Als Hemingway im Jahre 1956 mit seiner Frau Mary im Hotel Ritz in Paris abstieg, ließ er sich aus dem Keller die Koffer holen, die dort seit mehr als zwanzig Jahren auf ihn warteten. Sie enthielten seine Tagebücher und Aufzeichnungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als er Korrespondent einer kanadischen Zeitung in Paris war. Für Hemingway waren es glückliche Zeiten, als er an der Seine angelte, bescheidene Gewinne beim Pferderennen in Champagner umsetzte, sich mit Gertrude Stein, James Joyce, Ezra Pound und F. Scott Fitzgerald traf - und im übrigen lebte, wie Gott in Frankreich zu leben pflegt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2011Die wahren und guten Dinge
Herabsetzung, Lebens- und Liebeskunst: Ernest Hemingways "Paris - Ein Fest fürs Leben", erstmals in der Urfassung und glänzend neu übersetzt.
Von Wolfgang Schneider
Dieses Buch ist nicht nur ein herausragendes literarisches Werk, sondern auch ein Schlüsseltext zur Kulturgeschichte der Moderne. Das legendäre Paris der zwanziger Jahre mit seiner Kultur der amerikanischen Expats, denen der starke Dollar ein bequemes Leben der Boheme ermöglichte, ist in dieser Prosa zu besichtigen, wie in klaren Bernstein gebannt. Und es ist ein grandioses Porträt des Künstlers als jungen Mann. Gerade hat er die Poetik der radikalen Verknappung erfunden. Er bummelt die Seine entlang, sieht den Anglern zu, und immer arbeiten die Geschichten in ihm. In schön hemdsärmeligen Dialogen werden Fragen des Handwerks besprochen.
Auf den Spuren Hamsuns inszeniert Hemingway seine Hungerjahre in der Großstadt. In Wahrheit waren seine Verhältnisse nicht ganz so ungesichert. Hadley, seine erste Frau, verfügte über Geldzuflüsse. Es war also keineswegs zwingend, dass sich das Paar beim ersten Parisaufenthalt in einer Art Slum einmietete. Später wohnten sie auf dem Hinterhof eines Sägewerks - und Hemingway ging zum Schreiben ins Café. Das Geld investierte er lieber in diverse sportliche Leidenschaften und Pferdewetten. Er boxt mit jedem, der es mit ihm aufnimmt, spielt Tennis mit Ezra Pound, firmiert als Leibwächter für den fragilen James Joyce. Beim Sport liebt er den Geruch von Schweiß und Tod.
Sei einfach, sei wahr - das ist Hemingways stilistisches Mantra. Wenn das mit der Wahrheit bloß immer so einfach wäre. Da schildert er Paris als brodelndes Laboratorium der Moderne - und findet für die eigene Tätigkeit nur Vergleiche aus biblischer Urzeit: "Ich hatte bereits gelernt, den Brunnen meines Schreibens nie zu erschöpfen, sondern stets aufzuhören, wenn im tiefen Teil des Brunnens noch etwas übrig war, und ihn über Nacht von den Quellen, die ihn speisten, wieder füllen zu lassen." Wenn das nicht von Hemingway wäre, könnte es auch von Coelho sein.
Aber Hemingway ist kein dürrer Simplizitätsschreiber; anderswo findet man atemberaubende Metaphern und Vergleiche. Kriegskrüppel sitzen in den Cafés, und er sinniert über die Kunst der Gesichts-Chirurgie: "Ein in großem Umfang wiederhergestelltes Gesicht hatte immer etwas Schillerndes oder Glänzendes, fast so wie eine guteingefahrene Skipiste" - das erinnert in der Übertragung von Detailwahrnehmungen in einen anderen Zusammenhang an das Verfahren Prousts, den er im Übrigen verachtet. Und nicht nur ihn. Über Ford Maddox Ford, den Kollegen und Förderer, heißt es: "Ford saß aufrecht wie ein großer keuchender Fisch und hatte einen Atem, der schlimmer stank als die Fontäne eines Wals."
Höhepunkt ist das über mehrere Kapitel gehende Porträt von Zelda und Scott Fitzgerald. Schon dessen erste Beschreibung ist herabsetzend, betont den "feinen" Mund, "der bei einem Mädchen der Mund einer Schönheit gewesen wäre", und die allzu kurzen Beine. Zelda wird als vergnügungssüchtige Frau geschildert, die aus Eifersucht ständig die Arbeit ihres Mannes sabotiert. Und dann kommt die ungeheuerliche Szene, in der Scott sich dem Alpha-Mann anvertraut: Zelda sei unzufrieden mit der Größe seines Geschlechtsteils. Hemingway, der Arztsohn, bittet Fitzgerald "in die Praxis" (nicht mehr, wie in der alten Übersetzung, "ins Büro"), also auf die Toilette des Restaurants, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Und geht mit Klein-Fitzgerald dann noch hinüber in den Louvre, um ihn anhand der Statuen Penisgrößen zu erläutern. Wieso diese entwürdigende Darstellung des Freundes, dessen "Gatsby" er oft gelobt hatte? In den späten fünfziger Jahren wurde der früh verstorbene Fitzgerald wiederentdeckt, während Hemingway nach dem Nobelpreis stagnierte; hier versucht er, den anschwellenden Ruhm des Rivalen nach Kräften zu beschädigen.
