Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt.
1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin.
Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der
männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt.
Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.
1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin.
Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der
männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt.
Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein Ereignis. Achtzehn Jahre hat Peter Nadas an seinen gewaltigen "Parallelgeschichten" geschrieben, jetzt erscheint der Roman in deutscher Übersetzung von Christina Viragh. Und deren Eleganz ist nicht das mindeste, was Iris Radisch in einem großen Text preist, für den sie Nadas in seinem ungarischen Rückzugsort besucht hat. Wo anfangen? Nach diesem Roman, verspricht Radisch, ist der Leser nicht mehr derselbe, aber auch die Literatur ist es nicht. Die "Parallelgeschichten" beweisen, dass der bürgerliche Roman mit seinem bürgerlichen Ich nur ein "Sandkastenspiel" war, mit "dressierten Geschichten über dressierte Gefühle", mit denen sich das Kulturbürgertum bei Laune hält, während andere die Waffen verkaufen, wie Nadas im Gespräch mit Radisch ätzt und womit sie vollkommen d'accord zu gehen scheint. Überwältigt berichtet sie von einer wochenlange Lektüre, die ihr in insgesamt 39 Kapiteln Geschichten von Kommunisten, Juden und Intellektuellen im Ungarn der sechziger Jahre mit Abstechern nach Berlin erzählen, NS-Hinterlassenschaften spielen eine große Rolle, aber mehr noch die Erotik. Die findet Radisch vielleicht etwas zu überbordend, doch dem Rang dieses Werks tut dies keinen Abbruch, das sie als "grausam schön, unübersichtlich, überraschend, anmutig, lüstern, albtraumhaft und vollkommen labyrinthisch" feiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2012Auskunft geben über den ganzen Menschen, über Sinne und Verstand
Mehr als 1700 Seiten dick sind die „Parallelgeschichten“, das neue Buch von Péter Nádas: Es ist darin, von Budapest bis Berlin, eine ganze Welt verborgen
In einem der Prosastücke, die in seinem Buch „Etwas Licht“ (1999) den Schwarzweißbildern beigegeben sind, hat der ungarische Autor und Fotograf Péter Nádas über seinen Geburtstag, den 14. Oktober 1942, geschrieben: „Ich bin im jüdischen Krankenhaus von Budapest an dem Tag geboren, als die jüdischen Einwohner des frisch besetzten polnischen Mizoc in eine nahe gelegene Steinmine getrieben wurden.“ Die Geburt und das Massaker werden im folgenden parallel erzählt, bis hin zu ihrer Dokumentierung mit den Mitteln der Fotografie – durch ein Mitglied des Sonderkommandos der deutschen Polizei in Polen, durch den Vater des eben geborenen Kindes im Krankenhaus in Budapest.
Das Geschichtenerzählen hebt die geometrische Definition auf, derzufolge eine Parallele von zwei Geraden gebildet wird, die sich nicht schneiden. Parallelgeschichten stellen im Kopf des Lesers Verknüpfungen her, Überlagerungen, Überschneidungen. Péter Nádas muss diese Form des Erzählens früh entdeckt und so hingebungsvoll erforscht haben wie einst die Komponisten die Sonatenform. Wir verdanken dieser Hingabe den Roman „Buch der Erinnerung“ (1986, deutsch 1991) und nun die „Parallelgeschichten“, die über achtzehn Jahre hinweg entstanden, 2005 in Ungarn erschienen und von Christina Viragh in ein makelloses Deutsch übersetzt wurden.
Schon beim „Buch der Erinnerung“ stand der Berufung auf den antiken Autor Plutarch und seine Parallelbiographien ein Motto aus Johannes 2,21 gegenüber: „Er aber redete vom Tempel seines Leibes.“ Denn die Leben, die am 14. Oktober 1942 ausgelöscht wurden, und das Lebewesen, das am selben Tag auf die Welt kam, gehören bei Péter Nádas nicht nur der Welt der Zeitgeschichte an, in der sie überleben oder zugrundgehen. Sie sind zugleich und vor allem Sinnenwesen in der vollen Bedeutung des Wortes, mit Haut und Haaren, voller Begierde, Lust und Schmerz.
So ist es schon zu Beginn dieser „Parallelgeschichten“, die auf den Untertitel „Roman“ vielleicht auch deshalb verzichten, um nicht den Eindruck zu erwecken, hier würde alles zu Ende erzählt. Eine Leiche wird im Tiergarten in Berlin gefunden, 1989, nicht lange nach dem Fall der Mauer, unweit der Marmorstatue der Königin Luise. Der Kommissar, der den Studenten verhört, der die Leiche gefunden hat, ist ein Schnüffler. Er will wissen, was es mit dem Geruch auf sich hat, der von dem unbekannten Toten ausgeht, worin er seine letzte Lust fand, ob das Parfüm, das sich an ihm nachweisen lässt, sein eigenes war.
Der Erzähler Peter Nádas ist mit diesem Kommissar verwandt. Der Kommissar wird den Fall nicht zweifelsfrei aufklären, der Erzähler das Geheimnis der Identität des Toten nicht lüften, aber das Einlaufen des Plots in den Hafen seiner Auflösung wird der Leser nicht vermissen. So sehr wird ihn die beunruhigende Gegenwart in Beschlag nehmen, die im Kommissar das Kind gewinnen wird, das er war, so sehr werden ihn die Obsessionen des studentischen Zeugen bedrängen, die Alptraumsequenzen, die aus seiner Familiengeschichte auftauchen, in ihm Blasen schlagen wie in einem Teich, in dem Ungeheuer hausen und den Leser hineinsaugen in die Welt eines Lagers an der deutsch-niederländischen Grenze kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges.
Ja, diese „Parallelgeschichten“ gehen aus der Überlagerung der historischen Zeiten und Schauplätze hervor. Während sie den sturmgepeitschten 15. März 1961 in Budapest ins Auge fassen, an dem der Nationalfeiertag zu entgleisen droht, blenden sie zugleich zurück in das Jahr 1944, das Jahr der Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden durch die Deutschen, und in das Vorkriegsjahr 1938, in dem die heimischen Pfeilkreuzler schon längst drauf und dran sind, im ungarischen Nationalismus das Element des Antisemitismus anzuheizen.
Während die parallelen, sich immer dichter verschlingenden Geschichten in die Treppenhäuser und Wohnungen Budapests hineingehen und bei Taxifahrten, Spaziergängen und nächtlichem Streunen die Topographie der Stadt mit ihrer Grundspannung zwischen dem alten Buda und dem modernen Pest in ähnlicher Weise Gestalt gewinnt wie im „Ulysses“ Dublin, öffnen sich immer wieder Durchblicke auf andere Zeiten, andere Schauplätze.
