Produktdetails
- Verlag: Editorial Anagrama
- Seitenzahl: 160
- Erscheinungstermin: 6. März 2018
- Spanisch
- Abmessung: 203mm x 134mm x 15mm
- Gewicht: 189g
- ISBN-13: 9788433960139
- ISBN-10: 843396013X
- Artikelnr.: 50455530
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- Herstellerkennzeichnung
- Libri GmbH
- Europaallee 1
- 36244 Bad Hersfeld
- 06621 890
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2016Er selbst war sein schwierigster Gegenstand
Rafael Chirbes erzählt in seinem nachgelassenen Roman "Paris-Austerlitz" von der Liebe unter Männern
Klappentexte sind Werbetexte. Es gehört zum guten Ton, sie nicht zu zitieren. Noch weniger sollte man sie an der Komplexität des literarischen Werkes messen, das sie bewerben. Dieser aber fasst den Handlungskern des Romans "Paris-Austerlitz" treffend zusammen: "Ein junger spanischer Maler flieht vor den Ansprüchen seiner gutbürgerlichen Familie nach Paris und steht vor dem Nichts. Er hat keinen Job, kein Geld und weiß nicht, wohin, als er Michel kennenlernt, einen Arbeiter Mitte fünfzig, dessen Vitalität ihn fasziniert und anzieht. Sie verlieben sich, Michel nimmt ihn auf, in seine Wohnung, sein Bett, sein Leben."
Man muss das ungefähr so erzählen, wenn man dem Roman des großen spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes (1949 bis 2015) Klarheit verpassen will. Der mächtige Michel mit den großen Händen, der in seiner engen Bude Platz für seinen jungen Freund schafft, ist fürsorglich, etwas naiv, ein großer, stiller Bär von ziemlicher erotischer Gefräßigkeit, die dem jungen Spanier irgendwann zu viel wird. Chirbes aber erzählt die Geschichte von ihrem Ende her, und das bezeichnet den meilenweiten Abstand zum Klappentext. Michel, körperlich verfallen, sieht in einem Krankenhaus in Rouen seinem Ende durch Aids entgegen. Die Trennung liegt schon einige Zeit zurück, die Besuche am Krankenbett sind selten. Der Maler wollte einfach höher hinaus; die Sauftouren im Arbeiterviertel, die Besuche in dunklen Parks und Schwulenbars, die nackt auf dem Bett verbrachten Fernsehwochenenden sind ihm nicht mehr genug. Was bleibt, ist der ehrliche Versuch, den Weg dieser Liebe nachzuzeichnen, mit Feuer, Glut und Asche.
Rafael Chirbes, der wohl bedeutendste spanische Gesellschaftschronist der letzten Jahrzehnte, hat an diesem Roman über zwanzig Jahre hinweg immer wieder gearbeitet. Eine frühe Fassung landete schon vor längerem bei seinem spanischen Verleger Jorge Herralde, dem Leiter des Anagrama-Verlags, und wurde wieder zurückgezogen. Als Chirbes im August letzten Jahres starb, soll er über den Fahnenkorrekturen gesessen haben. Es muss etwas Besonderes an diesem Projekt gewesen sein, und wer die anderen Bücher des Autors kennt, wird ahnen, was. "Paris-Austerlitz" markiert durch die schonungslose Analyse einer schwulen Liebe ein zweites Coming-out und setzt um das Gesamtwerk eine starke Klammer, ohne die man Chirbes' Bücher in Zukunft nicht mehr denken kann.
Schon in seinem Debütwerk "Mimoun" (1988, deutsch 1990 im Wagenbach Verlag) hatte der Autor von der Liebe eines jungen spanischen Lehrers mit schriftstellerischen Ambitionen zu einem Marokkaner erzählt, allerdings wahrnehmbar züchtiger; jetzt ist es ein junger Maler in Paris, der zunächst im Arbeitermilieu vor Anker geht. Beide Bücher sind kleine Bildungsromane mit sexueller Grundierung, Erziehungen des Herzens, in denen Herkunft und soziale Schicht die Liebe strangulieren. Beide Bücher, darauf hat ein spanischer Kritiker hingewiesen, enden mit den Tränen des Verlassenen. Doch während "Mimoun" mit einem Blick in den Himmel ausklingt ("Die Nacht war klar, und über den Schatten der Olivenbäume standen Millionen von Sternen"), als könnte die Weite des Universums das Chaos der Gefühle tröstlich relativieren, bleibt der Blick in "Paris-Austerlitz" fest auf die peinlichen, peinigenden Umstände des Abschieds in Michels Krankenzimmer gerichtet. Der Jüngere wehrt den letzten Liebesanspruch ab und flieht: "Einen Augenblick lang zappelten seine Arme und Beine, fleischlos wie die Beine eines Insekts; dann blieb er reglos liegen, ließ den Kopf auf das Kissen fallen und begann, stoßweise zu schluchzen; in wenigen Sekunden wurde aus dem Schluchzen eine dauernde Wehklage, die, immer lauter werdend, das Zimmer erfüllte und mich durch die Gänge des Hospitals verfolgte, während ich Richtung Ausgang lief."
