Karl Klings Geschichte ist eine Offenbarung. Eine Offenbarung gegenüber seiner Tochter Hella, die viele Jahre zuvor den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Karls Brief an sie ist nichts weniger als der Versuch, ihr jenen Unbekannten vorzustellen, der ihr Vater ist, ihr jedoch nie ein Vater zu sein vermocht hatte. Im Rückblick auf sein Leben erfahren Hella und die Leser:innen von Karls gescheiterten Ehen, zerrütteten fami- liären Beziehungen - und von seiner Liebe zu Männern.Von den letzten Kriegsjahren an bis in die 1980er-Jahre hinein folgt PARALLEL Karl Klings Bemühen, bürgerlichen Normen zu genügen, um im Verborgenen seine Sexualität leben zu können. Dabei setzt sich nicht allein das Porträt eines zwischen Anpassung und Aufbegehren zerrissenen Lebens zusammen, PARALLEL zeichnet zugleich das Panorama einer deutschen Gesellschaft, in der Homosexualität geächtet und bis 1994 unter Strafe gestellt ist. Eindringlich erzählt Matthias Lehmann von der jahrzehntelangen Sehnsucht nach einemselbstbestimmten Leben und von dem Preis, den Karl Kling und die Menschen an seiner Seite dafür zahlen. Er erzählt auch von dem Mut, sich trotz aller Widerstände schließlich zu öffnen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas von Steinaecker feiert Matthias Lehmanns Comic, der es laut Rezensent schafft, gleich mehrere bedeutende Themen (Homosexualität im Nachkriegsdeutschland, Arbeiterklasse-Schicksal und Generationenkonflikt) in eine künstlerisch überzeugende Form zu gießen. Die präzise gezeichneten Figuren und die düstere Atmosphäre ziehen Steinaecker sofort rein und lassen ihn gebannt Lebensgeschichte und Lebensbeichte, das Coming-out eines ehemaligen Werksarbeiters verfolgen. Die Enge der kleinbürgerlichen Nachkriegsgesellschaft und der gnadenlose Machismo der Arbeitermilieus werden für Steinaecker spürbar. Hervorragender Comic, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2021Ein ganz normaler Mann
FRANKFURT In "Parallel" erzählt der Comiczeichner Matthias Lehmann von Karl Kling, der im Hessen der Nachkriegszeit mit seiner Homosexualität und der Gesellschaft ringt.
Von Anna-Sophia Lang
Batman war der Auslöser. So fasziniert war Matthias Lehmann von den Zeichnungen in dem Comic, den er sich als Sechzehnjähriger am Kiosk gekauft hatte, dass er anfing, selbst zu zeichnen. Erst malte er ab, was er sah, Panel nach Panel, bald jeden Tag nach der Schule. Gute 20 Jahre ist das nun her. Lehmann ist dabei geblieben, während dem Kunststudium in Dresden, bei dem ihm schnell klar wurde, "dass ich nicht Maler werde, sondern dem Comic treu bleibe", und darüber hinaus. Es ist die Verbindung zwischen dem Zeichnen und dem Geschichtenerzählen, die ihn daran so fasziniert. Was man mit der Kombination aus Text und Zeichnungen alles machen kann, wie viel Raum zum Experiment darin steckt.
Die Geschichte, die der Leipziger nun in seinem Debüt "Parallel" erzählt - das heißt, seiner ersten langen Graphic Novel -, spielt im Rhein-Main-Gebiet, jedenfalls zum Teil: in Büttelborn, Offenbach und dem Frankfurter Bahnhofsviertel. Es ist die von Karl Kling, der als schwuler Mann in der Nachkriegszeit versucht, glücklich zu werden mit sich und seiner Familie, gequält von Gesetz und gesellschaftlichen Strukturen, verfolgt von Staat, Polizei und Mitbürgern. "Vieles von dem, was Matthias Lehmann in seiner Geschichte schildert, gehört der Vergangenheit an", schreibt der Comiczeichner Reinhard Kleist im Vorwort. "Die innere Zerrissenheit Karls jedoch kennen immer noch zu viele Menschen aus der schwul-lesbischen Community." Auch er, so Kleist, habe sich in seiner Jugend jahrelang wie in einer schier aussichtslosen Zwickmühle gefühlt, ohne sich jemandem anzuvertrauen. "Man möchte während der Lektüre ein ums andere Mal in die Geschichte einbrechen, Karl die Hand auf die Schulter legen und sagen: ,Trau dich'. So etwas hätte mir damals auch gutgetan. Und genau das tut Parallel."