An die Seite Budapests tritt die Provinz, die Stadt Mohács und ihre Umgebung, deren Name nicht nur ein Ortsname ist, sondern ein nationales Symbol, weil hier 1526 die große Schlacht gegen die Türken verlorenging. Wie Péter Nádas dieses Terrain und die Donaudampfer, die dorthin führen, der Symbolwelt entführt und mit Figuren bevölkert, in denen die Zwischenkriegszeit gestochen scharf zum Bild wird, das ist ein grandioser Höhepunkt seiner Kunst, Stoffe der Zeitgeschichte mit der Sprache der Literatur zu imprägnieren wie mit Vitriol.
Aus der Provinz stammt ein Dampferkapitän aristokratischer Herkunft, der vor dem Krieg einer nationalen Geheimgesellschaft angehört und im Sozialismus des Jahres 1961 als Taxifahrer die jüdische Gattin eines alten Opportunisten zu ihrem sterbenden Mann ins Krankenhaus fährt. Aus dieser Provinz stammt ein Innenarchitekt, der aus der Bauhaus–Welt zurückkehrt und den Geist der ungarischen ästhetischen Moderne in der Hauptstadt seines Landes zur Geltung bringen will, ehe er nach Amerika auswandert. In dieser Provinz sind viele Namen deutsch und verweisen damit auf eine Grundparallele in diesem weitverzeigten, tiefgestaffelten Buch. Der „Parallelaktion“, die bei Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ noch auf das Gegenüber von Berlin und Wien bezogen war, tritt hier, in den „Parallelgeschichten“ von Péter Nádas, die Polarität von Berlin und Budapest an die Seite.
Das märkische Berlin, die Stadt inmitten ihrer Landschaft, tritt dem Leser in einem minutiös beschriebenen Bild von Walter Leistikow vor Augen, seiner „Märkischen Seenlandschaft“, in die hinein Nádas seinen Leichenfinder, den undurchsichtigen Studenten in den achtziger Jahren versetzt, der am Ufer eines Grunewaldsees im Blick auf die Jünger und Jüngerinnen der Nacktkultur in den Bann seiner erotischen Bedürfnisse gerät. Und das nationalsozialistische Berlin, in dem Martin Niemöller, der Pastor der St. Annen-Gemeinde in Dahlem verhaftet wird, ist mit seinem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ das unmittelbare Gegenüber des jüdischen Budapest nicht nur der Jahre zwischen 1938 und 1944. Die hierangesiedelten Verschlingungen und Rivalitäten zwischen ungarischer Aristokratie, dem Reichsverweser Miklos Horthy und den deutschen Rassekundlern, deren historische Gestalten wie Otmar Freiherr von Verschuer hier böse glänzende, vollplastische geschilderte Wieder- und Doppelgänger erhalten, machen das literarische Muster der „Parallelaktion“ zu einem Medium historischer Erkenntnis.
Die aber hat bei Nádas nicht das letzte Wort, und sie ist nicht die höchste Instanz. Denn dies ist mehr als ein historischer Roman, es ist ein anthropologischer Roman, der das Grundmotiv der Anthropologie der Aufklärung aufnimmt: Auskunft zu geben über den ganzen Menschen, das Sinnenwesen und seine Seele. Gegen die Rasselehren wie gegen die totalitären Ideologien zwischen Nationalsozialismus und geheimdienstgestütztem Sozialismus in Ungarn nach der niedergeschlagenen Revolution von 1956 setzt Nádas die Menschenerforschung in seinem eigenen anthropologischen Institut. Es kennt nicht nur die einstmals „höheren“ Sinne Auge und Ohr, es erforscht den Geschmack, den Tastsinn und vor allem den Geruchssinn mit dem Präzisionsinstrument seiner Sprache. Nie bescheidet sie sich mit der Erzählung dessen, was die Figuren denken, glauben, meinen. Stets ist sie den Parallelgeschichten auf der Spur, die aus dem Zugleich von Körperempfindungen und Bewusstseinsinhalten hervorgehen.
Darum wird hier nicht nur der Familienroman der halb ungarisch-jüdischen, halb ungarisch-deutschen Familie Lippay-Lehr, eines hinreißenden Quartetts alter Damen, einer nihilistischen Jugend, eines Findelkindes, das Sängerin werden will, opportunistischer, zynischer und verzweifelter Macht- und Geheimdienstmenschen erzählt, sondern die Parallelgeschichte der Sinne und der Gedanken: der Körper, die einander gleiten und voneinander nicht lassen können, der Zungen, die nicht reden, sondern die Organe des Anderen umschließen, der Muskeln, die sich auf dem Weg zum Höhepunkt der Lust anspannen, der Haut, die eine Berührung ersehnt oder befürchtet.
So entspricht der soziologischen Genauigkeit, mit der Nádas von der Aristokratie bis zum Proletariat seine Figuren zeichnet, die physiologische Genauigkeit, mit der er den Paarungen und Abstoßungen von Mann und Frau, Mann und Mann, Frau und Mann nachspürt, ohne die Regionen der vollendeten Hemmungslosigkeit, des Überdrusses und des Ekels – und die Komik der Jagd nach Erfüllung – zu meiden. Wer von der Literatur erwartet, dass sie uns Geschichten vom ganzen Menschen erzählt, wie er durch die Zeit geht, der greife nach diesem Buch. Es gehört zu denen, die bleiben werden.
LOTHAR MÜLLER
PÉTER NÁDAS: Parallelgeschichten. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 1728 Seiten, 39,90 Euro.
DANIEL GRAF / DELF SCHMIDT (Hrsg.): Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 240 Seiten, 16.95 Euro .
Der Erzähler Péter Nádas ähnelt
dem Kommissar, den er
erfunden hat: er will alles wissen
Die deutschen Rassekundler
erhalten in diesem Buch
unheimliche Doppelgänger
Die Zungen wollen hier nicht
nur reden, sie wollen
auch heftig ineinander fahren
„Ins Wasser springt man besser von der Brücke“: Unter der Margaretenbrücke in Budapest (oben), fotografiert von Péter Nádas (links) im Jahr 1966, als in Ungarn noch die Geldscheine des Sozialismus kursierten: „Die Wölbung seines Bauchs, seiner Schenkel und Lenden, sein Kopf und seine fabelhafte Figur erinnerten unheimlich an den Mann mit Hammer und Amboss auf dem Zwanzig-Forint-Schein“. Fotos: Rowohlt Verlag/ Barna Burger
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mehr als 1700 Seiten dick sind die „Parallelgeschichten“, das neue Buch von Péter Nádas: Es ist darin, von Budapest bis Berlin, eine ganze Welt verborgen
In einem der Prosastücke, die in seinem Buch „Etwas Licht“ (1999) den Schwarzweißbildern beigegeben sind, hat der ungarische Autor und Fotograf Péter Nádas über seinen Geburtstag, den 14. Oktober 1942, geschrieben: „Ich bin im jüdischen Krankenhaus von Budapest an dem Tag geboren, als die jüdischen Einwohner des frisch besetzten polnischen Mizoc in eine nahe gelegene Steinmine getrieben wurden.“ Die Geburt und das Massaker werden im folgenden parallel erzählt, bis hin zu ihrer Dokumentierung mit den Mitteln der Fotografie – durch ein Mitglied des Sonderkommandos der deutschen Polizei in Polen, durch den Vater des eben geborenen Kindes im Krankenhaus in Budapest.