Diese revidierte Ausgabe, die als "Ur-Fassung" daherkommt, folgt dem beinahe fertigen Manuskript, wie es Hemingway bei seinem Selbstmord im Juli 1961 hinterließ. Die Edition von Mary Hemingway und Harry Brague aus dem Jahr 1964 hat die Reihenfolge der Kapitel geändert, einige Absätze aus dem Buch herausgenommen und es im Gegenzug mit fragmentarischem oder gestrichenem Text-Material angereichert, darunter Passagen, die Hemingways zweite Ehefrau Pauline Pfeiffer in ungünstiges Licht rücken. Mit der "Reichen", die sich in seinem Leben "einnistet", betrügt er Hadley. Pauline erscheint als Zerstörerin der Liebe. Herausgeber und Enkel Seán Hemingway will nun seine Mutter Pauline rehabilitieren. Im Kapitel "Der Lotsenfisch und die Reichen", das jetzt unter den zusätzlichen Pariser Skizzen zu lesen ist, schildert Hemingway den Frauenwechsel differenzierter und nimmt den Großteil der Schuld auf sich.
Beim Meister des Weglassens weckt alles Weggelassene große Erwartungen. So genießt man ein paar schöne Outtakes, ein fachmännisches Kapitel über einen Boxkampf und einen verspielt-verliebten Dialog mit Hadley über Frisuren. Amüsant auch ein Kapitel über eine Autofahrt in Philadelphia mit den Fitzgeralds. Zum Besten gehört das Kapitel "Winter in Schruns", das um gestrichene Passagen ergänzt wurde. Dank der Inflation können die Amerikaner nicht nur billig in Paris leben, sondern sich auch nachhaltige Skiferien in den Alpen leisten.
Eine auffallende Änderung der Neuausgabe besteht in der gelegentlichen Verwendung der Selbstanrede in "Du"-Form, wo bisher ein blasses "man" zu lesen war: "Als du Mahlzeiten auslassen musstest, nachdem du den Journalismus aufgegeben hattest und nichts zustande brachtest, was jemand in Amerika kaufen wollte . . ." Der Eindruck ist zwiespältig. Zwar wird bei diesen Passagen nun der Charakter der intimen poetischen Erinnerungsarbeit verstärkt, aber Verbformen wie "du heuertest" oder "du verheiztest" haben nicht gerade Parlando-Charakter.
Trotzdem ist der Gewinn dieser Ausgabe vor allem die frische, luftige Neuübersetzung von Werner Schmitz. Hemingways Stil ist bei aller Einfachheit ja so schwer zu übertragen wie Lyrik; und die alte Übersetzung enthielt manchen Stolperstein - "Hasardspiel mit Pferden" zum Beispiel. Da steht jetzt einfach "Pferdewetten". Und Katherine Mansfields Geschichten lesen sich nicht mehr wie "Fastbier", sondern "wie Dünnbier".
Eines der auratischen Wörter Hemingways ist "wunderbar". "Die Forellen waren einfach wunderbar", Miss Stein leiht ihm "diese wunderbare Geschichte von Jack the Ripper", und über Dostojewski heißt es: "Seine Heiligen sind wunderbar." Das eigentlich nichtssagende Wort hat etwas mit der Essenz des Lebens zu tun, mit einfachen, unverfälschten Genüssen, mit den wahren und guten Dingen. Bei Hemingway, und nur bei ihm, lässt man sich diese Manier gefallen. An einer Stelle beschreibt er, wie er endlich Geld für eine Geschichte bekommt und erst einmal etwas essen geht. Die einfache Sinnlichkeit des Vorgangs wird zum literarischen Ereignis: "Das Bier war sehr kalt und trank sich wunderbar. Die pommes à l'huile waren fest und mariniert und das Olivenöl köstlich. Ich mahlte schwarzen Pfeffer auf die Kartoffeln und tränkte das Brot mit Olivenöl. Nach dem ersten tiefen Schluck Bier trank und aß ich sehr langsam." Das ist ganz einfach: wunderbar.
Ernest Hemingway: "Paris - Ein Fest fürs Leben". Die Urfassung.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 316 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herabsetzung, Lebens- und Liebeskunst: Ernest Hemingways "Paris - Ein Fest fürs Leben", erstmals in der Urfassung und glänzend neu übersetzt.
Von Wolfgang Schneider
Dieses Buch ist nicht nur ein herausragendes literarisches Werk, sondern auch ein Schlüsseltext zur Kulturgeschichte der Moderne. Das legendäre Paris der zwanziger Jahre mit seiner Kultur der amerikanischen Expats, denen der starke Dollar ein bequemes Leben der Boheme ermöglichte, ist in dieser Prosa zu besichtigen, wie in klaren Bernstein gebannt. Und es ist ein grandioses Porträt des Künstlers als jungen Mann. Gerade hat er die Poetik der radikalen Verknappung erfunden. Er bummelt die Seine entlang, sieht den Anglern zu, und immer arbeiten die Geschichten in ihm. In schön hemdsärmeligen Dialogen werden Fragen des Handwerks besprochen.