Warum wir empfinden, was wir empfinden, auch in den intimsten Momenten: Das ist der Treibstoff von Chirbes' Prosa, die sich keine flaue Zeile erlaubt. Der Autor, der in Deutschland lange Zeit erfolgreicher war als in seiner Heimat, schildert die Ekstase und ihr Erkalten, die Verwandlung der Körper und den Umschlag von Kummer in Gleichgültigkeit ohne jede Metaphysik. Es ist die Absage an die "idiotische Suche nach den letzten Dingen", die dem ehemaligen Jesuitenzögling noch im Kopf herumschwirrt. Doch indem der Erzähler vom Scheitern der Liebe (und seinem eigenen Versagen, seinem Kalkül, seiner Engherzigkeit) berichtet, setzt er dem alt gewordenen Freund und dessen verfallender Hülle ein Denkmal. Er will ihm gerecht werden, auch wenn er ihn verlässt. Mehr ist nicht drin. Der innere Richterspruch bleibt ohne Folgen.
Das Lob für den kompakten, bildkräftigen Stil dieses Romans gilt auch der wunderbaren Dagmar Ploetz, der wir (neben einigen frühen Übertragungen der verstorbenen Elke Wehr) die meisten Chirbes-Übersetzungen verdanken. Nur an einer Stelle unterläuft ihr ein Missverständnis: "Ruan" ist die spanische Bezeichnung für die Stadt Rouen und für deutsche Leser beim besten Willen nicht identifizierbar - so wie man auch das spanische "Aquisgrán" wohl kaum als Aachen erkennen würde. Als tief in der Sprache verborgenes Fremdheitssignal weist das Versehen auf ein wichtiges Motiv in Chirbes' Schreiben. Der junge Mann, der dieser Autor war, floh aus den bleiern beengten Verhältnissen des Franco-Staats in die französischsprachige Welt, erst nach Marokko, dann nach Paris, und erlebte in der Fremde, wer er war. Französische Sätze sprenkeln den ersten und den letzten Roman - so wie Gourmet-Rezepte in anderen Büchern den Restaurantkritiker verraten, der Chirbes eine Zeitlang war.
Es wäre falsch, dieses intensive, enorm dichte Buch als eine Abkehr von den Sozialthemen in Chirbes' früheren Romanen zu deuten - der Vergiftung der folgenden Generation durch die Bürgerkriegsniederlage in "Der lange Marsch" (deutsch 1998), der Demontage aller Sozialutopien in "Alte Freunde" (2004) oder der Boom- und Bereicherungsgesellschaft in "Krematorium" (2007) und "Am Ufer" (2013). Genauso falsch wäre es, die harte, schmutzige Poesie von "Paris-Austerlitz" in die Nähe von Jean Genet zu rücken. Der sexuelle Überdruss und die wachsende Fremdheit auf Seiten des Malers werden durch ein unverhofftes Einkommen aus der Hand der Madrider Familie befördert, das es dem jungen Spanier erlaubt, sich von seinem Freund wirtschaftlich unabhängig zu machen.
"Erschafft der Mensch sich nicht etwa selbst mit seiner Hartnäckigkeit, mit der Beherrschung seiner Impulse, mit seiner Willenskraft?" Die Frage steht im neuen Roman, und sie wird eindeutig widerlegt. Es gibt bei Rafael Chirbes kein privates Leben ohne das öffentliche, und auch das Liebesschlachtfeld beschreibt er mit marxistischen Mitteln, indem er nach Bedingungen und Startkapital, nach Ursache und Wirkung forscht. "Paris-Austerlitz" beweist, dass dieser grandiose Schriftsteller nichts auslassen wollte. Er selbst war sein schwierigster Gegenstand.