Das Geschichtenerzählen hebt die geometrische Definition auf, derzufolge eine Parallele von zwei Geraden gebildet wird, die sich nicht schneiden. Parallelgeschichten stellen im Kopf des Lesers Verknüpfungen her, Überlagerungen, Überschneidungen. Péter Nádas muss diese Form des Erzählens früh entdeckt und so hingebungsvoll erforscht haben wie einst die Komponisten die Sonatenform. Wir verdanken dieser Hingabe den Roman „Buch der Erinnerung“ (1986, deutsch 1991) und nun die „Parallelgeschichten“, die über achtzehn Jahre hinweg entstanden, 2005 in Ungarn erschienen und von Christina Viragh in ein makelloses Deutsch übersetzt wurden.
Schon beim „Buch der Erinnerung“ stand der Berufung auf den antiken Autor Plutarch und seine Parallelbiographien ein Motto aus Johannes 2,21 gegenüber: „Er aber redete vom Tempel seines Leibes.“ Denn die Leben, die am 14. Oktober 1942 ausgelöscht wurden, und das Lebewesen, das am selben Tag auf die Welt kam, gehören bei Péter Nádas nicht nur der Welt der Zeitgeschichte an, in der sie überleben oder zugrundgehen. Sie sind zugleich und vor allem Sinnenwesen in der vollen Bedeutung des Wortes, mit Haut und Haaren, voller Begierde, Lust und Schmerz.
So ist es schon zu Beginn dieser „Parallelgeschichten“, die auf den Untertitel „Roman“ vielleicht auch deshalb verzichten, um nicht den Eindruck zu erwecken, hier würde alles zu Ende erzählt. Eine Leiche wird im Tiergarten in Berlin gefunden, 1989, nicht lange nach dem Fall der Mauer, unweit der Marmorstatue der Königin Luise. Der Kommissar, der den Studenten verhört, der die Leiche gefunden hat, ist ein Schnüffler. Er will wissen, was es mit dem Geruch auf sich hat, der von dem unbekannten Toten ausgeht, worin er seine letzte Lust fand, ob das Parfüm, das sich an ihm nachweisen lässt, sein eigenes war.
Der Erzähler Peter Nádas ist mit diesem Kommissar verwandt. Der Kommissar wird den Fall nicht zweifelsfrei aufklären, der Erzähler das Geheimnis der Identität des Toten nicht lüften, aber das Einlaufen des Plots in den Hafen seiner Auflösung wird der Leser nicht vermissen. So sehr wird ihn die beunruhigende Gegenwart in Beschlag nehmen, die im Kommissar das Kind gewinnen wird, das er war, so sehr werden ihn die Obsessionen des studentischen Zeugen bedrängen, die Alptraumsequenzen, die aus seiner Familiengeschichte auftauchen, in ihm Blasen schlagen wie in einem Teich, in dem Ungeheuer hausen und den Leser hineinsaugen in die Welt eines Lagers an der deutsch-niederländischen Grenze kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges.
Ja, diese „Parallelgeschichten“ gehen aus der Überlagerung der historischen Zeiten und Schauplätze hervor. Während sie den sturmgepeitschten 15. März 1961 in Budapest ins Auge fassen, an dem der Nationalfeiertag zu entgleisen droht, blenden sie zugleich zurück in das Jahr 1944, das Jahr der Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden durch die Deutschen, und in das Vorkriegsjahr 1938, in dem die heimischen Pfeilkreuzler schon längst drauf und dran sind, im ungarischen Nationalismus das Element des Antisemitismus anzuheizen.
Während die parallelen, sich immer dichter verschlingenden Geschichten in die Treppenhäuser und Wohnungen Budapests hineingehen und bei Taxifahrten, Spaziergängen und nächtlichem Streunen die Topographie der Stadt mit ihrer Grundspannung zwischen dem alten Buda und dem modernen Pest in ähnlicher Weise Gestalt gewinnt wie im „Ulysses“ Dublin, öffnen sich immer wieder Durchblicke auf andere Zeiten, andere Schauplätze.
An die Seite Budapests tritt die Provinz, die Stadt Mohács und ihre Umgebung, deren Name nicht nur ein Ortsname ist, sondern ein nationales Symbol, weil hier 1526 die große Schlacht gegen die Türken verlorenging. Wie Péter Nádas dieses Terrain und die Donaudampfer, die dorthin führen, der Symbolwelt entführt und mit Figuren bevölkert, in denen die Zwischenkriegszeit gestochen scharf zum Bild wird, das ist ein grandioser Höhepunkt seiner Kunst, Stoffe der Zeitgeschichte mit der Sprache der Literatur zu imprägnieren wie mit Vitriol.
Aus der Provinz stammt ein Dampferkapitän aristokratischer Herkunft, der vor dem Krieg einer nationalen Geheimgesellschaft angehört und im Sozialismus des Jahres 1961 als Taxifahrer die jüdische Gattin eines alten Opportunisten zu ihrem sterbenden Mann ins Krankenhaus fährt. Aus dieser Provinz stammt ein Innenarchitekt, der aus der Bauhaus–Welt zurückkehrt und den Geist der ungarischen ästhetischen Moderne in der Hauptstadt seines Landes zur Geltung bringen will, ehe er nach Amerika auswandert. In dieser Provinz sind viele Namen deutsch und verweisen damit auf eine Grundparallele in diesem weitverzeigten, tiefgestaffelten Buch. Der „Parallelaktion“, die bei Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ noch auf das Gegenüber von Berlin und Wien bezogen war, tritt hier, in den „Parallelgeschichten“ von Péter Nádas, die Polarität von Berlin und Budapest an die Seite.