Auf den Spuren Hamsuns inszeniert Hemingway seine Hungerjahre in der Großstadt. In Wahrheit waren seine Verhältnisse nicht ganz so ungesichert. Hadley, seine erste Frau, verfügte über Geldzuflüsse. Es war also keineswegs zwingend, dass sich das Paar beim ersten Parisaufenthalt in einer Art Slum einmietete. Später wohnten sie auf dem Hinterhof eines Sägewerks - und Hemingway ging zum Schreiben ins Café. Das Geld investierte er lieber in diverse sportliche Leidenschaften und Pferdewetten. Er boxt mit jedem, der es mit ihm aufnimmt, spielt Tennis mit Ezra Pound, firmiert als Leibwächter für den fragilen James Joyce. Beim Sport liebt er den Geruch von Schweiß und Tod.
Sei einfach, sei wahr - das ist Hemingways stilistisches Mantra. Wenn das mit der Wahrheit bloß immer so einfach wäre. Da schildert er Paris als brodelndes Laboratorium der Moderne - und findet für die eigene Tätigkeit nur Vergleiche aus biblischer Urzeit: "Ich hatte bereits gelernt, den Brunnen meines Schreibens nie zu erschöpfen, sondern stets aufzuhören, wenn im tiefen Teil des Brunnens noch etwas übrig war, und ihn über Nacht von den Quellen, die ihn speisten, wieder füllen zu lassen." Wenn das nicht von Hemingway wäre, könnte es auch von Coelho sein.
Aber Hemingway ist kein dürrer Simplizitätsschreiber; anderswo findet man atemberaubende Metaphern und Vergleiche. Kriegskrüppel sitzen in den Cafés, und er sinniert über die Kunst der Gesichts-Chirurgie: "Ein in großem Umfang wiederhergestelltes Gesicht hatte immer etwas Schillerndes oder Glänzendes, fast so wie eine guteingefahrene Skipiste" - das erinnert in der Übertragung von Detailwahrnehmungen in einen anderen Zusammenhang an das Verfahren Prousts, den er im Übrigen verachtet. Und nicht nur ihn. Über Ford Maddox Ford, den Kollegen und Förderer, heißt es: "Ford saß aufrecht wie ein großer keuchender Fisch und hatte einen Atem, der schlimmer stank als die Fontäne eines Wals."
Höhepunkt ist das über mehrere Kapitel gehende Porträt von Zelda und Scott Fitzgerald. Schon dessen erste Beschreibung ist herabsetzend, betont den "feinen" Mund, "der bei einem Mädchen der Mund einer Schönheit gewesen wäre", und die allzu kurzen Beine. Zelda wird als vergnügungssüchtige Frau geschildert, die aus Eifersucht ständig die Arbeit ihres Mannes sabotiert. Und dann kommt die ungeheuerliche Szene, in der Scott sich dem Alpha-Mann anvertraut: Zelda sei unzufrieden mit der Größe seines Geschlechtsteils. Hemingway, der Arztsohn, bittet Fitzgerald "in die Praxis" (nicht mehr, wie in der alten Übersetzung, "ins Büro"), also auf die Toilette des Restaurants, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Und geht mit Klein-Fitzgerald dann noch hinüber in den Louvre, um ihn anhand der Statuen Penisgrößen zu erläutern. Wieso diese entwürdigende Darstellung des Freundes, dessen "Gatsby" er oft gelobt hatte? In den späten fünfziger Jahren wurde der früh verstorbene Fitzgerald wiederentdeckt, während Hemingway nach dem Nobelpreis stagnierte; hier versucht er, den anschwellenden Ruhm des Rivalen nach Kräften zu beschädigen.
Diese revidierte Ausgabe, die als "Ur-Fassung" daherkommt, folgt dem beinahe fertigen Manuskript, wie es Hemingway bei seinem Selbstmord im Juli 1961 hinterließ. Die Edition von Mary Hemingway und Harry Brague aus dem Jahr 1964 hat die Reihenfolge der Kapitel geändert, einige Absätze aus dem Buch herausgenommen und es im Gegenzug mit fragmentarischem oder gestrichenem Text-Material angereichert, darunter Passagen, die Hemingways zweite Ehefrau Pauline Pfeiffer in ungünstiges Licht rücken. Mit der "Reichen", die sich in seinem Leben "einnistet", betrügt er Hadley. Pauline erscheint als Zerstörerin der Liebe. Herausgeber und Enkel Seán Hemingway will nun seine Mutter Pauline rehabilitieren. Im Kapitel "Der Lotsenfisch und die Reichen", das jetzt unter den zusätzlichen Pariser Skizzen zu lesen ist, schildert Hemingway den Frauenwechsel differenzierter und nimmt den Großteil der Schuld auf sich.
Beim Meister des Weglassens weckt alles Weggelassene große Erwartungen. So genießt man ein paar schöne Outtakes, ein fachmännisches Kapitel über einen Boxkampf und einen verspielt-verliebten Dialog mit Hadley über Frisuren. Amüsant auch ein Kapitel über eine Autofahrt in Philadelphia mit den Fitzgeralds. Zum Besten gehört das Kapitel "Winter in Schruns", das um gestrichene Passagen ergänzt wurde. Dank der Inflation können die Amerikaner nicht nur billig in Paris leben, sondern sich auch nachhaltige Skiferien in den Alpen leisten.
