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Yuri Slezkine steht mit diesem Essay in einer Reihe von Interpretationen, die den Zusammenhang von gesellschaftlicher Minderheit und sozialem Erfolg im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Gegenstand ihrer Analyse gemacht haben. Die Faszination, die von seinem glänzend geschriebenen Essay ausgeht, liegt darin, dass er die vornehmlich 'ethnisch' eingeschliffene Argumentation durch Universalisierungen auflöst und aufzeigt, wie als 'jüdisch' erachtete Sekundärtugenden der Moderne sich verallgemeinern und so auf ihren historischen Begriff gebracht werden. Mit seiner These von der…mehr

Produktbeschreibung
Yuri Slezkine steht mit diesem Essay in einer Reihe von Interpretationen, die den Zusammenhang von gesellschaftlicher Minderheit und sozialem Erfolg im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Gegenstand ihrer Analyse gemacht haben. Die Faszination, die von seinem glänzend geschriebenen Essay ausgeht, liegt darin, dass er die vornehmlich 'ethnisch' eingeschliffene Argumentation durch Universalisierungen auflöst und aufzeigt, wie als 'jüdisch' erachtete Sekundärtugenden der Moderne sich verallgemeinern und so auf ihren historischen Begriff gebracht werden. Mit seiner These von der 'merkurischen' Moderne, einer Welt, in der schließlich alle 'jüdisch' geworden sind, zeigt Slezkine, wie sich im europäischen Fin de Siècle sozialer Habitus in ethnische Differenz rationalisierte. An literarischen Beispielen - Kafka, Proust, Joyce - zeichnet er die jüdischen und nichtjüdischen Varianten einer Tendenz nach, die sich im Falle der Juden in drei Richtungen entwickelte: In Richtung des Kommunismus, des Zionismus und des pluralistischen, multiethnischen Liberalismus Amerikas. Slezkines Essay ist ein kontroverser Beitrag zum noch unausgeschöpften Potential jüdischer Geschichtserfahrung.
Autorenporträt
Yuri Slezkine ist Professor für Russische Geschichte an der University of Berkeley, California.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2005

Mal wieder an allem schuld
Yuri Slezkines irritierendes Pamphlet zur jüdischen Geschichte

Der erste Band der von Dan Diner, dem Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, neu herausgegebenen Reihe "Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur", die nach dem hebräischen Wort für Wissen "toldot" benannt worden ist, erschien dieses Jahr unter dem Titel "Synchrone Welten. Zeiträume jüdischer Geschichte". Der damalige Band vereinigt Artikel, die in größerer Form und vollständiger zu einem späteren Zeitpunkt der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollen: Aus ihnen werden "in Zukunft größere Monographien hervorgehen, deren Autorinnen und Autoren hier Ausschnitte des Themas vorstellen". Die Beiträge, auch wenn sie zum Teil sehr eindrucksvoll sind wie der von Nicolas Berg über die Geschichte des Begriffs "Luftmenschen", können also als Fragmente angesehen werden, unvollendete Versprechen auf die Zukunft.

Der hier zu besprechende zweite Band unter dem Titel "Paradoxe Moderne" ist die Übersetzung des zweiten Kapitels ("Swann's Nose: The Jews and Other Moderns") aus dem 2004 in Princeton erschienenen Buch "The Jewish Century" von Yuri Slezkine. Dieses zweite Buch der neuen Reihe ist also nicht, wie sein Vorgängerband, ein Fragment auf die Zukunft hin, sondern ein Fragment aus der Vergangenheit, doch wenigstens hat dieses Kapitel Anmerkungen. Wir müssen in diesem Zusammenhang noch an ein anderes Buch erinnern, in welchem die Verhältnisse umgekehrt liegen, gleichwohl aber dieselben Fragen aufwerfen. Das Buch von Mark P. Cohen "Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter" (München 2005), das schon vor elf Jahren in Princeton auf englisch erschien und jetzt auf deutsch vorliegt, ist in seiner deutschen Übersetzung nicht nur gekürzt, sondern es sind auch alle Anmerkungen weggelassen worden (statt 304 Seiten im Englischen hat das Buch jetzt nur 224 Seiten). Auch die späte deutsche Übersetzung des Cohen-Bandes ist also nur ein Fragment, eine zu einem Pamphlet verkommene wissenschaftliche Studie.

Der verblüffte Leser fragt sich bei diesen Büchern, für wen sie eigentlich geschrieben worden sind. Sind diese Ausgaben nur für das unverständige Volk, oder lohnt sich der Rest für eine Lektüre nicht? Kann man wirklich ein Kapitel aus einem Buch auswählen, ohne den Gesamtkontext der Schrift zu berücksichtigen? Das fragt man sich vor allem bei der Lektüre des als Buch drapierten Kapitels von Yuri Slezkine, um das es hier geht. Es ist so provokativ, daß man meinen muß, der Autor wollte im nachhinein den rassischen Antisemitismus um 1900 rechtfertigen. Nach Slezkine sind nämlich die Juden schlechterdings an allem schuld: "Ganz gleich, was man als Standard ansetzte - Rationalismus, Nationalismus, Kapitalismus, Professionalismus, faustische Prometheushaftigkeit, Belesenheit, Demokratie, Hygiene, Entfremdung oder die Kernfamilie -, die Juden schienen als erstes zur Stelle gewesen zu sein."

