Parallaxe bezeichnet gemeinhin die scheinbare Änderung der Position eines Objekts, wenn der Beobachter seine eigene Position verschiebt. Was ist aber, wenn die beobachtete Veränderung nicht einfach nur subjektiv ist? Was ist, wenn sie gerade vom Gegenstand selbst und seinen ihm innewohnenden Antagonismen ausgeht? Die Parallaxe erscheint in Zizeks pointenreicher Analyse als Denk- und Erklärungsfigur in höchst unterschiedlichen theoretischen Ansätzen: Sie findet sich im Wellen-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik ebenso wie in der Psychoanalyse, der Philosophie und der Politischen Theorie. Slavoj Zizek arbeitet dabei vier maßgebliche Erscheinungsformen der Parallaxe heraus: die ontologische Differenz, die als letzte Parallaxe unseren Bezug zur Wirklichkeit bestimmt; die wissenschaftliche Parallaxe, die nicht zuletzt in der gegenwärtigen Hirnforschung einen unüberschreitbaren Graben zwischen der phänomenalen Erfahrung der Wirklichkeit und ihrer wissenschaftlichen Erklärung markiert;der Bruch, der jedem Kunstwerk innewohnt, und schließlich die politische Parallaxe, die als gesellschaftlicher Antagonismus jeden gemeinsamen Grund verwehrt. Slavoj Zizeks neues großes Buch ist eine kritische Analyse der Gegenwart und zugleich ein grundlegendes philosophisches Werk, das sein theoretisches Gerüst in eine programmatische Form bringt. Es vereint philosophische und theologische Analysen, brillante Interpretationen von literarischen Texten, Filmen und Kompositionen und nicht zuletzt erhellende Anekdoten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2006Der Pedant des Wirren
Andreas Dorschel
Parallaxe überall: Slavoj Zizeks universale Besserwisserei
Unter Parallaxe versteht man den Winkel, welchen die Sehstrahlen zu einem Punkt von zwei verschiedenen Beobachtungsorten einer Basis bilden. Sie ist mithin einemessbare Größe; die Einheit ist die Parallaxensekunde. Die Parallaxe ist desto kleiner, je weiter entfernt der Punkt ist. Bei nahe liegenden Objektentritt durch den Augenabstand bei wechselseitigem Sehen eine Parallaxe auf; bei beidseitigem Sehen entsteht deshalb ein räumliches Bild. Geodäten und Astronomen bestimmen die Entfernung von Punkten oder Gestirnen, indem sie parallaktische Winkel messen. Im Planetensystem dient der Erdradius als Basisentfernung. Zum Messen von Fixsternparallaxen wird, da der Erdradius in solchen Fällen zu klein wäre, auf die große Halbachse der Erdbahn um die Sonne als Basis rekurriert. Dieser Entdeckung und ihrer Verwendung eignet eine philosophische Pointe. Ein auf den ersten Blick störendes, die Rationalität des einen, unverrückten Standpunkts verletzendes Phänomen – das griechische Wort bedeutet ja in etwa „Abweichung” – wurde zum Mittel rationaler Erkenntnis.
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek will dies auf den 400 Seiten seines neuen Buches über die Parallaxe gar nicht so genau wissen. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, er habe auch nur jenes begriffliche Minimum zur Kenntnis genommen. Eine andere Funktion, als irgendwie unter einen Buchtitel zu bringen, was Zizek von Quantenphysik bis Vagina auf dem Herzen hat, ist zunächst nicht auszumachen.