Eine auffallende Änderung der Neuausgabe besteht in der gelegentlichen Verwendung der Selbstanrede in "Du"-Form, wo bisher ein blasses "man" zu lesen war: "Als du Mahlzeiten auslassen musstest, nachdem du den Journalismus aufgegeben hattest und nichts zustande brachtest, was jemand in Amerika kaufen wollte . . ." Der Eindruck ist zwiespältig. Zwar wird bei diesen Passagen nun der Charakter der intimen poetischen Erinnerungsarbeit verstärkt, aber Verbformen wie "du heuertest" oder "du verheiztest" haben nicht gerade Parlando-Charakter.
Trotzdem ist der Gewinn dieser Ausgabe vor allem die frische, luftige Neuübersetzung von Werner Schmitz. Hemingways Stil ist bei aller Einfachheit ja so schwer zu übertragen wie Lyrik; und die alte Übersetzung enthielt manchen Stolperstein - "Hasardspiel mit Pferden" zum Beispiel. Da steht jetzt einfach "Pferdewetten". Und Katherine Mansfields Geschichten lesen sich nicht mehr wie "Fastbier", sondern "wie Dünnbier".
Eines der auratischen Wörter Hemingways ist "wunderbar". "Die Forellen waren einfach wunderbar", Miss Stein leiht ihm "diese wunderbare Geschichte von Jack the Ripper", und über Dostojewski heißt es: "Seine Heiligen sind wunderbar." Das eigentlich nichtssagende Wort hat etwas mit der Essenz des Lebens zu tun, mit einfachen, unverfälschten Genüssen, mit den wahren und guten Dingen. Bei Hemingway, und nur bei ihm, lässt man sich diese Manier gefallen. An einer Stelle beschreibt er, wie er endlich Geld für eine Geschichte bekommt und erst einmal etwas essen geht. Die einfache Sinnlichkeit des Vorgangs wird zum literarischen Ereignis: "Das Bier war sehr kalt und trank sich wunderbar. Die pommes à l'huile waren fest und mariniert und das Olivenöl köstlich. Ich mahlte schwarzen Pfeffer auf die Kartoffeln und tränkte das Brot mit Olivenöl. Nach dem ersten tiefen Schluck Bier trank und aß ich sehr langsam." Das ist ganz einfach: wunderbar.
Ernest Hemingway: "Paris - Ein Fest fürs Leben". Die Urfassung.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 316 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2011Das verriegelte Paradies
Keine Sensation, aber immer noch ein hinreißendes Porträt des Künstlers als junger Mann: Die „Urfassung“ von Ernest Hemingways „Paris, ein Fest fürs Leben“
Ernest Hemingway, der sich vor genau fünfzig Jahren, am 2. Juli 1961, den Gnadenschuss gab, ist noch heute ein ungewöhnlich produktiver Autor. Alle paar Jahre erscheint ein neues Werk, in dem die bekannten Themen anklingen: die Jagd, der Krieg, Männer mit und ohne Frauen und der „eine wahre Satz“. Fleißige Lektoren stellen aus dem schier unerschöpflichen Nachlass, der in der John F. Kennedy Library in Boston lagert, immer noch ein Buch her, das Hemingway so nie geschrieben hat und vor allem nie so veröffentlicht haben wollte.
Zwei Jahre nach der amerikanischen Ausgabe erscheint jetzt ein Hemingway-Klassiker neu. „Paris, ein Fest fürs Leben“ ist das Buch, an dem Hemingway noch in den letzten Monaten vor seinen Selbstmord arbeitete. Die fünfziger Jahre hatte der weltberühmte Schriftsteller als Parodie eines weltberühmten Schriftstellers verbracht: Er fuhr mehrfach nach Afrika und posierte mit totem Großwild, er fuhr noch einmal nach Spanien und zeigte sich mit Stierkämpfern, er machte Jagd auf Riesenfische und Werbung für einen Füller und trank sich entschlossen den Verstand weg – alles vor Kameras und eifrig notierenden Bewunderern. Noch immer schrieb er mehrere hundert Wörter am Tag, verbesserte, strich aus, setzte neu an, Hauptsache, es wurden mindestens siebenhundert Wörter. Trotzdem gelang ihm nichts mehr.
Neben den zahlreichen Unfällen dürfte es die damals gern verordnete Elektroschocktherapie gewesen sein, die beinah all sein Talent und jedenfalls seine Erinnerungsfähigkeit raubte. Deshalb kam das Konvolut mit Skizzen und Tagebüchern, das sich bei einem Besuch in Paris anfand, wie ein Geschenk: Da war sie wieder, die verlorene Jugend der lost generation, die keiner mit mehr sentimentalem Pathos feiern konnte als der früh gealterte Hemingway. In Skizzen und Porträts erstand die Erinnerung „an das Paris unserer ersten Jahre, als wir sehr arm und sehr glücklich waren“.
Dieses „wir“ meint neben dem Autor und seiner ersten Frau Hadley Richardson die ex-patriates, Amerikaner allesamt, Schriftsteller die meisten und in Frankreich wie in ganz langen Ferien. In den Vereinigten Staaten war nach dem Ersten Weltkrieg der Ausschank von Alkohol verboten, während das Leben in Europa wegen der Inflation für Ausländer mit Dollar-Einkommen jeden Tag besser wurde. Der junge Hemingway hat noch gar nichts von dem brustfreien Macho, als der er in der populären Mythologie überlebt hat, sondern ist ein lernbegieriger junger Mann, der als Journalist nach Paris gekommen ist und dort von ferne James Joyce bewundert, zu Füßen der strengen Lehrmeisterin Gertrude Stein sitzt, mit Ezra Pound über das mot juste streitet und im Museum die Bilder Paul Cézannes studiert.
