Die Großmutter erbt viel Geld und eine Putzfrau. Der Vater veruntreut die Kasse des lokalen Fußballvereins. Die tyrannische Mutter bemüht sich um Kontrolle der Situation. Der Bruder hat wenig Talent und ein Geheimnis. Und der Erzähler seinerseits will alles ans Licht bringen. Nachdem seine Familie der Bretagne gezwungenermaßen den Rücken gekehrt und sich im Süden niedergelassen hat, bleibt Louis, der Erzähler, bei seiner Großmutter in Brest und verbringt die Abende mit dem zwielichtigen Sohn ihrer Putzfrau, bei Rotwein und Zigaretten. Ein böser Plan entsteht. Und einmal mehr hört Louis auf seinen vermeintlichen Freund. Im Tonfall eines Geständnisses geschrieben ist dieser Familienkriminalroman ironisch und elegant. Es geht um viel Geld, um bodenlosen Verrat. Genau und schlicht entwickelt der Autor die Geschehnisse, Figuren und das Bühnenbild seiner Geschichte. Mit wenigen, eindrücklichen Strichen baut er eine atemlose Spannung auf, die eines alten britischen Krimis würdig und zugleich voller Humor ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2010Dinosauriertreffen
Urkomisch: Tanguy Viel auf den Spuren der Schtis
"Dann wurde er wieder ernst, betrachtete die Bücherregale an allen Wänden und sagte schließlich: Aber kein Schwein interessiert sich für Familiengeschichten." Da täuscht er sich aber, der junge Kermeur, als ihm Louis, der Ich-Erzähler (dessen Namen wir allerdings erst auf Seite 117 erfahren), gesteht, er wolle den Roman seiner Familie schreiben. Offensichtlich interessieren sich enorm viele Leser für Familiengeschichten aller Art. Man denke nur an die Erfolge von Julia Franck oder Uwe Tellkamp oder Arno Geiger oder Katharina Hacker. Der Familienroman, könnte man beinahe sagen, ist die todsichere Methode, um den Deutschen Buchpreis zu gewinnen.
Nun kann man den Familienroman auf sehr verschiedene Weise schreiben. Man kann ihn als Verfallsgeschichte anlegen (was meistens zum generationenübergreifenden Kolossalgemälde führt) oder als Preislied auf eine Institution, die ihre ökonomische Grundlage zwar längst verloren hat, als Vermittler von Gefühls- und anderen Werten und als schützender Hort aber irgendwie immer noch zu funktionieren scheint. Auch das braucht in der Regel eine Menge Platz. Oder aber man kann eine so wunderschöne, schmutzige kleine Geschichte schreiben wie Tanguy Viel. Nach deren höchst genussreicher Lektüre hat man eigentlich keine Lust mehr, noch irgendein anderes Buch zu diesem Thema zu lesen, weiß man nun doch endgültig: Die Familie ist der Ursprung aller Schrecken.
Wir sind in Brest und, wie der Titel schon sagt, vorübergehend auch in Paris, aber das ist eher ein Nebenschauplatz, fast nur ein Symbol für die gesprengten Ketten und die endlich erlangte Freiheit. Brest, klärt uns der Ich-Erzähler gleich am Anfang auf, ähnele wegen des hartnäckigen Regens "dem Hirn eines Seemanns ... von der Welt geschieden wie eine Halbinsel", und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Stadt "neben ein paar anderen als die scheußlichste von ganz Frankreich gilt". Aber das sind nur die Begleitumstände. Es geht um etwas anderes, nämlich um achtzehn Millionen Franc auf der Haben- und vierzehn Millionen auf der Sollseite. Um Soll und Haben also, wie sich das für eine bürgerliche Familie gehört.