Warum ist es diese Geschichte geworden? "Im Prinzip ist sie aus einem Gespräch mit meiner Freundin hervorgegangen", sagt Lehmann. "Wir haben über unsere Großeltern geredet, und da erzählte sie von ihrem Opa, dass er schwul war." So kam Lehmann ins Gespräch mit der Familie, redete viel mit der Tochter und deren Mann, den Einzigen, die noch vom 1980 verstorbenen Großvater erzählen konnten. Anhand der Erinnerung und noch existierender Dokumente wie einem Arbeitsbuch konnten sie einen Zeitstrahl erstellen, konnten nachvollziehen, wann er wo gearbeitet hatte - aber weshalb er dort war und was er dort tat? Das war nicht mehr nachvollziehbar.
So mündete, was anfangs einfach Interesse ohne irgendeine Absicht war, nach einer längeren Zeit in die Idee mit dem Comic. Immer wieder, auch als er das Drehbuch schon geschrieben hatte, kamen Lehmann neue Fragen. Immer wieder saß er so über die Jahre mit der Familie in langen Gesprächen zusammen. Hörte Anekdoten, was für ein Charakter der Großvater seiner Freundin war, hörte ihn sogar selbst, weil der technikaffine Mann Ende der siebziger Jahre einen Kassettenrekorder gekauft und damit Besuche aufgezeichnet hatte. "Er war ein ganz normaler Mann, der jeden Tag arbeiten gegangen ist und gerne ein ganz normales Leben gehabt hätte." Stattdessen, auch dazu hat die Familie Dokumente, wurde er verhaftet wegen "homosexueller Handlungen". Aber erst in späten Jahren, als er sichtbare Panikattacken und Verfolgungsängste entwickelte, habe man ihm angemerkt, was das Leben in permanenter Unsicherheit und die innere Zerrissenheit, in der er gelebt haben musste, mit ihm machten.
Über das schwule Leben des Großvaters konnten Tochter und Schwiegersohn trotzdem nicht viel erzählen, "das war ja ein Geheimnis". Zwar wusste jeder davon, aber gesprochen worden sei darüber nicht, sagt Lehmann. Also begann er selbst zu recherchieren über jene Jahrzehnte. Er fand jemanden, den er in einer Dokumentation gesehen hatte und der die fünfziger und sechziger Jahre erlebt hatte. Alles, was er an Informationen auftrieb, sammelte er.
Im Comic scheitert Karl Kling immer wieder an den Verhältnissen. Hin und her gerissen zwischen dem, was er will - obgleich er es sich lange nicht eingesteht -, und dem, was andere von ihm wollen, versucht er sich den Konventionen zu unterwerfen und den Erwartungen seines patriarchischen, groben, brutalen Schwiegervaters wie denen seiner Frau zu entsprechen. Er erträgt die verachtungsvollen, vor Intoleranz und irregeleitetem Männlichkeitskult triefenden Sprüche seines Umfelds, muss ansehen, wie andere Schwule verprügelt werden, auch er bleibt nicht verschont. Schließlich flüchtet er vor der eigenen Familie nach Ostdeutschland - wo alles von vorn beginnt. Mit dem Leben des Großvaters stimmt das nur bedingt überein. "Das Reale und die Fiktion greift sehr stark ineinander", sagt Lehmann. "Ich habe meine Fantasie spielen lassen, um zu überlegen, warum Karl Kling wo gewesen sein könnte." Anders ging es ja nicht. "Ich musste mir schon viel zusammenreimen und selbst ausdenken."
Das Ende, das er der Geschichte um Karl Kling beschert hat, ist ein versöhnliches, jedenfalls zum Teil. "Das ist eine Entscheidung, die man irgendwann trifft: Wie möchte man seine Figur verlassen? Es hat sich für mich richtig angefühlt zu zeigen, dass der innere Konflikt immer noch da ist. Aber dass er trotzdem einen Draht zu seiner Familie gefunden hat." Für Lehmann persönlich bedeutet die Erzählung, dass er dazugelernt hat: Als er anfing zu recherchieren und zu schreiben, sei ihm klargeworden, dass die Verfolgung von Schwulen nicht so sehr nur etwas Historisches ist, wie er gedacht hatte. Sondern, wie tief Hass und Vorurteile in die Gegenwart hineinreichen, wie eingeschränkt Homosexuelle im Vergleich zu Heterosexuellen immer noch in mancher Hinsicht in ihrer Lebensführung sind. "Dadurch ist es mir noch wichtiger geworden, diese Geschichte zu erzählen."