Es fehlt natürlich nicht an Säufergeschichten und abträglichen Anekdoten über Kollegen, vor denen sich der Autor – wie gesagt: jung, arm, monogam außerdem – so vorteilhaft abhebt. Er geht zwar zu Pferderennen, wettet aber maßvoll, er war im Krieg, schweigt aber über seine Erlebnisse, er liebt nur seine Frau und berichtet davon, wie es ist, wenn er mit ihr schläft.
Vom Glück, vom reinen, kindlichen Glück handelt dieses Buch, und es teilt sich jedem Leser mit, der mit dem jungen Autor in einem noch nicht fashionablen Viertel aufwacht, wenn die Sonne die nassen Fassaden der Häuser trocknet. „Die Geschäfte waren noch geschlossen. Der Ziegenhirte kam die Straße herauf und blies auf seiner Rohrflöte, und eine Frau, die über uns wohnte, kam mit einem großen Topf auf den Bürgersteig hinaus. Der Ziegenhirte wählte eine der an schweren Eutern tragenden schwarzen Milchziegen aus und melkte sie in den Topf, während sein Hund die anderen auf den Bürgersteig trieb. Die Ziegen sahen sich um und reckten die Hälse wie Touristen.“
Das ist der alte, nämlich der junge Hemingway, der Meister der Parataxe, der absoluten Gleichzeitigkeit. Paris wird in seinen Latrinengerüchen, den bescheidenen Speisen, den kleinen Cafés geschildert; von Touristen keine Spur. Selbst ein inzwischen übervertrautes Getränk wie ein café au lait glüht geheimnisvoll aus dem Schriftbild, eine Botschaft für die Leutchen daheim, die nichts von der exotischen Erfahrung wissen, unbehelligt im Café zu sitzen, langsam an einer Erzählung zu schreiben, mit Bleistift natürlich, während „die aufgerollten Späne in den Unterteller unter meinem Glas rieselten“. Umso verstörender dann, wenn er nach einem ausführlichen Lob des Malers Jules Pascin samt Modellen und deren sexueller Attraktivität beiläufig erwähnt wird, dass er sich später erhängt habe. „Man sagt, die Keime dessen, was wir einmal tun werden, sind in allen von uns.“
Das Buch über die frühen Zwanziger lässt sich als Prolepsis lesen, Paris ist darin nicht nur das Ziel nicht nur einer Suche nach der verlorenen Zeit, sondern des melancholischen Versuchs, wieder in jenes Paradies zu gelangen, als das die frühen Jahre und die erste Ehe mittlerweile erscheinen. Der reiche Nobelpreisträger, inzwischen bei seiner vierten Frau, erinnert sich, wie schön es mit der ersten war, wie er zwar arm war, aber noch schreiben konnte. „Die Geschichte schrieb sich selbst, und ich hatte große Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten.“ Im Anhang finden sich elf unterschiedliche Versuche, in einem Absatz zu erklären, inwiefern die Skizzen Erfindung sind und doch die Wahrheit präsentieren und dafür gleichzeitig Hadley als Zeugin anzurufen. Es gelingt ihm nichts mehr.
Paris war anders. „Ich setzte mich in eine Ecke, in der mir das Nachmittagslicht über die Schulter fiel, nahm mein Notizbuch und schrieb. Der Kellner brachte mir einen café crème, und als der abgekühlt war, trank ich die Hälfte, ließ die Tasse auf dem Tisch stehen und schrieb weiter.“ Er schreibt in Paris im Café von Michigan, den Wäldern seiner Kindheit, vom Fischen und dass er den Krieg weglässt, den dieses Idyll zur Voraussetzung hat. Der Ruhm, der Alkohol, das Männergehabe haben ihn zerstört. Verspätet schreibt sich Hemingway die Warnung hinein, dass es gefährlich sei, wenn ein junger Autor schon Brandy trinke. Gleichzeitig versichert er: „Ich trinke nicht viel.“
Den Alkoholiker F. Scott Fitzgerald beschreibt er deshalb wie einen verlorenen Zwilling, den seine Frau, eine Hexe natürlich, die nur an die nächste Party denkt, betrügt und ruiniert. Der fast gleichaltrige Fitzgerald hatte sich bereits zwei Jahrzehnte vorher zu Tode gesoffen, seine Frau war in einer Heilanstalt gestorben. Niemand konnte deshalb Hemingway daran hindern, seinem ehemaligen Freund den schlimmsten Tort anzutun, den berüchtigten Schwanzvergleich, den er in dem Kapitel „Eine Frage der Maße“ mit ihm anstellt. Fitzgerald zieht dabei, wie könnte es anders sein, den Kürzeren, wird aber vom guten Hem getröstet.
„Es gibt noch viel mehr über den armen Scott und seine komplizierten Tragödien, seine großmütigen und aufopferungsvollen Handlungen zu schreiben, und ich habe darüber geschrieben“, heißt es in einem jetzt nachgereichten Fragment, „und es dann weggelassen“. Warum? Angeblich sind es stilistische Gründe, vor allem aber ist es der Neid auf den golden boy der amerikanischen Literatur, und auch das Bewusstsein, dass er einen Bruder beschreibt, der mit ähnlich viel Glück begann wie er und ähnlich fürchterlich scheiterte.