PAUL INGENDAAY
Rafael Chirbes. "Paris-Austerlitz". Roman.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2016. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rafael Chirbes erzählt in seinem nachgelassenen Roman "Paris-Austerlitz" von der Liebe unter Männern
Klappentexte sind Werbetexte. Es gehört zum guten Ton, sie nicht zu zitieren. Noch weniger sollte man sie an der Komplexität des literarischen Werkes messen, das sie bewerben. Dieser aber fasst den Handlungskern des Romans "Paris-Austerlitz" treffend zusammen: "Ein junger spanischer Maler flieht vor den Ansprüchen seiner gutbürgerlichen Familie nach Paris und steht vor dem Nichts. Er hat keinen Job, kein Geld und weiß nicht, wohin, als er Michel kennenlernt, einen Arbeiter Mitte fünfzig, dessen Vitalität ihn fasziniert und anzieht. Sie verlieben sich, Michel nimmt ihn auf, in seine Wohnung, sein Bett, sein Leben."
Man muss das ungefähr so erzählen, wenn man dem Roman des großen spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes (1949 bis 2015) Klarheit verpassen will. Der mächtige Michel mit den großen Händen, der in seiner engen Bude Platz für seinen jungen Freund schafft, ist fürsorglich, etwas naiv, ein großer, stiller Bär von ziemlicher erotischer Gefräßigkeit, die dem jungen Spanier irgendwann zu viel wird. Chirbes aber erzählt die Geschichte von ihrem Ende her, und das bezeichnet den meilenweiten Abstand zum Klappentext. Michel, körperlich verfallen, sieht in einem Krankenhaus in Rouen seinem Ende durch Aids entgegen. Die Trennung liegt schon einige Zeit zurück, die Besuche am Krankenbett sind selten. Der Maler wollte einfach höher hinaus; die Sauftouren im Arbeiterviertel, die Besuche in dunklen Parks und Schwulenbars, die nackt auf dem Bett verbrachten Fernsehwochenenden sind ihm nicht mehr genug. Was bleibt, ist der ehrliche Versuch, den Weg dieser Liebe nachzuzeichnen, mit Feuer, Glut und Asche.
Rafael Chirbes, der wohl bedeutendste spanische Gesellschaftschronist der letzten Jahrzehnte, hat an diesem Roman über zwanzig Jahre hinweg immer wieder gearbeitet. Eine frühe Fassung landete schon vor längerem bei seinem spanischen Verleger Jorge Herralde, dem Leiter des Anagrama-Verlags, und wurde wieder zurückgezogen. Als Chirbes im August letzten Jahres starb, soll er über den Fahnenkorrekturen gesessen haben. Es muss etwas Besonderes an diesem Projekt gewesen sein, und wer die anderen Bücher des Autors kennt, wird ahnen, was. "Paris-Austerlitz" markiert durch die schonungslose Analyse einer schwulen Liebe ein zweites Coming-out und setzt um das Gesamtwerk eine starke Klammer, ohne die man Chirbes' Bücher in Zukunft nicht mehr denken kann.
Schon in seinem Debütwerk "Mimoun" (1988, deutsch 1990 im Wagenbach Verlag) hatte der Autor von der Liebe eines jungen spanischen Lehrers mit schriftstellerischen Ambitionen zu einem Marokkaner erzählt, allerdings wahrnehmbar züchtiger; jetzt ist es ein junger Maler in Paris, der zunächst im Arbeitermilieu vor Anker geht. Beide Bücher sind kleine Bildungsromane mit sexueller Grundierung, Erziehungen des Herzens, in denen Herkunft und soziale Schicht die Liebe strangulieren. Beide Bücher, darauf hat ein spanischer Kritiker hingewiesen, enden mit den Tränen des Verlassenen. Doch während "Mimoun" mit einem Blick in den Himmel ausklingt ("Die Nacht war klar, und über den Schatten der Olivenbäume standen Millionen von Sternen"), als könnte die Weite des Universums das Chaos der Gefühle tröstlich relativieren, bleibt der Blick in "Paris-Austerlitz" fest auf die peinlichen, peinigenden Umstände des Abschieds in Michels Krankenzimmer gerichtet. Der Jüngere wehrt den letzten Liebesanspruch ab und flieht: "Einen Augenblick lang zappelten seine Arme und Beine, fleischlos wie die Beine eines Insekts; dann blieb er reglos liegen, ließ den Kopf auf das Kissen fallen und begann, stoßweise zu schluchzen; in wenigen Sekunden wurde aus dem Schluchzen eine dauernde Wehklage, die, immer lauter werdend, das Zimmer erfüllte und mich durch die Gänge des Hospitals verfolgte, während ich Richtung Ausgang lief."