Und die Familie des Großvaters? "Die Familie war immer sehr wohlwollend und wusste, dass ich fiktionalisieren muss", sagt Lehmann. Karl Kling sieht dem Opa auch nicht ähnlich. "Aber natürlich setzt das Emotionen frei."
"PARALLEL" ist bei Reprodukt erschienen, 464 Seiten, 29 Euro. Matthias Lehmann ist am Samstag, 23. Oktober, auf der Frankfurter Buchmesse im Gespräch mit F.A.Z.-Redakteur Andreas Platthaus um 12.30 auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage in Halle 3.1, B 105 zu hören. Um 16 Uhr liest er bei Open Books in der Ausstellungshalle 1a.
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FRANKFURT In "Parallel" erzählt der Comiczeichner Matthias Lehmann von Karl Kling, der im Hessen der Nachkriegszeit mit seiner Homosexualität und der Gesellschaft ringt.
Von Anna-Sophia Lang
Batman war der Auslöser. So fasziniert war Matthias Lehmann von den Zeichnungen in dem Comic, den er sich als Sechzehnjähriger am Kiosk gekauft hatte, dass er anfing, selbst zu zeichnen. Erst malte er ab, was er sah, Panel nach Panel, bald jeden Tag nach der Schule. Gute 20 Jahre ist das nun her. Lehmann ist dabei geblieben, während dem Kunststudium in Dresden, bei dem ihm schnell klar wurde, "dass ich nicht Maler werde, sondern dem Comic treu bleibe", und darüber hinaus. Es ist die Verbindung zwischen dem Zeichnen und dem Geschichtenerzählen, die ihn daran so fasziniert. Was man mit der Kombination aus Text und Zeichnungen alles machen kann, wie viel Raum zum Experiment darin steckt.
Die Geschichte, die der Leipziger nun in seinem Debüt "Parallel" erzählt - das heißt, seiner ersten langen Graphic Novel -, spielt im Rhein-Main-Gebiet, jedenfalls zum Teil: in Büttelborn, Offenbach und dem Frankfurter Bahnhofsviertel. Es ist die von Karl Kling, der als schwuler Mann in der Nachkriegszeit versucht, glücklich zu werden mit sich und seiner Familie, gequält von Gesetz und gesellschaftlichen Strukturen, verfolgt von Staat, Polizei und Mitbürgern. "Vieles von dem, was Matthias Lehmann in seiner Geschichte schildert, gehört der Vergangenheit an", schreibt der Comiczeichner Reinhard Kleist im Vorwort. "Die innere Zerrissenheit Karls jedoch kennen immer noch zu viele Menschen aus der schwul-lesbischen Community." Auch er, so Kleist, habe sich in seiner Jugend jahrelang wie in einer schier aussichtslosen Zwickmühle gefühlt, ohne sich jemandem anzuvertrauen. "Man möchte während der Lektüre ein ums andere Mal in die Geschichte einbrechen, Karl die Hand auf die Schulter legen und sagen: ,Trau dich'. So etwas hätte mir damals auch gutgetan. Und genau das tut Parallel."
Warum ist es diese Geschichte geworden? "Im Prinzip ist sie aus einem Gespräch mit meiner Freundin hervorgegangen", sagt Lehmann. "Wir haben über unsere Großeltern geredet, und da erzählte sie von ihrem Opa, dass er schwul war." So kam Lehmann ins Gespräch mit der Familie, redete viel mit der Tochter und deren Mann, den Einzigen, die noch vom 1980 verstorbenen Großvater erzählen konnten. Anhand der Erinnerung und noch existierender Dokumente wie einem Arbeitsbuch konnten sie einen Zeitstrahl erstellen, konnten nachvollziehen, wann er wo gearbeitet hatte - aber weshalb er dort war und was er dort tat? Das war nicht mehr nachvollziehbar.