„Paris, ein Fest fürs Leben“ erschien 1964, ediert von Hemingways letzter Frau Mary Welsh. Die neue Übersetzung von Werner Schmitz ist natürlich viel besser und genauer als die alte von Annemarie Horschitz-Horst, doch ist nicht alles besser geraten. Aus „I was young and not gloomy“, einem Halbsatz, mit dem sich der Erzähler als Gast bei Gertrude Stein schildert, wurde in der alten Übersetzung korrekt „Ich war jung und nicht schwermütig“. Schmitz übersetzt das Bestreiten des melancholischen Zustandes ohne rechten Grund als „Ich war jung und kein Kind von Traurigkeit.“
Patrick Hemingway, einer der Söhne, hat dieser neuen, angeblichen „Urfassung“ ein Geleitwort mitgegeben, und Seán Hemingway, ein Enkel, ausführlich dargelegt, warum sie die echte und die bessere sein soll. Da es in der Literaturwissenschaft das nützliche Institut der Witwenverbrennung nicht gibt, überlebten drei Frauen Hemingways Tod, jede auf ihre Art um Deutungshoheit bemüht. Die neue Edition stellt nicht nur die Reihenfolge der Vignetten um und bringt ein paar zusätzliche, weitgehend entbehrliche Fragmente, sondern sie möchte vor allem die Ehre von Pauline Pfeiffer retten, der Frau, die das Glück mit Hadley zerstörte, und die zufällig Patricks Mutter und Seáns Großmutter ist.
Die nachträglich besungene Armut in Paris hatte nämlich ein Ende, als Hemingway Pauline Pfeiffer kennenlernte, die reich genug war, ihm Safaris in Afrika zu finanzieren. Aus den Ski-Ferien in Vorarlberg und dem Forellenfischen im Baskenland wurde die Elefantenjagd, aus dem Journalisten, der eben den Sprung in die Literatur wagte, ein großer Jäger, der alles hetzte, fischte und abknallte, was sich nur regte. Am Ende putzte er die größte Trophäe weg, sich selber.
WILLI WINKLER
ERNEST HEMINGWAY: Paris, ein Fest fürs Leben. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 316 S., 19,95 Euro.
„Die aufgerollten Bleistiftspäne
rieselten in den Unterteller
unter meinem Glas
Den Alkoholiker Scott F.
Fitzgerald beschreibt Hemingway
wie einen verlorenen Zwilling
Sehnsuchtsort des alten Ernest Hemingway: das Paris der Zwanziger, hier Cafébesucher auf der Terrasse des Eiffel-Turms, 1928. In „Paris, ein Fest fürs Leben“ (1964) wird der junge Hemingway (links, um 1930) noch einmal lebendig.
Fotos: bpk / Kunstbibliothek, SMB (oben), Getty Images
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Keine Sensation, aber immer noch ein hinreißendes Porträt des Künstlers als junger Mann: Die „Urfassung“ von Ernest Hemingways „Paris, ein Fest fürs Leben“
Ernest Hemingway, der sich vor genau fünfzig Jahren, am 2. Juli 1961, den Gnadenschuss gab, ist noch heute ein ungewöhnlich produktiver Autor. Alle paar Jahre erscheint ein neues Werk, in dem die bekannten Themen anklingen: die Jagd, der Krieg, Männer mit und ohne Frauen und der „eine wahre Satz“. Fleißige Lektoren stellen aus dem schier unerschöpflichen Nachlass, der in der John F. Kennedy Library in Boston lagert, immer noch ein Buch her, das Hemingway so nie geschrieben hat und vor allem nie so veröffentlicht haben wollte.
Zwei Jahre nach der amerikanischen Ausgabe erscheint jetzt ein Hemingway-Klassiker neu. „Paris, ein Fest fürs Leben“ ist das Buch, an dem Hemingway noch in den letzten Monaten vor seinen Selbstmord arbeitete. Die fünfziger Jahre hatte der weltberühmte Schriftsteller als Parodie eines weltberühmten Schriftstellers verbracht: Er fuhr mehrfach nach Afrika und posierte mit totem Großwild, er fuhr noch einmal nach Spanien und zeigte sich mit Stierkämpfern, er machte Jagd auf Riesenfische und Werbung für einen Füller und trank sich entschlossen den Verstand weg – alles vor Kameras und eifrig notierenden Bewunderern. Noch immer schrieb er mehrere hundert Wörter am Tag, verbesserte, strich aus, setzte neu an, Hauptsache, es wurden mindestens siebenhundert Wörter. Trotzdem gelang ihm nichts mehr.
Neben den zahlreichen Unfällen dürfte es die damals gern verordnete Elektroschocktherapie gewesen sein, die beinah all sein Talent und jedenfalls seine Erinnerungsfähigkeit raubte. Deshalb kam das Konvolut mit Skizzen und Tagebüchern, das sich bei einem Besuch in Paris anfand, wie ein Geschenk: Da war sie wieder, die verlorene Jugend der lost generation, die keiner mit mehr sentimentalem Pathos feiern konnte als der früh gealterte Hemingway. In Skizzen und Porträts erstand die Erinnerung „an das Paris unserer ersten Jahre, als wir sehr arm und sehr glücklich waren“.