Warum wir empfinden, was wir empfinden, auch in den intimsten Momenten: Das ist der Treibstoff von Chirbes' Prosa, die sich keine flaue Zeile erlaubt. Der Autor, der in Deutschland lange Zeit erfolgreicher war als in seiner Heimat, schildert die Ekstase und ihr Erkalten, die Verwandlung der Körper und den Umschlag von Kummer in Gleichgültigkeit ohne jede Metaphysik. Es ist die Absage an die "idiotische Suche nach den letzten Dingen", die dem ehemaligen Jesuitenzögling noch im Kopf herumschwirrt. Doch indem der Erzähler vom Scheitern der Liebe (und seinem eigenen Versagen, seinem Kalkül, seiner Engherzigkeit) berichtet, setzt er dem alt gewordenen Freund und dessen verfallender Hülle ein Denkmal. Er will ihm gerecht werden, auch wenn er ihn verlässt. Mehr ist nicht drin. Der innere Richterspruch bleibt ohne Folgen.
Das Lob für den kompakten, bildkräftigen Stil dieses Romans gilt auch der wunderbaren Dagmar Ploetz, der wir (neben einigen frühen Übertragungen der verstorbenen Elke Wehr) die meisten Chirbes-Übersetzungen verdanken. Nur an einer Stelle unterläuft ihr ein Missverständnis: "Ruan" ist die spanische Bezeichnung für die Stadt Rouen und für deutsche Leser beim besten Willen nicht identifizierbar - so wie man auch das spanische "Aquisgrán" wohl kaum als Aachen erkennen würde. Als tief in der Sprache verborgenes Fremdheitssignal weist das Versehen auf ein wichtiges Motiv in Chirbes' Schreiben. Der junge Mann, der dieser Autor war, floh aus den bleiern beengten Verhältnissen des Franco-Staats in die französischsprachige Welt, erst nach Marokko, dann nach Paris, und erlebte in der Fremde, wer er war. Französische Sätze sprenkeln den ersten und den letzten Roman - so wie Gourmet-Rezepte in anderen Büchern den Restaurantkritiker verraten, der Chirbes eine Zeitlang war.
Es wäre falsch, dieses intensive, enorm dichte Buch als eine Abkehr von den Sozialthemen in Chirbes' früheren Romanen zu deuten - der Vergiftung der folgenden Generation durch die Bürgerkriegsniederlage in "Der lange Marsch" (deutsch 1998), der Demontage aller Sozialutopien in "Alte Freunde" (2004) oder der Boom- und Bereicherungsgesellschaft in "Krematorium" (2007) und "Am Ufer" (2013). Genauso falsch wäre es, die harte, schmutzige Poesie von "Paris-Austerlitz" in die Nähe von Jean Genet zu rücken. Der sexuelle Überdruss und die wachsende Fremdheit auf Seiten des Malers werden durch ein unverhofftes Einkommen aus der Hand der Madrider Familie befördert, das es dem jungen Spanier erlaubt, sich von seinem Freund wirtschaftlich unabhängig zu machen.
"Erschafft der Mensch sich nicht etwa selbst mit seiner Hartnäckigkeit, mit der Beherrschung seiner Impulse, mit seiner Willenskraft?" Die Frage steht im neuen Roman, und sie wird eindeutig widerlegt. Es gibt bei Rafael Chirbes kein privates Leben ohne das öffentliche, und auch das Liebesschlachtfeld beschreibt er mit marxistischen Mitteln, indem er nach Bedingungen und Startkapital, nach Ursache und Wirkung forscht. "Paris-Austerlitz" beweist, dass dieser grandiose Schriftsteller nichts auslassen wollte. Er selbst war sein schwierigster Gegenstand.
PAUL INGENDAAY
Rafael Chirbes. "Paris-Austerlitz". Roman.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2016. 160 S., geb., 20,- [Euro].
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