Hören wir zu: „Die Parallaxe zieht sich heute in zahlreichen Formen durch die verschiedensten Theoriefelder: die Parallaxe der Quantenphysik (der Welle-Teilchen-Dualismus); die Parallaxe der Neurobiologie (die Feststellung, dass man beim Blick hinter das Gesicht, in den Schädel, nichts findet, dassdort ,niemand zu Hause ist‘, nur ein Klumpen Gehirnmasse – es ist nicht leicht, bei dieser Lücke zwischen Sinn und dem reinen Realen zu verweilen); die Parallaxe der ontologischen Differenz, des Missverhältnisses zwischen dem Ontischen und dem Transzendental-Ontologischen (der ontologische Horizont lässt sich nicht auf seine ontischen ‚Wurzeln‘ reduzieren, aber ebenso wenig ist der ontische Bereich aus dem ontologischen Horizont ableitbar, d. h., transzendentale Konstitution ist nicht Kreation); die Parallaxe des Realen (das Lacansche Reale hat keinerlei positiv-substantielle Konsistenz, es ist lediglichdie Lücke zwischen der Vielzahl von Perspektiven auf es); die parallaktische Natur der Lücke zwischen Begehren und Trieb (stellen wir unsein Individuum bei dem Versuch vor, eine einfache manuelle Aufgabe auszuführen – etwa einen Gegenstand zu ergreifen, der ihm ständig entgleitet: In dem Moment, in dem er seine Einstellung ändert und Vergnügen daran findet, die missglückte Handlung einfach zu wiederholen und den Gegenstand anzufassen, der sich ihm Mal um Mal entzieht, wechselt er vom Begehren zum Trieb); die Parallaxe des Unbewussten (das Fehlen eines gemeinsamen Nenners zwischen den beiden Aspekten in Freuds Theoriegebäude: Interpretationen der Bildungen des Unbewussten ,Die Traumdeutung‘, ,Zur Psychopathologie des Alltagslebens‘, ,Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten‘] und Triebtheorien ,Drei Abhandlungen zurSexualtheorie‘ etc.]; bis hin zu – last and least – der Parallaxe der Vagina (der Wechsel vom ultimativen Objekt sexueller Penetration, dem verkörperten Mysterium der Sexualität zu dem Organ der Mutterschaft Geburt])”.
Dies ist ein einziger Satz. Denn Zizek schwafelt. Ins Schwafeln gerät, wer eine Sache nicht auf den Punkt zu bringen vermag. An Stellen wie der zitierten ist dem Schwafeln selbst das Satzzeichen Punkt, dieser ganz vorläufige Einhalt, zu viel der Unterbrechung.
Je weniger es Zizek indes gelingt, eine Sache auf den Punkt zu bringen, destoeifriger müht er sich, alle Sachen auf einen einzigen Punkt zu bringen. So elegant wie angeführt gleiten Zizek nur darum, zum Beispiel, eine Wissenschaft und ein Geschlechtsorgan in eine Aufzählung, weil er sich angewöhnt hat, in allem dieselbe dürre Metapher wiederzufinden. Alsbald steht in dem Buch fest, statt „Parallaxe” könne es auchirgendeine andere sein. Was die Suada braucht, ist eine Eselsbrücke, auf der von jedem Ding zu jedem anderen Ding sich wandern lässt. Je breiiger die Analogie, desto nachdrücklicher donnert Zizek sie mit den Epitheta „exakt” und „präzis” auf. „Ist die Ontologie von Zeichentrickfilmen nicht exakt die des reinen Werdens im präzisen Deleuzeschen Sinne?”, lautet dann die rhetorische Frage, oder: „Entspricht diese Spannung zwischen dem dritten und vierten Satz der Vierten Sinfonie filmhistorisch nicht der zwischen Hitchcocks ,Vertigo‘ und ,Psycho‘?”. Warum also fragen, statt gleich festzustellen: „Inseiner ausführlichen Darstellung der Ausweglosigkeiten des Freudschen Themas der Verführung wiederholt Jean Laplanche im Grunde exakt die Struktur der Kantischen Antinomie”. Mögen Disney, Deleuze, Hitchcock,Kant, Laplanche und Sibelius auch geglaubt haben, sie trieben jeweils ganz Verschiedenes, Zizek treibt ihnen diese Illusion aus. „Und geht nicht auchSchellings Argumentation in diese Richtung . . .?” Zizeks Angebot ist universale Besserwisserei: Die in den Augen ihrer Autoren recht unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Vorhaben und Ergebnisse ließen sich letzten Endes, „im Grunde”, auf das immer gleiche Schema bringen.
Reduktionen dieser Art pflegen zu entlarven. Doch dafür meint es Zizek zu gut. „Es geht nämlich genau darum, die Identität unserer hegelianisch-lacanianischen Position und der Philosophie des dialektischen Materialismus als unendliches Urteil im Hegelschen Sinne, d. h. der spekulativenIdentität des Höchsten und des Niedrigsten zu begreifen.” Wenn Zizek in der ersten Person Plural Marx und Lacan so unendlich zusammenschwafelt,bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind, schwingt niemals Zweifel daran mit, imGrabe müssten ihm beide ob dieser Synthese durch Verkleistern, die sich alseine des Begreifens ausgibt, gleichermaßen unendlich dankbar sein.