Dieses „wir“ meint neben dem Autor und seiner ersten Frau Hadley Richardson die ex-patriates, Amerikaner allesamt, Schriftsteller die meisten und in Frankreich wie in ganz langen Ferien. In den Vereinigten Staaten war nach dem Ersten Weltkrieg der Ausschank von Alkohol verboten, während das Leben in Europa wegen der Inflation für Ausländer mit Dollar-Einkommen jeden Tag besser wurde. Der junge Hemingway hat noch gar nichts von dem brustfreien Macho, als der er in der populären Mythologie überlebt hat, sondern ist ein lernbegieriger junger Mann, der als Journalist nach Paris gekommen ist und dort von ferne James Joyce bewundert, zu Füßen der strengen Lehrmeisterin Gertrude Stein sitzt, mit Ezra Pound über das mot juste streitet und im Museum die Bilder Paul Cézannes studiert.
Es fehlt natürlich nicht an Säufergeschichten und abträglichen Anekdoten über Kollegen, vor denen sich der Autor – wie gesagt: jung, arm, monogam außerdem – so vorteilhaft abhebt. Er geht zwar zu Pferderennen, wettet aber maßvoll, er war im Krieg, schweigt aber über seine Erlebnisse, er liebt nur seine Frau und berichtet davon, wie es ist, wenn er mit ihr schläft.
Vom Glück, vom reinen, kindlichen Glück handelt dieses Buch, und es teilt sich jedem Leser mit, der mit dem jungen Autor in einem noch nicht fashionablen Viertel aufwacht, wenn die Sonne die nassen Fassaden der Häuser trocknet. „Die Geschäfte waren noch geschlossen. Der Ziegenhirte kam die Straße herauf und blies auf seiner Rohrflöte, und eine Frau, die über uns wohnte, kam mit einem großen Topf auf den Bürgersteig hinaus. Der Ziegenhirte wählte eine der an schweren Eutern tragenden schwarzen Milchziegen aus und melkte sie in den Topf, während sein Hund die anderen auf den Bürgersteig trieb. Die Ziegen sahen sich um und reckten die Hälse wie Touristen.“
Das ist der alte, nämlich der junge Hemingway, der Meister der Parataxe, der absoluten Gleichzeitigkeit. Paris wird in seinen Latrinengerüchen, den bescheidenen Speisen, den kleinen Cafés geschildert; von Touristen keine Spur. Selbst ein inzwischen übervertrautes Getränk wie ein café au lait glüht geheimnisvoll aus dem Schriftbild, eine Botschaft für die Leutchen daheim, die nichts von der exotischen Erfahrung wissen, unbehelligt im Café zu sitzen, langsam an einer Erzählung zu schreiben, mit Bleistift natürlich, während „die aufgerollten Späne in den Unterteller unter meinem Glas rieselten“. Umso verstörender dann, wenn er nach einem ausführlichen Lob des Malers Jules Pascin samt Modellen und deren sexueller Attraktivität beiläufig erwähnt wird, dass er sich später erhängt habe. „Man sagt, die Keime dessen, was wir einmal tun werden, sind in allen von uns.“
Das Buch über die frühen Zwanziger lässt sich als Prolepsis lesen, Paris ist darin nicht nur das Ziel nicht nur einer Suche nach der verlorenen Zeit, sondern des melancholischen Versuchs, wieder in jenes Paradies zu gelangen, als das die frühen Jahre und die erste Ehe mittlerweile erscheinen. Der reiche Nobelpreisträger, inzwischen bei seiner vierten Frau, erinnert sich, wie schön es mit der ersten war, wie er zwar arm war, aber noch schreiben konnte. „Die Geschichte schrieb sich selbst, und ich hatte große Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten.“ Im Anhang finden sich elf unterschiedliche Versuche, in einem Absatz zu erklären, inwiefern die Skizzen Erfindung sind und doch die Wahrheit präsentieren und dafür gleichzeitig Hadley als Zeugin anzurufen. Es gelingt ihm nichts mehr.
Paris war anders. „Ich setzte mich in eine Ecke, in der mir das Nachmittagslicht über die Schulter fiel, nahm mein Notizbuch und schrieb. Der Kellner brachte mir einen café crème, und als der abgekühlt war, trank ich die Hälfte, ließ die Tasse auf dem Tisch stehen und schrieb weiter.“ Er schreibt in Paris im Café von Michigan, den Wäldern seiner Kindheit, vom Fischen und dass er den Krieg weglässt, den dieses Idyll zur Voraussetzung hat. Der Ruhm, der Alkohol, das Männergehabe haben ihn zerstört. Verspätet schreibt sich Hemingway die Warnung hinein, dass es gefährlich sei, wenn ein junger Autor schon Brandy trinke. Gleichzeitig versichert er: „Ich trinke nicht viel.“
Den Alkoholiker F. Scott Fitzgerald beschreibt er deshalb wie einen verlorenen Zwilling, den seine Frau, eine Hexe natürlich, die nur an die nächste Party denkt, betrügt und ruiniert. Der fast gleichaltrige Fitzgerald hatte sich bereits zwei Jahrzehnte vorher zu Tode gesoffen, seine Frau war in einer Heilanstalt gestorben. Niemand konnte deshalb Hemingway daran hindern, seinem ehemaligen Freund den schlimmsten Tort anzutun, den berüchtigten Schwanzvergleich, den er in dem Kapitel „Eine Frage der Maße“ mit ihm anstellt. Fitzgerald zieht dabei, wie könnte es anders sein, den Kürzeren, wird aber vom guten Hem getröstet.