Diese in ihrer Abgeschmacktheit erstaunliche These sucht der Autor mit unendlich vielen Statistiken zu belegen, die natürlich wie alle Statistiken lügen: "Im Wien der Jahrhundertwende waren 40 Prozent der Direktoren staatlicher Banken entweder Juden oder jüdischer Abstammung." Was heißt hier "jüdischer Abstammung"? (Wird hier vielleicht manchem überzeugten Atheisten im nachhinein der gelbe Stern wieder angeheftet?) Oder: "Im Wien der Jahrhundertwende waren 62 Prozent der Anwälte, die Hälfte der Ärzte und Zahnärzte, 45 Prozent der Mitglieder medizinischer Fakultäten und ein Viertel des universitären Lehrkörpers Juden, ebenso 51 bis 63 Prozent der Journalisten." Man könnte auch hinzufügen: 28 Prozent der Musiker und 40 Prozent der Chemiker.

Der Hofprediger Stoecker und der Historiker von Treitschke hätten sich über diese Art von Statistiken gefreut, denn sie hätten ihre These von der Dominanz der Juden auf allen kulturellen und wissenschaftlichen Gebieten unterstützt. Wer in diesem Buch als Jude bezeichnet wird, steht jedoch nicht fest, selbst "jüdische Abstammung" zählt ja als jüdisch und Friedrich Nietzsches Zarathustra wird zu einem Juden. Sehen wir klar: Auch Hitler hätte an dieser konsequenten Verjudung seine Freude gehabt, denn er hätte seine Judenpolitik mit solchen Statistiken untermauern können.

Moritz Goldstein hatte 1912 mit seinem Essay "Deutsch-jüdischer Parnaß" die sogenannte "Kunstwart-Debatte" ausgelöst, in der die meisten deutschen Juden aus Angst vor antisemitischen Übergriffen sich scharf gegen Goldsteins These wandten: "Wir Juden verwalten den geistigen Besitz Deutschlands". In seinem Buch vertritt Slezkine, ähnlich wie Goldstein, die brisante These, "daß die Juden in einem bestimmten Sinne die Moderne waren", wobei er "waren" kursiv schreibt. Die Juden waren wirklich an allem schuld. Oscar Levy hat 1925, im Jahr von Hitlers Buch "Mein Kampf", einen Aufsatz geschrieben "Mein Kampf um Nietzsche". In diesem Aufsatz stellt der Jude und Nietzscheaner Levy einen Autor vor, den er als den wahrscheinlich radikalsten Antisemiten bezeichnet und der genau die genannte These von Yuri Slezkine vertritt.

Was bei Slezkine als großes Verdienst der Juden herausgestellt wird, ist bei Levy das Grundübel allen Antisemitismus: Die Juden sind an allem, allem Bösen wie allem Guten, schuld. Levy ist der Meinung, daß es "kaum ein Ereignis im modernen Europa" gebe, "das nicht auf die Juden zurückgeführt werden" könne. Und darum verberge sich hinter dem Antisemitismus eine "gigantische Wahrheit", die lautet, "daß alle modernen Ideen und Bewegungen ursprünglich aus jüdischer Quelle stammen". In diesem Sinne ist auch der Autor Slezkine ein Antisemit, denn er propagiert diese "gigantische Wahrheit".

Da die Juden die Moderne waren, überrascht es den Autor nicht, "daß die beiden großen apokalyptischen Revolten gegen die Moderne auch die beiden ,Endlösungen' für das ,Judenproblem' darstellten. Marx, der zu Beginn seiner Karriere das Judentum und Kapitalismus gleichsetzte, versuchte sein eigenes jüdisches Problem zu lösen, indem er auf den Kapitalismus einschlug. Hitler, dessen langer ,Seelenkampf' als junger Mann ihm die ,jüdischen Wurzeln' der städtischen Korruption enthüllt hatte, versuchte den Kapitalismus zu zähmen, indem er die Juden ermordete." So einfach ist das für den Autor.

Mancher Leser wird sich über dieses Pamphlet aus dem renommierten Hause Vandenhoeck & Ruprecht wundern; zwar enthält es viele Statistiken, doch - um es gelinde zu sagen - die für ein Verständnis der Statistiken notwendigen Differenzierungen fehlen. Bei der Materie, um die es hier geht, ist dies wahrhaftig keine Kleinigkeit.

FRIEDRICH NIEWÖHNER

Yuri Slezkine: "Paradoxe Moderne". Jüdische Alternativen zum Fin de Siècle. Aus dem Englischen von Michael Adrian und Bettina Engels. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005. 127 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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'Eines der innovativsten und anregendsten Bücher zur Jüdischen Geschichte seit Jahren.' (Publishers Weekly)

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Etwas beklommen zeigt sich Micha Brumlik angesichts der Art und Weise, wie Yuri Slezkine in diesem Buch die alte Frage nach der "jüdischen Moderne" angeht. Schließlich greift der in Berkeley lehrende russische Historiker in dem vorliegenden Essay, einem vorab übersetzten Kapitel aus seinem in den USA für Furore sorgenden Buch "The Jewish Century", wiederholt antisemitische Elemente auf - wenn auch in paradoxer Absicht. Einen Antisemiten will ihn Brumlik allerdings nicht nennen, hieße das doch, der bewusst einen Skandal in Kauf nehmenden Publikationsstrategie auf dem Leim zu gehen. Wie Brumlik darlegt, geht es Slezkine darum, die bisher vor allem von Antisemiten betriebene Gleichsetzung von Judentum und Moderne plausibel zu machen - wobei er diese Gleichsetzung freilich aus ihrer fatalen Wirkungsgeschichte zu lösen versucht. Brumlik erkennt die gute Absicht des Autors an, seine Formulierungen haben bei ihm trotzdem Unbehagen ausgelöst.

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