Dankbarkeit aber erwartet Zizek auch vom Leser, den er durch das inklusive Wir stets an der Attitüde überlegenen Durchblicks teilhaben lässt. Diese Wirs kennen sich aus, und ihr mit Bekanntem gefüllter Kopf ist Zizek zum Nicken da, das er Denken nennt: „Denken wir an Adornos bekannte Analyse des antagonistischen Charakters des Gesellschaftsbegriffs”, „Denken wir an Benjamins Vorstellung von der Revolution”. Statt radikaler zu formulieren, sagt Zizek, er formuliere radikaler, und wenn er von etwas überzeugen will, setzt er es kursiv: „Beiden Geschichten ist, radikaler formuliert, gemeinsam, dass die Verbindung, die sie herstellen, einen unmöglichen Kurzschluss von Ebenen darstellt, die sich aus strukturellen Gründen niemals treffen können”.
Dass Zizek Argumentation simuliert, statt bloß beliebig Assoziationen aufzufädeln, was als Form doch dem Inhalt seines Buches angemessen wäre, scheint starre akademische Gewohnheit. Er ist ein Pedant des Wirren. Statt einfach zu spinnen, behängt er das Resultat solchen Tuns mit Fußnoten, welche Zensuren an andere Akademiker verteilen, ja nachdem, ob er Übereinstimmendes, lediglich Ähnliches, oder ganz anderes in ihren Büchern findet: „Ich teile die Überzeugung von Alain Badiou, dass es an der Zeit sei, diesen problematischen Begriff offen anzunehmen”, hingegen nur: „Hier liegt Sloterdijk richtig, auch wenn man mit seiner speziellen Darstellung nicht übereinstimmen muss”, und endlich, ganz unten, weil in weitester Entfernung von Zizek: „Negri und Hardt bringen imZusammenhang mit Bartleby die abgedroschenste (pseudo-)hegelianische Kritik vor – ihre Vernachlässigung Hegels rächt sich allerdings in Gestalt einer Rückkehr der banalsten vulgär-hegelianischen Motive”. Sollte sich einmal etwas nicht rächen, rächt Zizek es in einer Fußnote.
Stilistisch gedeiht all dies in einem gnadenlos hässlichen Nominalstil: „Es besteht eine strukturelle Homologie zwischen diesem Verhältnis von historischem und dialektischem Materialismus und der psychoanalytisch richtigen Erwiderung auf den abgedroschenen Standardvorwurf gegen die Anwendung der Psychoanalyse auf ideologisch-gesellschaftliche Prozesse”. Schwachsinn undbürokratische Gesinnung finden ja gern in Jargon zueinander. Frank Born hatdafür gesorgt, dass auch in deutscher Übersetzung keine Zizeksche Stilblüte untergeht, ja er hat Parallaxe in dieser Hinsicht womöglich noch bereichert. „Nichtsdestotrotz” erblüht hier als philosophische Prosa, und wird ein Gedicht gepriesen, floriert im Preis die eigene Parodie gleich mit: eine „fast Zen-gleiche, präzise Bündigkeit”.
„Slavoj Zizeks neues Buch ist eine kritische Analyse der Gegenwart und zugleich ein grundlegendes philosophisches Werk”, rühmt der Verlag. Kritische Analyse der Gegenwart: „Die Kehrseite des ununterbrochenen kapitalistischen Triebs, immer neue Gegenstände zu produzieren, sind demnach die anwachsenden Berge nutzlosen Mülls, die sich stapelnden Altautos”. Nur nützlicher Müll könnte mit ihm versöhnen. Grundlegend dürfte Slavoj Zizek neues Buch vor allem für eines sein: zahlreiche Fortsetzungen seiner selbst. Außer der Parallaxe gibt es schließlich noch die Parallele. Was auf der Welt würde ihr widerstehen?
ANDREAS DORSCHEL
SLAVOJ ZIZEK: Parallaxe. Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 445 Seiten, 26,80 Euro.