„Es gibt noch viel mehr über den armen Scott und seine komplizierten Tragödien, seine großmütigen und aufopferungsvollen Handlungen zu schreiben, und ich habe darüber geschrieben“, heißt es in einem jetzt nachgereichten Fragment, „und es dann weggelassen“. Warum? Angeblich sind es stilistische Gründe, vor allem aber ist es der Neid auf den golden boy der amerikanischen Literatur, und auch das Bewusstsein, dass er einen Bruder beschreibt, der mit ähnlich viel Glück begann wie er und ähnlich fürchterlich scheiterte.
„Paris, ein Fest fürs Leben“ erschien 1964, ediert von Hemingways letzter Frau Mary Welsh. Die neue Übersetzung von Werner Schmitz ist natürlich viel besser und genauer als die alte von Annemarie Horschitz-Horst, doch ist nicht alles besser geraten. Aus „I was young and not gloomy“, einem Halbsatz, mit dem sich der Erzähler als Gast bei Gertrude Stein schildert, wurde in der alten Übersetzung korrekt „Ich war jung und nicht schwermütig“. Schmitz übersetzt das Bestreiten des melancholischen Zustandes ohne rechten Grund als „Ich war jung und kein Kind von Traurigkeit.“
Patrick Hemingway, einer der Söhne, hat dieser neuen, angeblichen „Urfassung“ ein Geleitwort mitgegeben, und Seán Hemingway, ein Enkel, ausführlich dargelegt, warum sie die echte und die bessere sein soll. Da es in der Literaturwissenschaft das nützliche Institut der Witwenverbrennung nicht gibt, überlebten drei Frauen Hemingways Tod, jede auf ihre Art um Deutungshoheit bemüht. Die neue Edition stellt nicht nur die Reihenfolge der Vignetten um und bringt ein paar zusätzliche, weitgehend entbehrliche Fragmente, sondern sie möchte vor allem die Ehre von Pauline Pfeiffer retten, der Frau, die das Glück mit Hadley zerstörte, und die zufällig Patricks Mutter und Seáns Großmutter ist.
Die nachträglich besungene Armut in Paris hatte nämlich ein Ende, als Hemingway Pauline Pfeiffer kennenlernte, die reich genug war, ihm Safaris in Afrika zu finanzieren. Aus den Ski-Ferien in Vorarlberg und dem Forellenfischen im Baskenland wurde die Elefantenjagd, aus dem Journalisten, der eben den Sprung in die Literatur wagte, ein großer Jäger, der alles hetzte, fischte und abknallte, was sich nur regte. Am Ende putzte er die größte Trophäe weg, sich selber.
WILLI WINKLER
ERNEST HEMINGWAY: Paris, ein Fest fürs Leben. Die Urfassung. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 316 S., 19,95 Euro.
„Die aufgerollten Bleistiftspäne
rieselten in den Unterteller
unter meinem Glas
Den Alkoholiker Scott F.
Fitzgerald beschreibt Hemingway
wie einen verlorenen Zwilling
Sehnsuchtsort des alten Ernest Hemingway: das Paris der Zwanziger, hier Cafébesucher auf der Terrasse des Eiffel-Turms, 1928. In „Paris, ein Fest fürs Leben“ (1964) wird der junge Hemingway (links, um 1930) noch einmal lebendig.
Fotos: bpk / Kunstbibliothek, SMB (oben), Getty Images
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Pünktlich zu Ernest Hemingways 50. Todestag liegt - mal wieder - eine Neuausgabe der unvollendeten Memoiren "Paris - Ein Fest fürs Leben" vor und Rezensent Thomas Hermann ist wider Erwarten begeistert. Denn mit dieser ausgezeichnet recherchierten Ausgabe trage der Herausgeber Sean Hemingway, Enkel des Autors, zu einem differenzierten Hemingway-Bild bei. Während Ernests Witwe Mary deutliche, durch ihre intime Kenntnis des Autors gerechtfertigte Veränderungen in ihrer Edition des Fragmentes vornahm, setze Sean vor allem auf die Authentizität der von ihm herausgegebenen "Urfassung" und komme damit dem Nachlass seines Großvaters bedeutend näher. Für den Rezensenten liegt genau darin deren Mehrwert: dank bisher unveröffentlichter Textpassagen erfahre man nun beispielsweise von Hemingways Skrupeln den Text zu publizieren - er hatte seine Kollegen und Freunde nicht gerade vorteilhaft porträtiert. Und durch die hier veröffentlichten transsexuellen Fantasien entdeckt Hermann die Widersprüchlichkeit des Autors hinter seinem chauvinistischen Helden-Image. Ausdrücklich lobt der Rezensent die Übersetzung von Werner Schmitz, der im Gegensatz zu seiner Vorgängerin auf überflüssige Manierismen verzichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Dieses Buch ist nicht nur ein herausragendes literarisches Werk, sondern auch ein Schlüsseltext zur Kulturgeschichte der Moderne. FAZ.NET