Die achtzehn Millionen hat Louis' Großmutter geerbt, weil sie im richtigen Moment einem Achtundneunzigjährigen vor dem Cercle Marin die Treppe hinunter hilft. Im Cercle Marin essen all die alten Leute zu Mittag, die mal etwas mit der Marine und der Seefahrt zu tun hatten, und da wir uns in Brest befinden, sind das eigentlich alle. Wie Tanguy Viel diese täglichen Dinosauriertreffen beschreibt, das allein ist den Kauf dieses Buchs wert. Die alte Dame erbt jedenfalls von dem noch älteren Herrn achtzehn Millionen und eine Riesenwohnung und dessen Putzfrau - das hat er zur Bedingung gemacht. Die Putzfrau ist Madame Kermeur und folglich die Mutter des "jungen Kermeur" (er heißt nie anders), der also der Meinung ist, kein Schwein interessiere sich für Familiengeschichten.
So weit die Habenseite. Auf der Sollseite sieht es so aus, dass Louis' Vater lange Jahre Vizepräsident des Fußballvereins von Brest war, und zwar, wie Louis betont, in jener großen Zeit, als "wir beinahe einmal um den Europacup gespielt hätten, beinahe, denn Brest hat in seiner Geschichte nicht ein einziges Mal um den Europacup gespielt". Am Ende dieser großen Zeit fehlen leider vierzehn Millionen in der Vereinskasse, wofür man Louis' Vater verantwortlich macht. Für Louis' Vater bedeutet das nicht nur den Abschied vom Verein, für Louis' Eltern bedeutet das auch den - zumindest vorübergehenden - Abschied aus Brest. Sie brechen auf ins Languedoc-Roussillon, nach Südfrankreich also, wie Louis deutlich angewidert registriert. Dort kauft seine Mutter - die mit Abstand schrecklichste Figur in diesem Roman - an strategisch ungünstiger Stelle einen Laden mit Postkarten und anderem Touristenbedarf, in einer Nebenstraße nämlich, in der leider keine Touristen vorbeikommen. Louis vermutet übrigens, "dass meine Mutter das absichtlich getan hatte, dass sie absichtlich ein Geschäft kaufte, das nichts abwerfen würde ... nur um ihren Hass auf das Languedoc-Roussillon zu nähren". Es gibt gewissermaßen einen Nord-Süd-Strang in diesem Roman, der den Leser unwillkürlich an den schönen Film "Willkommen bei den Schtis" denken lässt.
Louis bleibt denn auch in Brest und zieht in die Wohnung unter seiner Großmutter ein. Dort bekommt er täglich Besuch vom jungen Kermeur, der natürlich einen schlechten Einfluss auf ihn ausübt, schon allein deshalb, weil er eben nur der Sohn einer Putzfrau ist, während Louis' Mutter bis zu dem unglücklichen Vorfall mit den vierzehn Millionen Bridge mit der Frau des Staatsanwalts gespielt hat. Tanguy Viels Roman ist ganz beiläufig auch einer über den Klassenkampf, und eine der schönsten Stellen liest sich wie folgt: "Hör gut her, sagte er, du bist aus einer rechten Familie, sagte er, und ich aus einer linken, und gerade darum verstehen wir uns so gut, weil du nicht zu einer rechten Familie gehören magst und ich nicht zu einer linken. - Und was heißt das? - Das heißt, dass es klappen wird."
Es klappt dann eigentlich auch. Die beiden jungen Männer erleichtern die Großmutter, die jede Nacht auf der Basis hochwirksamer Schlaftabletten einen totenähnlichen Schlaf hat, um die erheblichen Mengen Bargeld in ihrer Wohnung, ohne aufzufliegen. Louis' Eltern kehren nach diesem Vorfall zurück in die Bretagne, was für ihn das endgültige Signal ist, Brest zu verlassen und nach Paris zu gehen. Das Schlusskapitel widmet sich einem klassischen Topos des modernen Familienromans: dem Besuch des jungen Mannes bei der Familie über Weihnachten. Da kommt dann so allerhand ans Licht (auch über den Bruder, der im Gegensatz zu Louis das Zeug zum Fußballprofi hat), und es geht naturgemäß einiges schief, und am Ende reist Louis vorzeitig wieder ab. Sein Vater fährt ihn zum Bahnhof, und der Abschied hat sogar etwas Versöhnliches - die Mutter ist hier wohlgemerkt nicht im Bild.