So mündete, was anfangs einfach Interesse ohne irgendeine Absicht war, nach einer längeren Zeit in die Idee mit dem Comic. Immer wieder, auch als er das Drehbuch schon geschrieben hatte, kamen Lehmann neue Fragen. Immer wieder saß er so über die Jahre mit der Familie in langen Gesprächen zusammen. Hörte Anekdoten, was für ein Charakter der Großvater seiner Freundin war, hörte ihn sogar selbst, weil der technikaffine Mann Ende der siebziger Jahre einen Kassettenrekorder gekauft und damit Besuche aufgezeichnet hatte. "Er war ein ganz normaler Mann, der jeden Tag arbeiten gegangen ist und gerne ein ganz normales Leben gehabt hätte." Stattdessen, auch dazu hat die Familie Dokumente, wurde er verhaftet wegen "homosexueller Handlungen". Aber erst in späten Jahren, als er sichtbare Panikattacken und Verfolgungsängste entwickelte, habe man ihm angemerkt, was das Leben in permanenter Unsicherheit und die innere Zerrissenheit, in der er gelebt haben musste, mit ihm machten.
Über das schwule Leben des Großvaters konnten Tochter und Schwiegersohn trotzdem nicht viel erzählen, "das war ja ein Geheimnis". Zwar wusste jeder davon, aber gesprochen worden sei darüber nicht, sagt Lehmann. Also begann er selbst zu recherchieren über jene Jahrzehnte. Er fand jemanden, den er in einer Dokumentation gesehen hatte und der die fünfziger und sechziger Jahre erlebt hatte. Alles, was er an Informationen auftrieb, sammelte er.
Im Comic scheitert Karl Kling immer wieder an den Verhältnissen. Hin und her gerissen zwischen dem, was er will - obgleich er es sich lange nicht eingesteht -, und dem, was andere von ihm wollen, versucht er sich den Konventionen zu unterwerfen und den Erwartungen seines patriarchischen, groben, brutalen Schwiegervaters wie denen seiner Frau zu entsprechen. Er erträgt die verachtungsvollen, vor Intoleranz und irregeleitetem Männlichkeitskult triefenden Sprüche seines Umfelds, muss ansehen, wie andere Schwule verprügelt werden, auch er bleibt nicht verschont. Schließlich flüchtet er vor der eigenen Familie nach Ostdeutschland - wo alles von vorn beginnt. Mit dem Leben des Großvaters stimmt das nur bedingt überein. "Das Reale und die Fiktion greift sehr stark ineinander", sagt Lehmann. "Ich habe meine Fantasie spielen lassen, um zu überlegen, warum Karl Kling wo gewesen sein könnte." Anders ging es ja nicht. "Ich musste mir schon viel zusammenreimen und selbst ausdenken."
Das Ende, das er der Geschichte um Karl Kling beschert hat, ist ein versöhnliches, jedenfalls zum Teil. "Das ist eine Entscheidung, die man irgendwann trifft: Wie möchte man seine Figur verlassen? Es hat sich für mich richtig angefühlt zu zeigen, dass der innere Konflikt immer noch da ist. Aber dass er trotzdem einen Draht zu seiner Familie gefunden hat." Für Lehmann persönlich bedeutet die Erzählung, dass er dazugelernt hat: Als er anfing zu recherchieren und zu schreiben, sei ihm klargeworden, dass die Verfolgung von Schwulen nicht so sehr nur etwas Historisches ist, wie er gedacht hatte. Sondern, wie tief Hass und Vorurteile in die Gegenwart hineinreichen, wie eingeschränkt Homosexuelle im Vergleich zu Heterosexuellen immer noch in mancher Hinsicht in ihrer Lebensführung sind. "Dadurch ist es mir noch wichtiger geworden, diese Geschichte zu erzählen."
Und die Familie des Großvaters? "Die Familie war immer sehr wohlwollend und wusste, dass ich fiktionalisieren muss", sagt Lehmann. Karl Kling sieht dem Opa auch nicht ähnlich. "Aber natürlich setzt das Emotionen frei."
"PARALLEL" ist bei Reprodukt erschienen, 464 Seiten, 29 Euro. Matthias Lehmann ist am Samstag, 23. Oktober, auf der Frankfurter Buchmesse im Gespräch mit F.A.Z.-Redakteur Andreas Platthaus um 12.30 auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage in Halle 3.1, B 105 zu hören. Um 16 Uhr liest er bei Open Books in der Ausstellungshalle 1a.
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