Je breiiger die Analogie, desto nachdrücklicher wird sie mit „exakt” aufgedonnert
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Disney, Deleuze, Hitchcock, Kant, Laplanche, Sibelius – trieben sie je Verschiedenes?
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Er sieht den Müll des Kapitalismus sich stapeln: Slavoj Zizek
Foto: ddp
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Andreas Dorschel
Parallaxe überall: Slavoj Zizeks universale Besserwisserei
Unter Parallaxe versteht man den Winkel, welchen die Sehstrahlen zu einem Punkt von zwei verschiedenen Beobachtungsorten einer Basis bilden. Sie ist mithin einemessbare Größe; die Einheit ist die Parallaxensekunde. Die Parallaxe ist desto kleiner, je weiter entfernt der Punkt ist. Bei nahe liegenden Objektentritt durch den Augenabstand bei wechselseitigem Sehen eine Parallaxe auf; bei beidseitigem Sehen entsteht deshalb ein räumliches Bild. Geodäten und Astronomen bestimmen die Entfernung von Punkten oder Gestirnen, indem sie parallaktische Winkel messen. Im Planetensystem dient der Erdradius als Basisentfernung. Zum Messen von Fixsternparallaxen wird, da der Erdradius in solchen Fällen zu klein wäre, auf die große Halbachse der Erdbahn um die Sonne als Basis rekurriert. Dieser Entdeckung und ihrer Verwendung eignet eine philosophische Pointe. Ein auf den ersten Blick störendes, die Rationalität des einen, unverrückten Standpunkts verletzendes Phänomen – das griechische Wort bedeutet ja in etwa „Abweichung” – wurde zum Mittel rationaler Erkenntnis.
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek will dies auf den 400 Seiten seines neuen Buches über die Parallaxe gar nicht so genau wissen. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, er habe auch nur jenes begriffliche Minimum zur Kenntnis genommen. Eine andere Funktion, als irgendwie unter einen Buchtitel zu bringen, was Zizek von Quantenphysik bis Vagina auf dem Herzen hat, ist zunächst nicht auszumachen.
Hören wir zu: „Die Parallaxe zieht sich heute in zahlreichen Formen durch die verschiedensten Theoriefelder: die Parallaxe der Quantenphysik (der Welle-Teilchen-Dualismus); die Parallaxe der Neurobiologie (die Feststellung, dass man beim Blick hinter das Gesicht, in den Schädel, nichts findet, dassdort ,niemand zu Hause ist‘, nur ein Klumpen Gehirnmasse – es ist nicht leicht, bei dieser Lücke zwischen Sinn und dem reinen Realen zu verweilen); die Parallaxe der ontologischen Differenz, des Missverhältnisses zwischen dem Ontischen und dem Transzendental-Ontologischen (der ontologische Horizont lässt sich nicht auf seine ontischen ‚Wurzeln‘ reduzieren, aber ebenso wenig ist der ontische Bereich aus dem ontologischen Horizont ableitbar, d. h., transzendentale Konstitution ist nicht Kreation); die Parallaxe des Realen (das Lacansche Reale hat keinerlei positiv-substantielle Konsistenz, es ist lediglichdie Lücke zwischen der Vielzahl von Perspektiven auf es); die parallaktische Natur der Lücke zwischen Begehren und Trieb (stellen wir unsein Individuum bei dem Versuch vor, eine einfache manuelle Aufgabe auszuführen – etwa einen Gegenstand zu ergreifen, der ihm ständig entgleitet: In dem Moment, in dem er seine Einstellung ändert und Vergnügen daran findet, die missglückte Handlung einfach zu wiederholen und den Gegenstand anzufassen, der sich ihm Mal um Mal entzieht, wechselt er vom Begehren zum Trieb); die Parallaxe des Unbewussten (das Fehlen eines gemeinsamen Nenners zwischen den beiden Aspekten in Freuds Theoriegebäude: Interpretationen der Bildungen des Unbewussten ,Die Traumdeutung‘, ,Zur Psychopathologie des Alltagslebens‘, ,Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten‘] und Triebtheorien ,Drei Abhandlungen zurSexualtheorie‘ etc.]; bis hin zu – last and least – der Parallaxe der Vagina (der Wechsel vom ultimativen Objekt sexueller Penetration, dem verkörperten Mysterium der Sexualität zu dem Organ der Mutterschaft Geburt])”.