Das märkische Berlin, die Stadt inmitten ihrer Landschaft, tritt dem Leser in einem minutiös beschriebenen Bild von Walter Leistikow vor Augen, seiner „Märkischen Seenlandschaft“, in die hinein Nádas seinen Leichenfinder, den undurchsichtigen Studenten in den achtziger Jahren versetzt, der am Ufer eines Grunewaldsees im Blick auf die Jünger und Jüngerinnen der Nacktkultur in den Bann seiner erotischen Bedürfnisse gerät. Und das nationalsozialistische Berlin, in dem Martin Niemöller, der Pastor der St. Annen-Gemeinde in Dahlem verhaftet wird, ist mit seinem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ das unmittelbare Gegenüber des jüdischen Budapest nicht nur der Jahre zwischen 1938 und 1944. Die hierangesiedelten Verschlingungen und Rivalitäten zwischen ungarischer Aristokratie, dem Reichsverweser Miklos Horthy und den deutschen Rassekundlern, deren historische Gestalten wie Otmar Freiherr von Verschuer hier böse glänzende, vollplastische geschilderte Wieder- und Doppelgänger erhalten, machen das literarische Muster der „Parallelaktion“ zu einem Medium historischer Erkenntnis.
Die aber hat bei Nádas nicht das letzte Wort, und sie ist nicht die höchste Instanz. Denn dies ist mehr als ein historischer Roman, es ist ein anthropologischer Roman, der das Grundmotiv der Anthropologie der Aufklärung aufnimmt: Auskunft zu geben über den ganzen Menschen, das Sinnenwesen und seine Seele. Gegen die Rasselehren wie gegen die totalitären Ideologien zwischen Nationalsozialismus und geheimdienstgestütztem Sozialismus in Ungarn nach der niedergeschlagenen Revolution von 1956 setzt Nádas die Menschenerforschung in seinem eigenen anthropologischen Institut. Es kennt nicht nur die einstmals „höheren“ Sinne Auge und Ohr, es erforscht den Geschmack, den Tastsinn und vor allem den Geruchssinn mit dem Präzisionsinstrument seiner Sprache. Nie bescheidet sie sich mit der Erzählung dessen, was die Figuren denken, glauben, meinen. Stets ist sie den Parallelgeschichten auf der Spur, die aus dem Zugleich von Körperempfindungen und Bewusstseinsinhalten hervorgehen.
Darum wird hier nicht nur der Familienroman der halb ungarisch-jüdischen, halb ungarisch-deutschen Familie Lippay-Lehr, eines hinreißenden Quartetts alter Damen, einer nihilistischen Jugend, eines Findelkindes, das Sängerin werden will, opportunistischer, zynischer und verzweifelter Macht- und Geheimdienstmenschen erzählt, sondern die Parallelgeschichte der Sinne und der Gedanken: der Körper, die einander gleiten und voneinander nicht lassen können, der Zungen, die nicht reden, sondern die Organe des Anderen umschließen, der Muskeln, die sich auf dem Weg zum Höhepunkt der Lust anspannen, der Haut, die eine Berührung ersehnt oder befürchtet.
So entspricht der soziologischen Genauigkeit, mit der Nádas von der Aristokratie bis zum Proletariat seine Figuren zeichnet, die physiologische Genauigkeit, mit der er den Paarungen und Abstoßungen von Mann und Frau, Mann und Mann, Frau und Mann nachspürt, ohne die Regionen der vollendeten Hemmungslosigkeit, des Überdrusses und des Ekels – und die Komik der Jagd nach Erfüllung – zu meiden. Wer von der Literatur erwartet, dass sie uns Geschichten vom ganzen Menschen erzählt, wie er durch die Zeit geht, der greife nach diesem Buch. Es gehört zu denen, die bleiben werden.
LOTHAR MÜLLER
PÉTER NÁDAS: Parallelgeschichten. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 1728 Seiten, 39,90 Euro.
DANIEL GRAF / DELF SCHMIDT (Hrsg.): Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012. 240 Seiten, 16.95 Euro .
Der Erzähler Péter Nádas ähnelt
dem Kommissar, den er
erfunden hat: er will alles wissen
Die deutschen Rassekundler
erhalten in diesem Buch
unheimliche Doppelgänger
Die Zungen wollen hier nicht
nur reden, sie wollen
auch heftig ineinander fahren
„Ins Wasser springt man besser von der Brücke“: Unter der Margaretenbrücke in Budapest (oben), fotografiert von Péter Nádas (links) im Jahr 1966, als in Ungarn noch die Geldscheine des Sozialismus kursierten: „Die Wölbung seines Bauchs, seiner Schenkel und Lenden, sein Kopf und seine fabelhafte Figur erinnerten unheimlich an den Mann mit Hammer und Amboss auf dem Zwanzig-Forint-Schein“. Fotos: Rowohlt Verlag/ Barna Burger
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012Abschied vom Ich
Das tragische Scheitern des Péter Nádas
Dieser Roman ist monströs. Und damit ist nicht in erster Linie sein Umfang gemeint: drei Bände, 39 Kapitel, mehr als 1700 Seiten. Und auch nicht die Zeit, die sein Autor, Péter Nádas, an ihm arbeitete: 18 Jahre - das ist so lange, wie ein Kind braucht, um erwachsen zu werden.
Begonnen hat Nádas 1985, also noch in sozialistischer Zeit. Die erste große Zäsur während des Schreibens war der Fall der Berliner Mauer vier Jahre später. Und mit diesem Epochenjahr beginnt auch der Roman. Der Student Carl Maria Döhring findet beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche auf einer Parkbank. Der Tote ist ein Mann mit Eigenschaften - sehr gepflegt, eine offensichtliche Vorliebe für die Farbe Blau -, aber ohne festzustellende Identität.
Schon der Auftakt macht deutlich: Bei Nádas geht es um Überleben und Tod, die Umstände, die das eine erlauben und zu dem anderen führen, das Verstricktsein der Lebenden in die Welt der Toten und umgekehrt. Denn etwas Seltsames geschieht mit Döhring, während er in seinen durchgeschwitzten Joggingsachen neben dem spurensichernden Kommissar steht, und man weiß nicht, ob mehr vor Aufregung oder vor Kälte zittert, es ist Dezember, ein paar Tage vor Weihnachten, es hat geschneit. Er sieht in diesem Toten, der ihm ganz unbekannt ist, seinen Vater, denkt, er habe seinen Vater ermordet - und merkt erschrocken, dass er eben das wünscht: den Vatermord. Das Unbewusste wuchert über die Ränder der Vernunft, die frühen, zum Teil Generationen zurückliegenden Traumatisierungen fordern noch von den Nachgeborenen ihren Tribut, machen den Anfang-Zwanzigjährigen verantwortlich für eine Schuld, die weit vor seiner Geburt liegt. Ein Vorfahre gleichen Namens war am Ende des Zweiten Weltkriegs Aufseher eines KZs im Niederrheinischen, aus dem Zahngold toter Häftlinge trug er einen Schatz zusammen, der dem Mann Jahrzehnte später noch immer ein von materiellen Sorgen freies Leben erlaubt. Oder bildet er, bei dem sich eine paranoide Schizophrenie immer mehr manifestiert, es sich nur ein?
