seiner schillernden Vieldeutigkeit schwerer zuzuordnen. Er steht vielleicht allgemein für Kunst und Literatur, charakterisiert aber auf jeden Fall die inkommensurablen Romane Jean Pauls zutreffend. Norbert Miller erkundet in seiner souveränen Kenntnis des Gesamtwerks dessen Gärten und Landschaften und zeigt auf, in welch inszenierter Naturkulisse Jean Paul seine großen Szenen spielen lässt. Geht es in der "Unsichtbaren Loge", im "Hesperus" und im "Titan" um rein imaginierte, ferne Landschaften, die der wenig gereiste Jean Paul nie mit eigenen Augen gesehen hat, so bilden die zahlreichen berühmten Bayreuther Gärten den Hintergrund für die Welt des Romans "Siebenkäs".
Entscheidend ist aber keine Abbildhaftigkeit oder ein Wetteifern mit Reisebeschreibungen, sondern entscheidend ist die subjektive Zeichnung und die poetische Inszenierung. Die eigene Anschauung, und dies mutet abermals paradox an, wird als eher hinderlich angesehen, im Zentrum steht die Beschreibung aus der Phantasie heraus. Nicht als Paradox, sondern als wahre Wunderschachtel entpuppt sich schließlich das akribische Publikationsverzeichnis am Ende des Buches, das auf über fünfzig Seiten Norbert Millers immense Produktivität dokumentiert.
THOMAS MEISSNER
Norbert Miller: "Paradox und Wunderschachtel". Essays.
Hrsg. von Markus Bernauer u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 309 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Welt ist doch genug: Essays von Norbert Miller
Norbert Miller ist ein Grenzgänger. Seine Arbeiten zur bildenden Kunst und zur Musik stehen gleichrangig neben seinen literarischen Erkundungen. Erwähnt seien beispielhaft nur sein Buch zu Piranesi oder seine mit Carl Dahlhaus unternommene Vermessung der europäischen Romantik in der Musik. Dabei ist es aber keineswegs so, dass der Germanist Miller sein Handwerk nicht von der Pike auf gelernt hätte. Seine bis heute maßgebliche Jean-Paul-Ausgabe steht hierfür ebenso ein wie seine Beiträge zur Münchner Goethe-Ausgabe und hier vor allem die umfassende Erschließung von Goethes Italienischer Reise.
Gleichwohl überrascht die Weite des Blickwinkels auch in komparatistischer Hinsicht, wenn man den Essayband zur Hand nimmt, den Millers Schüler herausgegeben haben. Daniel Defoe oder Robert Louis Stevenson, W. H. Auden oder Jules Verne treten hier gleichberechtigt neben Goethe und Jean Paul, von Winckelmann und Caylus ganz zu schweigen. Es sind Arbeiten aus vier Jahrzehnten, die eine breite Belesenheit und eine umfassende Neugierde ebenso verraten wie Distanz zu modischen Theorien oder sperrigem Fachjargon. Der Untertitel "Essays" scheint zunächst gewagt, doch zeigt sich beim näheren Hinsehen sehr wohl, dass es sich nur selten um akademische Aufsätze im engeren Sinne handelt, sondern vielmehr um selbständige Erkundungen von Themenkomplexen und Ideen.
Ein grundlegendes "Paradox", so der erste Teil des Buchtitels, zeigt Miller anlässlich der Autorpersönlichkeit Daniel Defoes auf. Wie kann es sein, dass jemand, "der nach seinen Anlagen und durch seine Erziehung als Dissenter von Kindesbeinen an aller nicht-geistlichen Poesie kritisch und feindlich gegenüberstand", mit seinem Erfolgsbuch "Robinson Crusoe" zum Schöpfer des realistischen Romans wurde? Miller weist hier auf biographische Weichenstellungen, die Abkehr Defoes von tagespolitischen Stellungnahmen und seine zunehmende politische Resignation, ebenso hin wie auf Defoes Rückkehr zu Träumen von fernen Kauffahrten in seiner Jugendzeit. In seinen eigenen Augen verfasste er zudem keine Romane, sondern "mögliche, denkbare Reiseberichte, wahrscheinliche Lebensläufe von Emanationen seiner selbst". So absurd es erscheint, dass ein Romanautor sich in seinen Einlassungen gegen das Romanhafte ausspricht - bei Defoe ist dies tatsächlich ernst gemeint und nicht nur ein literarisches Spiel gewesen wie etwa später in den Romanen Wielands.
Der zweite Bestandteil des Buchtitels, "Wunderschachtel", ist in seiner schillernden Vieldeutigkeit schwerer zuzuordnen. Er steht vielleicht allgemein für Kunst und Literatur, charakterisiert aber auf jeden Fall die inkommensurablen Romane Jean Pauls zutreffend. Norbert Miller erkundet in seiner souveränen Kenntnis des Gesamtwerks dessen Gärten und Landschaften und zeigt auf, in welch inszenierter Naturkulisse Jean Paul seine großen Szenen spielen lässt. Geht es in der "Unsichtbaren Loge", im "Hesperus" und im "Titan" um rein imaginierte, ferne Landschaften, die der wenig gereiste Jean Paul nie mit eigenen Augen gesehen hat, so bilden die zahlreichen berühmten Bayreuther Gärten den Hintergrund für die Welt des Romans "Siebenkäs".
Entscheidend ist aber keine Abbildhaftigkeit oder ein Wetteifern mit Reisebeschreibungen, sondern entscheidend ist die subjektive Zeichnung und die poetische Inszenierung. Die eigene Anschauung, und dies mutet abermals paradox an, wird als eher hinderlich angesehen, im Zentrum steht die Beschreibung aus der Phantasie heraus. Nicht als Paradox, sondern als wahre Wunderschachtel entpuppt sich schließlich das akribische Publikationsverzeichnis am Ende des Buches, das auf über fünfzig Seiten Norbert Millers immense Produktivität dokumentiert.
THOMAS MEISSNER
Norbert Miller: "Paradox und Wunderschachtel". Essays.
Hrsg. von Markus Bernauer u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 309 S., geb., 24,- [Euro].
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