Dies ist ein einziger Satz. Denn Zizek schwafelt. Ins Schwafeln gerät, wer eine Sache nicht auf den Punkt zu bringen vermag. An Stellen wie der zitierten ist dem Schwafeln selbst das Satzzeichen Punkt, dieser ganz vorläufige Einhalt, zu viel der Unterbrechung.
Je weniger es Zizek indes gelingt, eine Sache auf den Punkt zu bringen, destoeifriger müht er sich, alle Sachen auf einen einzigen Punkt zu bringen. So elegant wie angeführt gleiten Zizek nur darum, zum Beispiel, eine Wissenschaft und ein Geschlechtsorgan in eine Aufzählung, weil er sich angewöhnt hat, in allem dieselbe dürre Metapher wiederzufinden. Alsbald steht in dem Buch fest, statt „Parallaxe” könne es auchirgendeine andere sein. Was die Suada braucht, ist eine Eselsbrücke, auf der von jedem Ding zu jedem anderen Ding sich wandern lässt. Je breiiger die Analogie, desto nachdrücklicher donnert Zizek sie mit den Epitheta „exakt” und „präzis” auf. „Ist die Ontologie von Zeichentrickfilmen nicht exakt die des reinen Werdens im präzisen Deleuzeschen Sinne?”, lautet dann die rhetorische Frage, oder: „Entspricht diese Spannung zwischen dem dritten und vierten Satz der Vierten Sinfonie filmhistorisch nicht der zwischen Hitchcocks ,Vertigo‘ und ,Psycho‘?”. Warum also fragen, statt gleich festzustellen: „Inseiner ausführlichen Darstellung der Ausweglosigkeiten des Freudschen Themas der Verführung wiederholt Jean Laplanche im Grunde exakt die Struktur der Kantischen Antinomie”. Mögen Disney, Deleuze, Hitchcock,Kant, Laplanche und Sibelius auch geglaubt haben, sie trieben jeweils ganz Verschiedenes, Zizek treibt ihnen diese Illusion aus. „Und geht nicht auchSchellings Argumentation in diese Richtung . . .?” Zizeks Angebot ist universale Besserwisserei: Die in den Augen ihrer Autoren recht unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Vorhaben und Ergebnisse ließen sich letzten Endes, „im Grunde”, auf das immer gleiche Schema bringen.
Reduktionen dieser Art pflegen zu entlarven. Doch dafür meint es Zizek zu gut. „Es geht nämlich genau darum, die Identität unserer hegelianisch-lacanianischen Position und der Philosophie des dialektischen Materialismus als unendliches Urteil im Hegelschen Sinne, d. h. der spekulativenIdentität des Höchsten und des Niedrigsten zu begreifen.” Wenn Zizek in der ersten Person Plural Marx und Lacan so unendlich zusammenschwafelt,bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind, schwingt niemals Zweifel daran mit, imGrabe müssten ihm beide ob dieser Synthese durch Verkleistern, die sich alseine des Begreifens ausgibt, gleichermaßen unendlich dankbar sein.
Dankbarkeit aber erwartet Zizek auch vom Leser, den er durch das inklusive Wir stets an der Attitüde überlegenen Durchblicks teilhaben lässt. Diese Wirs kennen sich aus, und ihr mit Bekanntem gefüllter Kopf ist Zizek zum Nicken da, das er Denken nennt: „Denken wir an Adornos bekannte Analyse des antagonistischen Charakters des Gesellschaftsbegriffs”, „Denken wir an Benjamins Vorstellung von der Revolution”. Statt radikaler zu formulieren, sagt Zizek, er formuliere radikaler, und wenn er von etwas überzeugen will, setzt er es kursiv: „Beiden Geschichten ist, radikaler formuliert, gemeinsam, dass die Verbindung, die sie herstellen, einen unmöglichen Kurzschluss von Ebenen darstellt, die sich aus strukturellen Gründen niemals treffen können”.