Das Jahr 1989 ist die eine der beiden historischen Klammern des Romans - es markiert das Ende einer Epoche, die mit dem Attentat in Sarajevo begann: Der Erste Weltkrieg, bei Musil, bei Proust Zentrum beziehungsweise Schlussstein ihrer großen Untergangserzählungen über die Belle Époque und Kakanien, ist auch für Nádas Zäsur. Das monströse 20. Jahrhundert gibt den Stoff ab für seine "Parallelgeschichten" - und macht diesen "Jahrhundertroman" monströs. Weniger was seinen Umfang angeht, denn natürlich verlangt das Thema nach epischer Breite, sondern vor allem seinen Inhalt und seine Form.
Wie mit dem Seziermesser schneidet Nádas ein paar Tage, Nächte heraus: einen Sonntag im Vorkriegsjahr 1938, den April 1945, die Tage des Ungarnaufstands 1956, den 15. März 1961, Nationalfeiertag der Ungarn. Tage mit besonders markanten Wucherungen, die er unters Erzählmikroskop legt, um ihren verborgenen Kanälen von einer Figur zur anderen, von einem Ort zum anderen nachzuforschen, in einer den Leser nicht selten quälenden Minutiosität. Berlin und Budapest geben zwei wichtige Koordinaten ab in der Erzähltopographie. Hier der verstörte Döhring und sein geträumt-realer Familienclan zu Kriegsende, dort die großbürgerliche Familie Lehr-Lippay und ein Kreis von vier befreundeten Damen - während der deutschen Besatzung und der Herrschaft der Pfeilkreuzler, im Jahr des Ungarnaufstands, der sich stabilisierenden Kádár-Ära und des Eichmann-Prozesses in Jerusalem. Dann ein Internat in der Schweiz, das einem halbjüdisch-ungarischen Zehnjährigen, Ágost Lippay, als Fluchtort dient, und eines im Erzgebirge, wo nazistische erbbiologische Forschung an Pubertierenden betrieben wird - Folterkammern sind beide. Dann das südungarische Städtchen Mohács an den Ufern der Donau, Schauplatz einer doppelten unerfüllten Liebe, zwischen einer der Damen aus Budapest, der Psychoanalytikerin Irma Szemzö, und dem Architekten Alajos Madzar, und diesem selben Madzar und seinem Jugendfreund László Bellardi, der später Ágosts Mutter und seine Geliebte, die Möchtegernsängerin Gyöngyvér Mózes, durch Budapest ans Bett von Ágosts im Sterben liegenden Vater chauffieren wird. Schon diese kleine Nacherzählung einiger weniger Berührungs- und Verknüpfungspunkte zwischen Figuren und Orten macht deutlich, wie Nádas die Zeitebenen, Lebensalter verbindet und dem Erzählraum Tiefe gibt.
Durch die Verknüpfung der ungarischen mit der deutschen Perspektive, der Figuren, die sich durch diesen von zwei Weltkriegen und den Holocaust geprägten, von den Verbrechen der Deutschen und ihren Verbündeten und Gegnern entstellten mitteleuropäischen Raum schlagen, schuldig und zu Opfern werden, gelingt Nádas etwas Erstaunliches: Budapest, Ungarn aus seinem isolierten Winkel, in dem es sich seit dem Vertrag von Trianon, der großen nationalen Demütigung am Ende des Ersten Weltkrieges, durch die es zwei Drittel seines Territoriums und alle Aussicht auf großmachtpolitisches Gewicht verlor und von der es sich, untherapiert, noch immer nicht erholt hat, zum Mittelpunkt einer großen Welterzählung zu machen.
Willkür statt Chaos
Eine Welterzählung, die mit den Riesen der Gattung konkurriert. Denn der Anspruch von Nádas ist immens, sein Roman auch insofern ein Jahrhundertbuch, als die gesamte europäische Erzähltradition darin eingegangen ist und, auch daraus entsteht seine formale Monstrosität, überboten werden soll - insbesondere natürlich die des Romans, der, zusammen mit seinem großen Helden, dem bürgerlichen Ich, in der Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug im Reich der Literatur antrat. Wie Proust liebt Nádas das Pastiche, und so wie jener Balzac und die Goncourts, Madame de Sevigné und France in seinen Roman parodierend integriert und damit auch einen Roman der (Literatur-)Sprachen geschrieben hat, entfaltet Nádas in dem seinen die vielfältige europäische Erzähllandschaft mit ihren Formen und Stilen, der in ihr entwickelten realistischen, naturalistischen, grotesken, expressionistischen Erzählverfahren, mit innerem Monolog und der Verschmelzung von Erzählung und Essay: Angefangen bei Kleist, der seinen Auftritt gleich in den ersten Sätzen hat, über Tolstoi und Henry James, natürlich Proust, Virginia Woolf, Joyce und Musil bis hin zu Svevo und Kafka finden sich die großen Erzähler wie auch die der jüngeren Moderne, Broch, Canetti, Claude Simon, Bernhard, Beckett, Genet.
Anders aber als bei Proust sind die verschiedenen Töne nicht miteinander verschmolzen und in eine große Form integriert, vielmehr stehen sie, wie die nicht selten mitten im Satz wechselnden Zeitebenen, Szenerien, Erzählperspektiven, unvermittelt nebeneinander. Das hat zu tun mit Nádas' Konzept einer "chaotischen" Erzählform, von der er in dem gleichzeitig mit den "Parallelgeschichten" erschienenen Band "Péter Nádas lesen" spricht. Er meint damit nichts anderes, als dass Erzählstränge an willkürlichen Punkten abgeschnitten, wiederaufgenommen, bis zur Leserfolter in bloßer Andeutung gehalten, gedehnt und in Paradoxe gespannt werden (die Behauptung einer Motivation, die dann, im nächsten Halbsatz, in ihr Gegenteil verkehrt wird, ist eins der, leider nicht sehr überzeugenden, Lieblingsmittel von Nádas) - und verwechselt dabei Chaos und Willkür.
Dass er sich dabei geriert, als habe er das akausale, achronologische Erzählen erfunden und sei der Erste, der das unentwirrbare Ineinander von Wünschen und Hoffnungen, traumatischen Erinnerungen und visionären Träumen, fiktionaler Wirklichkeit und Möglichkeitssinn seiner Figuren darzustellen versuche, mutet angesichts seines Panoptikums an modernen Erzählverfahren, die allesamt auf ihre je eigene Weise nichts anderes vorführen, seltsam an. Bis in die Figuren hinein hat er sich bei seinen Vorbildern bedient, ist Döhring doch ein Wiedergänger des Septimus Smith aus Woolfs "Mrs. Dalloway", sind all die Epileptiker eine Reminiszenz an Dostojewskij, und die vielbewunderte viertägige Sexszene eine große Verbeugung vor de Sade, Proust und Bataille. Und natürlich findet sich eine ordnende Kraft, denn ebenso dicht geknüpft wie das Netz aus Straßen, Häusern, Landschaften sowie der unter den Figuren behaupteten und tatsächlichen Beziehungen ist das der Motive. Über sie stellt sich die Einheit von Nádas' Bilderbogen des Schreckens her.