Zuweilen erinnert Tanguy Viels Roman an den frühen Beckett oder an Raymond Queneau. Das heißt, er ist zum Schreien komisch, aber der bittere Unterton ist nicht auszublenden, die leise Trauer darüber, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Gerade diese Ambivalenz macht die eigentliche Qualität des Romans aus. Deshalb nehme man sich unbedingt einen Tag Zeit, schirme sich gegen den Rest der Welt ab - vor allem gegen die Familie! - und lese dieses hinreißende Buch.
JOCHEN SCHIMMANG
Tanguy Viel: "Paris - Brest". Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 141 S., geb., 16,90 [Euro].
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Urkomisch: Tanguy Viel auf den Spuren der Schtis
"Dann wurde er wieder ernst, betrachtete die Bücherregale an allen Wänden und sagte schließlich: Aber kein Schwein interessiert sich für Familiengeschichten." Da täuscht er sich aber, der junge Kermeur, als ihm Louis, der Ich-Erzähler (dessen Namen wir allerdings erst auf Seite 117 erfahren), gesteht, er wolle den Roman seiner Familie schreiben. Offensichtlich interessieren sich enorm viele Leser für Familiengeschichten aller Art. Man denke nur an die Erfolge von Julia Franck oder Uwe Tellkamp oder Arno Geiger oder Katharina Hacker. Der Familienroman, könnte man beinahe sagen, ist die todsichere Methode, um den Deutschen Buchpreis zu gewinnen.
Nun kann man den Familienroman auf sehr verschiedene Weise schreiben. Man kann ihn als Verfallsgeschichte anlegen (was meistens zum generationenübergreifenden Kolossalgemälde führt) oder als Preislied auf eine Institution, die ihre ökonomische Grundlage zwar längst verloren hat, als Vermittler von Gefühls- und anderen Werten und als schützender Hort aber irgendwie immer noch zu funktionieren scheint. Auch das braucht in der Regel eine Menge Platz. Oder aber man kann eine so wunderschöne, schmutzige kleine Geschichte schreiben wie Tanguy Viel. Nach deren höchst genussreicher Lektüre hat man eigentlich keine Lust mehr, noch irgendein anderes Buch zu diesem Thema zu lesen, weiß man nun doch endgültig: Die Familie ist der Ursprung aller Schrecken.
Wir sind in Brest und, wie der Titel schon sagt, vorübergehend auch in Paris, aber das ist eher ein Nebenschauplatz, fast nur ein Symbol für die gesprengten Ketten und die endlich erlangte Freiheit. Brest, klärt uns der Ich-Erzähler gleich am Anfang auf, ähnele wegen des hartnäckigen Regens "dem Hirn eines Seemanns ... von der Welt geschieden wie eine Halbinsel", und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Stadt "neben ein paar anderen als die scheußlichste von ganz Frankreich gilt". Aber das sind nur die Begleitumstände. Es geht um etwas anderes, nämlich um achtzehn Millionen Franc auf der Haben- und vierzehn Millionen auf der Sollseite. Um Soll und Haben also, wie sich das für eine bürgerliche Familie gehört.
Die achtzehn Millionen hat Louis' Großmutter geerbt, weil sie im richtigen Moment einem Achtundneunzigjährigen vor dem Cercle Marin die Treppe hinunter hilft. Im Cercle Marin essen all die alten Leute zu Mittag, die mal etwas mit der Marine und der Seefahrt zu tun hatten, und da wir uns in Brest befinden, sind das eigentlich alle. Wie Tanguy Viel diese täglichen Dinosauriertreffen beschreibt, das allein ist den Kauf dieses Buchs wert. Die alte Dame erbt jedenfalls von dem noch älteren Herrn achtzehn Millionen und eine Riesenwohnung und dessen Putzfrau - das hat er zur Bedingung gemacht. Die Putzfrau ist Madame Kermeur und folglich die Mutter des "jungen Kermeur" (er heißt nie anders), der also der Meinung ist, kein Schwein interessiere sich für Familiengeschichten.