Dass Zizek Argumentation simuliert, statt bloß beliebig Assoziationen aufzufädeln, was als Form doch dem Inhalt seines Buches angemessen wäre, scheint starre akademische Gewohnheit. Er ist ein Pedant des Wirren. Statt einfach zu spinnen, behängt er das Resultat solchen Tuns mit Fußnoten, welche Zensuren an andere Akademiker verteilen, ja nachdem, ob er Übereinstimmendes, lediglich Ähnliches, oder ganz anderes in ihren Büchern findet: „Ich teile die Überzeugung von Alain Badiou, dass es an der Zeit sei, diesen problematischen Begriff offen anzunehmen”, hingegen nur: „Hier liegt Sloterdijk richtig, auch wenn man mit seiner speziellen Darstellung nicht übereinstimmen muss”, und endlich, ganz unten, weil in weitester Entfernung von Zizek: „Negri und Hardt bringen imZusammenhang mit Bartleby die abgedroschenste (pseudo-)hegelianische Kritik vor – ihre Vernachlässigung Hegels rächt sich allerdings in Gestalt einer Rückkehr der banalsten vulgär-hegelianischen Motive”. Sollte sich einmal etwas nicht rächen, rächt Zizek es in einer Fußnote.
Stilistisch gedeiht all dies in einem gnadenlos hässlichen Nominalstil: „Es besteht eine strukturelle Homologie zwischen diesem Verhältnis von historischem und dialektischem Materialismus und der psychoanalytisch richtigen Erwiderung auf den abgedroschenen Standardvorwurf gegen die Anwendung der Psychoanalyse auf ideologisch-gesellschaftliche Prozesse”. Schwachsinn undbürokratische Gesinnung finden ja gern in Jargon zueinander. Frank Born hatdafür gesorgt, dass auch in deutscher Übersetzung keine Zizeksche Stilblüte untergeht, ja er hat Parallaxe in dieser Hinsicht womöglich noch bereichert. „Nichtsdestotrotz” erblüht hier als philosophische Prosa, und wird ein Gedicht gepriesen, floriert im Preis die eigene Parodie gleich mit: eine „fast Zen-gleiche, präzise Bündigkeit”.
„Slavoj Zizeks neues Buch ist eine kritische Analyse der Gegenwart und zugleich ein grundlegendes philosophisches Werk”, rühmt der Verlag. Kritische Analyse der Gegenwart: „Die Kehrseite des ununterbrochenen kapitalistischen Triebs, immer neue Gegenstände zu produzieren, sind demnach die anwachsenden Berge nutzlosen Mülls, die sich stapelnden Altautos”. Nur nützlicher Müll könnte mit ihm versöhnen. Grundlegend dürfte Slavoj Zizek neues Buch vor allem für eines sein: zahlreiche Fortsetzungen seiner selbst. Außer der Parallaxe gibt es schließlich noch die Parallele. Was auf der Welt würde ihr widerstehen?
ANDREAS DORSCHEL
SLAVOJ ZIZEK: Parallaxe. Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 445 Seiten, 26,80 Euro.
Je breiiger die Analogie, desto nachdrücklicher wird sie mit „exakt” aufgedonnert
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Disney, Deleuze, Hitchcock, Kant, Laplanche, Sibelius – trieben sie je Verschiedenes?
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Er sieht den Müll des Kapitalismus sich stapeln: Slavoj Zizek
Foto: ddp
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit wohligem Schauder hat Rezensent Wilhelm Trapp ein geistiges Vollbad im philosophischen Whirlpool von Slavoj Zizeks jüngstem Buch genommen, das er als "brausendes Gemisch von Thesen und Theorien" beschreibt. Dessen Denken in Paradoxien findet er nach wie vor ziemlich anregend, aber irgendwie ist er nicht sicher, ob er am Ende einem Scharlatan aufgesessen ist. "Origineller Starphilosoph oder Theorietanzbär vom Balkan?" - so genau kann Trapp diese Frage für sich nicht ganz klären. Hier hätte ein Lektor eventuell Wunder bewirken können, aber scheinbar sei dieser Denker auch von verlegerischem Fachpersonal nicht zu bändigen. Zwar gelingen Zizek aus Sicht des Rezensenten mit seinem "Parallaxemotiv" immer wieder erstaunliche "Zirkelschläge zwischen scheinbar Dissoziierten", auch wenn seine Exkurse nicht alle gleich originell ausgefallen sind. Am Ende redet er Zizek ins Gewissen und fragt, ob er nicht langsam Angst habe, seine Theorien wie "ein Imitator seiner selbst" nur noch zu reproduzieren - schillernd, aber irgendwie seelenlos.
© Perlentaucher Medien GmbH
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