Das erinnert, mehr noch als an die Erzähltechniken und Dramaturgien der modernen Literatur, an die des Films. Das Bildgedächtnis ist genauer, verlässlicher als das sprachliche, was Schauplätze, Gegenstände, Personen, Gesichter betrifft ebenso wie Einstellungen und Ausleuchtung. So macht es die Orientierung innerhalb verschiedener, schnell wechselnder Erzählebenen einfacher. Im Roman wird der Leser dagegen immer wieder konfrontiert mit seiner Unaufmerksamkeit, seiner Vergesslichkeit, seiner Spannungslust, seiner Unlust. Er findet sich wieder in einem Spiel, das ihn durch die seine Leseerwartung durchbrechende und enttäuschende Erzählstruktur zwingt, die Lektüre wie den Vorgang der Lektüre überhaupt zu reflektieren. Etwa wenn ihm Informationen über Figuren, die Hintergründe, die Motive vorenthalten werden, er mit Figuren bekannt gemacht wird, über die er dann nie wieder etwas erfährt, oder die ihm, Hunderte Seiten später, doch wieder begegnen, und er feststellen muss, dass er sie keineswegs vermisst, sondern gänzlich vergessen hat.
Nádas ist ein großer Techniker, und auf die Frustration, die einen beim Lesen immer wieder überfällt, hat er es angelegt. Aber anders als bei den Anti-Erzählern des Kinos, überzeugt die Erzählstrategie bei Nádas nicht. Man versteht schon den Grund für seine abrupten Perspektivwechsel, die quälenden retardierenden Momente, die ins Maßlose gehende Vergrößerung vor allem der körperlichen Details - der Text springe da, so lässt sich natürlich behaupten, auf der formalen Ebene mit dem Leser ebenso totalitär um wie die Figuren, auf der inhaltlichen, mit- und untereinander, dies sei eben die Erfahrung, die der Text, mithilfe seiner quälenden Poetologie, auch körperlich verschaffen wolle. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass da sophistisch entschuldigt wird, dass ein Erzähler seine Form nicht gefunden hat.
Die eine Maske, die passt
Wie schon in seinem ersten großen Roman, dem "Buch der Erinnerung", treibt Nádas auch in den "Parallelgeschichten" letztlich die Frage um, was aus dem großen Helden des bürgerlichen Romans, dem Ich, geworden ist, in den Zeiten der Massen und der Diktaturen - und wie und ob noch erzählt werden kann von ihm. Und so vermeidet der Text immerfort, mit sich selbst identisch zu werden, etabliert einen vielgesichtigen, vielstimmigen Erzähler, der Innen- und Außenperspektive ineinanderschiebt und dessen doppeltes Wollen man in jedem Satz zu spüren bekommt - nämlich zu erzählen und das Erzählen zu verweigern; dem Leser die Empathie zu ermöglichen und ihn aus ihr zu vertreiben; in Ansätzen "gut" zu erzählen und immer wieder auf das Erzählen, seine Möglichkeiten, seine Grenzen zu verweisen.
Aber eine große Ausnahme gibt es, und sie widerlegt auf fast schon rührende Weise die ganze raffinierte Konzeption. Denn da ist Kristóf Demén, Vollwaise, der von den Verwandten aus einem Internat geholt wird, in dem ihm der politische Gegner seines ermordeten Vaters unter neuem Namen eine regimetreue Erziehung angedeihen ließ. Als er jetzt seinen alten, eigentlichen Namen zurückerhält, kommt dieser ihm fremd und zufällig vor: "Ich versuchte aus mir selbst herauszuspüren, wer ich war beziehungsweise ob ich wirklich der war, für den sie mich hielten. Ich hatte den deutlichen Verdacht, ich sei vertauscht worden und sei jemand anderer."
Da dieses "Herausspüren" aber unmöglich ist, da es nichts gibt, woran er sich halten könnte, da er in keine Erzählung gehört, da er nicht einmal seinem Körper traut, "Ich war als Mädchen geboren, ich spürte es" - bleibt ihm nichts als die Selbsterschaffung, eine zweite Geburt. Und man weiß schon, was aus diesem namenlosen, identitätsberaubten Ich werden wird, dass es die Selbsterfindung zum Beruf machen, dass es sich in einen Künstler, Schriftsteller verwandeln wird.
Nicht zufällig hat dieser Kristóf mit Nádas Geburtsjahr und Elternlosigkeit gemein, er ist sein Alter Ego, die am dichtesten mit ihm verwachsene Maske, die einzige, die sich auch dem Leser anschmiegt und mit ihrer zerbrechlichen Schönheit und sanften Kraft identifikatorisch verführt. Und so erscheint mitten im Steinbruch der zerfetzten, zerstückelten "Parallelgeschichten", und darin liegt ihre bis zur Frechheit tragische Ironie, doch noch einmal der klassische Entwicklungs- und Künstlerroman, von dessen Tod Nádas überzeugt ist, den er aber zum Überleben braucht.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Parallelgeschichten". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, 1728 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das tragische Scheitern des Péter Nádas
Dieser Roman ist monströs. Und damit ist nicht in erster Linie sein Umfang gemeint: drei Bände, 39 Kapitel, mehr als 1700 Seiten. Und auch nicht die Zeit, die sein Autor, Péter Nádas, an ihm arbeitete: 18 Jahre - das ist so lange, wie ein Kind braucht, um erwachsen zu werden.
Begonnen hat Nádas 1985, also noch in sozialistischer Zeit. Die erste große Zäsur während des Schreibens war der Fall der Berliner Mauer vier Jahre später. Und mit diesem Epochenjahr beginnt auch der Roman. Der Student Carl Maria Döhring findet beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche auf einer Parkbank. Der Tote ist ein Mann mit Eigenschaften - sehr gepflegt, eine offensichtliche Vorliebe für die Farbe Blau -, aber ohne festzustellende Identität.