So weit die Habenseite. Auf der Sollseite sieht es so aus, dass Louis' Vater lange Jahre Vizepräsident des Fußballvereins von Brest war, und zwar, wie Louis betont, in jener großen Zeit, als "wir beinahe einmal um den Europacup gespielt hätten, beinahe, denn Brest hat in seiner Geschichte nicht ein einziges Mal um den Europacup gespielt". Am Ende dieser großen Zeit fehlen leider vierzehn Millionen in der Vereinskasse, wofür man Louis' Vater verantwortlich macht. Für Louis' Vater bedeutet das nicht nur den Abschied vom Verein, für Louis' Eltern bedeutet das auch den - zumindest vorübergehenden - Abschied aus Brest. Sie brechen auf ins Languedoc-Roussillon, nach Südfrankreich also, wie Louis deutlich angewidert registriert. Dort kauft seine Mutter - die mit Abstand schrecklichste Figur in diesem Roman - an strategisch ungünstiger Stelle einen Laden mit Postkarten und anderem Touristenbedarf, in einer Nebenstraße nämlich, in der leider keine Touristen vorbeikommen. Louis vermutet übrigens, "dass meine Mutter das absichtlich getan hatte, dass sie absichtlich ein Geschäft kaufte, das nichts abwerfen würde ... nur um ihren Hass auf das Languedoc-Roussillon zu nähren". Es gibt gewissermaßen einen Nord-Süd-Strang in diesem Roman, der den Leser unwillkürlich an den schönen Film "Willkommen bei den Schtis" denken lässt.
Louis bleibt denn auch in Brest und zieht in die Wohnung unter seiner Großmutter ein. Dort bekommt er täglich Besuch vom jungen Kermeur, der natürlich einen schlechten Einfluss auf ihn ausübt, schon allein deshalb, weil er eben nur der Sohn einer Putzfrau ist, während Louis' Mutter bis zu dem unglücklichen Vorfall mit den vierzehn Millionen Bridge mit der Frau des Staatsanwalts gespielt hat. Tanguy Viels Roman ist ganz beiläufig auch einer über den Klassenkampf, und eine der schönsten Stellen liest sich wie folgt: "Hör gut her, sagte er, du bist aus einer rechten Familie, sagte er, und ich aus einer linken, und gerade darum verstehen wir uns so gut, weil du nicht zu einer rechten Familie gehören magst und ich nicht zu einer linken. - Und was heißt das? - Das heißt, dass es klappen wird."
Es klappt dann eigentlich auch. Die beiden jungen Männer erleichtern die Großmutter, die jede Nacht auf der Basis hochwirksamer Schlaftabletten einen totenähnlichen Schlaf hat, um die erheblichen Mengen Bargeld in ihrer Wohnung, ohne aufzufliegen. Louis' Eltern kehren nach diesem Vorfall zurück in die Bretagne, was für ihn das endgültige Signal ist, Brest zu verlassen und nach Paris zu gehen. Das Schlusskapitel widmet sich einem klassischen Topos des modernen Familienromans: dem Besuch des jungen Mannes bei der Familie über Weihnachten. Da kommt dann so allerhand ans Licht (auch über den Bruder, der im Gegensatz zu Louis das Zeug zum Fußballprofi hat), und es geht naturgemäß einiges schief, und am Ende reist Louis vorzeitig wieder ab. Sein Vater fährt ihn zum Bahnhof, und der Abschied hat sogar etwas Versöhnliches - die Mutter ist hier wohlgemerkt nicht im Bild.
Zuweilen erinnert Tanguy Viels Roman an den frühen Beckett oder an Raymond Queneau. Das heißt, er ist zum Schreien komisch, aber der bittere Unterton ist nicht auszublenden, die leise Trauer darüber, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Gerade diese Ambivalenz macht die eigentliche Qualität des Romans aus. Deshalb nehme man sich unbedingt einen Tag Zeit, schirme sich gegen den Rest der Welt ab - vor allem gegen die Familie! - und lese dieses hinreißende Buch.
JOCHEN SCHIMMANG
Tanguy Viel: "Paris - Brest". Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 141 S., geb., 16,90 [Euro].
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