Schon der Auftakt macht deutlich: Bei Nádas geht es um Überleben und Tod, die Umstände, die das eine erlauben und zu dem anderen führen, das Verstricktsein der Lebenden in die Welt der Toten und umgekehrt. Denn etwas Seltsames geschieht mit Döhring, während er in seinen durchgeschwitzten Joggingsachen neben dem spurensichernden Kommissar steht, und man weiß nicht, ob mehr vor Aufregung oder vor Kälte zittert, es ist Dezember, ein paar Tage vor Weihnachten, es hat geschneit. Er sieht in diesem Toten, der ihm ganz unbekannt ist, seinen Vater, denkt, er habe seinen Vater ermordet - und merkt erschrocken, dass er eben das wünscht: den Vatermord. Das Unbewusste wuchert über die Ränder der Vernunft, die frühen, zum Teil Generationen zurückliegenden Traumatisierungen fordern noch von den Nachgeborenen ihren Tribut, machen den Anfang-Zwanzigjährigen verantwortlich für eine Schuld, die weit vor seiner Geburt liegt. Ein Vorfahre gleichen Namens war am Ende des Zweiten Weltkriegs Aufseher eines KZs im Niederrheinischen, aus dem Zahngold toter Häftlinge trug er einen Schatz zusammen, der dem Mann Jahrzehnte später noch immer ein von materiellen Sorgen freies Leben erlaubt. Oder bildet er, bei dem sich eine paranoide Schizophrenie immer mehr manifestiert, es sich nur ein?
Das Jahr 1989 ist die eine der beiden historischen Klammern des Romans - es markiert das Ende einer Epoche, die mit dem Attentat in Sarajevo begann: Der Erste Weltkrieg, bei Musil, bei Proust Zentrum beziehungsweise Schlussstein ihrer großen Untergangserzählungen über die Belle Époque und Kakanien, ist auch für Nádas Zäsur. Das monströse 20. Jahrhundert gibt den Stoff ab für seine "Parallelgeschichten" - und macht diesen "Jahrhundertroman" monströs. Weniger was seinen Umfang angeht, denn natürlich verlangt das Thema nach epischer Breite, sondern vor allem seinen Inhalt und seine Form.
Wie mit dem Seziermesser schneidet Nádas ein paar Tage, Nächte heraus: einen Sonntag im Vorkriegsjahr 1938, den April 1945, die Tage des Ungarnaufstands 1956, den 15. März 1961, Nationalfeiertag der Ungarn. Tage mit besonders markanten Wucherungen, die er unters Erzählmikroskop legt, um ihren verborgenen Kanälen von einer Figur zur anderen, von einem Ort zum anderen nachzuforschen, in einer den Leser nicht selten quälenden Minutiosität. Berlin und Budapest geben zwei wichtige Koordinaten ab in der Erzähltopographie. Hier der verstörte Döhring und sein geträumt-realer Familienclan zu Kriegsende, dort die großbürgerliche Familie Lehr-Lippay und ein Kreis von vier befreundeten Damen - während der deutschen Besatzung und der Herrschaft der Pfeilkreuzler, im Jahr des Ungarnaufstands, der sich stabilisierenden Kádár-Ära und des Eichmann-Prozesses in Jerusalem. Dann ein Internat in der Schweiz, das einem halbjüdisch-ungarischen Zehnjährigen, Ágost Lippay, als Fluchtort dient, und eines im Erzgebirge, wo nazistische erbbiologische Forschung an Pubertierenden betrieben wird - Folterkammern sind beide. Dann das südungarische Städtchen Mohács an den Ufern der Donau, Schauplatz einer doppelten unerfüllten Liebe, zwischen einer der Damen aus Budapest, der Psychoanalytikerin Irma Szemzö, und dem Architekten Alajos Madzar, und diesem selben Madzar und seinem Jugendfreund László Bellardi, der später Ágosts Mutter und seine Geliebte, die Möchtegernsängerin Gyöngyvér Mózes, durch Budapest ans Bett von Ágosts im Sterben liegenden Vater chauffieren wird. Schon diese kleine Nacherzählung einiger weniger Berührungs- und Verknüpfungspunkte zwischen Figuren und Orten macht deutlich, wie Nádas die Zeitebenen, Lebensalter verbindet und dem Erzählraum Tiefe gibt.
Durch die Verknüpfung der ungarischen mit der deutschen Perspektive, der Figuren, die sich durch diesen von zwei Weltkriegen und den Holocaust geprägten, von den Verbrechen der Deutschen und ihren Verbündeten und Gegnern entstellten mitteleuropäischen Raum schlagen, schuldig und zu Opfern werden, gelingt Nádas etwas Erstaunliches: Budapest, Ungarn aus seinem isolierten Winkel, in dem es sich seit dem Vertrag von Trianon, der großen nationalen Demütigung am Ende des Ersten Weltkrieges, durch die es zwei Drittel seines Territoriums und alle Aussicht auf großmachtpolitisches Gewicht verlor und von der es sich, untherapiert, noch immer nicht erholt hat, zum Mittelpunkt einer großen Welterzählung zu machen.
Willkür statt Chaos
Eine Welterzählung, die mit den Riesen der Gattung konkurriert. Denn der Anspruch von Nádas ist immens, sein Roman auch insofern ein Jahrhundertbuch, als die gesamte europäische Erzähltradition darin eingegangen ist und, auch daraus entsteht seine formale Monstrosität, überboten werden soll - insbesondere natürlich die des Romans, der, zusammen mit seinem großen Helden, dem bürgerlichen Ich, in der Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug im Reich der Literatur antrat. Wie Proust liebt Nádas das Pastiche, und so wie jener Balzac und die Goncourts, Madame de Sevigné und France in seinen Roman parodierend integriert und damit auch einen Roman der (Literatur-)Sprachen geschrieben hat, entfaltet Nádas in dem seinen die vielfältige europäische Erzähllandschaft mit ihren Formen und Stilen, der in ihr entwickelten realistischen, naturalistischen, grotesken, expressionistischen Erzählverfahren, mit innerem Monolog und der Verschmelzung von Erzählung und Essay: Angefangen bei Kleist, der seinen Auftritt gleich in den ersten Sätzen hat, über Tolstoi und Henry James, natürlich Proust, Virginia Woolf, Joyce und Musil bis hin zu Svevo und Kafka finden sich die großen Erzähler wie auch die der jüngeren Moderne, Broch, Canetti, Claude Simon, Bernhard, Beckett, Genet.
Anders aber als bei Proust sind die verschiedenen Töne nicht miteinander verschmolzen und in eine große Form integriert, vielmehr stehen sie, wie die nicht selten mitten im Satz wechselnden Zeitebenen, Szenerien, Erzählperspektiven, unvermittelt nebeneinander. Das hat zu tun mit Nádas' Konzept einer "chaotischen" Erzählform, von der er in dem gleichzeitig mit den "Parallelgeschichten" erschienenen Band "Péter Nádas lesen" spricht. Er meint damit nichts anderes, als dass Erzählstränge an willkürlichen Punkten abgeschnitten, wiederaufgenommen, bis zur Leserfolter in bloßer Andeutung gehalten, gedehnt und in Paradoxe gespannt werden (die Behauptung einer Motivation, die dann, im nächsten Halbsatz, in ihr Gegenteil verkehrt wird, ist eins der, leider nicht sehr überzeugenden, Lieblingsmittel von Nádas) - und verwechselt dabei Chaos und Willkür.
Dass er sich dabei geriert, als habe er das akausale, achronologische Erzählen erfunden und sei der Erste, der das unentwirrbare Ineinander von Wünschen und Hoffnungen, traumatischen Erinnerungen und visionären Träumen, fiktionaler Wirklichkeit und Möglichkeitssinn seiner Figuren darzustellen versuche, mutet angesichts seines Panoptikums an modernen Erzählverfahren, die allesamt auf ihre je eigene Weise nichts anderes vorführen, seltsam an. Bis in die Figuren hinein hat er sich bei seinen Vorbildern bedient, ist Döhring doch ein Wiedergänger des Septimus Smith aus Woolfs "Mrs. Dalloway", sind all die Epileptiker eine Reminiszenz an Dostojewskij, und die vielbewunderte viertägige Sexszene eine große Verbeugung vor de Sade, Proust und Bataille. Und natürlich findet sich eine ordnende Kraft, denn ebenso dicht geknüpft wie das Netz aus Straßen, Häusern, Landschaften sowie der unter den Figuren behaupteten und tatsächlichen Beziehungen ist das der Motive. Über sie stellt sich die Einheit von Nádas' Bilderbogen des Schreckens her.
Das erinnert, mehr noch als an die Erzähltechniken und Dramaturgien der modernen Literatur, an die des Films. Das Bildgedächtnis ist genauer, verlässlicher als das sprachliche, was Schauplätze, Gegenstände, Personen, Gesichter betrifft ebenso wie Einstellungen und Ausleuchtung. So macht es die Orientierung innerhalb verschiedener, schnell wechselnder Erzählebenen einfacher. Im Roman wird der Leser dagegen immer wieder konfrontiert mit seiner Unaufmerksamkeit, seiner Vergesslichkeit, seiner Spannungslust, seiner Unlust. Er findet sich wieder in einem Spiel, das ihn durch die seine Leseerwartung durchbrechende und enttäuschende Erzählstruktur zwingt, die Lektüre wie den Vorgang der Lektüre überhaupt zu reflektieren. Etwa wenn ihm Informationen über Figuren, die Hintergründe, die Motive vorenthalten werden, er mit Figuren bekannt gemacht wird, über die er dann nie wieder etwas erfährt, oder die ihm, Hunderte Seiten später, doch wieder begegnen, und er feststellen muss, dass er sie keineswegs vermisst, sondern gänzlich vergessen hat.
Nádas ist ein großer Techniker, und auf die Frustration, die einen beim Lesen immer wieder überfällt, hat er es angelegt. Aber anders als bei den Anti-Erzählern des Kinos, überzeugt die Erzählstrategie bei Nádas nicht. Man versteht schon den Grund für seine abrupten Perspektivwechsel, die quälenden retardierenden Momente, die ins Maßlose gehende Vergrößerung vor allem der körperlichen Details - der Text springe da, so lässt sich natürlich behaupten, auf der formalen Ebene mit dem Leser ebenso totalitär um wie die Figuren, auf der inhaltlichen, mit- und untereinander, dies sei eben die Erfahrung, die der Text, mithilfe seiner quälenden Poetologie, auch körperlich verschaffen wolle. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass da sophistisch entschuldigt wird, dass ein Erzähler seine Form nicht gefunden hat.
Die eine Maske, die passt
Wie schon in seinem ersten großen Roman, dem "Buch der Erinnerung", treibt Nádas auch in den "Parallelgeschichten" letztlich die Frage um, was aus dem großen Helden des bürgerlichen Romans, dem Ich, geworden ist, in den Zeiten der Massen und der Diktaturen - und wie und ob noch erzählt werden kann von ihm. Und so vermeidet der Text immerfort, mit sich selbst identisch zu werden, etabliert einen vielgesichtigen, vielstimmigen Erzähler, der Innen- und Außenperspektive ineinanderschiebt und dessen doppeltes Wollen man in jedem Satz zu spüren bekommt - nämlich zu erzählen und das Erzählen zu verweigern; dem Leser die Empathie zu ermöglichen und ihn aus ihr zu vertreiben; in Ansätzen "gut" zu erzählen und immer wieder auf das Erzählen, seine Möglichkeiten, seine Grenzen zu verweisen.
Aber eine große Ausnahme gibt es, und sie widerlegt auf fast schon rührende Weise die ganze raffinierte Konzeption. Denn da ist Kristóf Demén, Vollwaise, der von den Verwandten aus einem Internat geholt wird, in dem ihm der politische Gegner seines ermordeten Vaters unter neuem Namen eine regimetreue Erziehung angedeihen ließ. Als er jetzt seinen alten, eigentlichen Namen zurückerhält, kommt dieser ihm fremd und zufällig vor: "Ich versuchte aus mir selbst herauszuspüren, wer ich war beziehungsweise ob ich wirklich der war, für den sie mich hielten. Ich hatte den deutlichen Verdacht, ich sei vertauscht worden und sei jemand anderer."
Da dieses "Herausspüren" aber unmöglich ist, da es nichts gibt, woran er sich halten könnte, da er in keine Erzählung gehört, da er nicht einmal seinem Körper traut, "Ich war als Mädchen geboren, ich spürte es" - bleibt ihm nichts als die Selbsterschaffung, eine zweite Geburt. Und man weiß schon, was aus diesem namenlosen, identitätsberaubten Ich werden wird, dass es die Selbsterfindung zum Beruf machen, dass es sich in einen Künstler, Schriftsteller verwandeln wird.
Nicht zufällig hat dieser Kristóf mit Nádas Geburtsjahr und Elternlosigkeit gemein, er ist sein Alter Ego, die am dichtesten mit ihm verwachsene Maske, die einzige, die sich auch dem Leser anschmiegt und mit ihrer zerbrechlichen Schönheit und sanften Kraft identifikatorisch verführt. Und so erscheint mitten im Steinbruch der zerfetzten, zerstückelten "Parallelgeschichten", und darin liegt ihre bis zur Frechheit tragische Ironie, doch noch einmal der klassische Entwicklungs- und Künstlerroman, von dessen Tod Nádas überzeugt ist, den er aber zum Überleben braucht.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Parallelgeschichten". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, 1728 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
[Der Roman] will verstören, und er verstört ... Er versenkt sich tief in die unheimlichen Korrespondenzen zwischen dem kollektiven Unbewussten des Ostens und der dunklen Sehnsucht seiner Intellektuellen nach Übertretung und Selbstauslöschung. Iris Radisch Zeit Literaturbeilage 20221013