Der bedeutende Schriftphilosoph Jacques Derrida hat Wilhelm von Humboldts Theorie der Schrift nicht reflektiert oder uns zumindest nichts darüber mitgeteilt. Das hat nicht nur zum Hegel-fixierten und elliptischen Charakter der Grammatologie-Debatte beigetragen, sondern auch zur weitgehenden Unkenntnis der humboldtschen Schriftreflexion. Diese erschließt nun zum ersten Mal systematisch die vorliegende Arbeit. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Schrift für Humboldts Sprachdenken ist es erstaunlich, dass die Forschung seiner Schrifttheorie noch nicht umfassend Rechnung getragen hat. Ein Grund hierfür liegt sicher im Konsens über die Zentralität des Begriffs der Rede für Humboldts Sprachanthropologie. Schrift ist für Humboldt aber nicht einfach Abbild der Sprache, sondern das materiale Äquivalent eines formalen Verfahrens der Begriffskonstitution und reicht somit in den tiefsten Bereich seines Sprachbegriffs hinein. Folgenschwerer noch war die lange Unkenntnis des Nachlasses. Weil es nur wenige Texte von Humboldt zur Schriftthematik gibt, zeigt sich die Ausprägung seiner Theorie nämlich erst im Wechselspiel dieser Texte mit der unedierten Korrespondenz. Das gilt vor allem für Humboldts Briefwechsel mit Forschern in Paris, insbesondere mit dem Hieroglyphen-Entzifferer Jean-François Champollion, der hier zum ersten Mal zusammenhängend ediert wird. Insofern als es vor allem außereuropäische Schriftsysteme sind, an denen Humboldt seine Theorie entfaltet, stellt sich schließlich die Frage nach Humboldts Platz im europäischen Orientalismus.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2008Der alphabetisierte Orient
Die Hieroglyphe ist kein Bild: Markus Messlings Studie zu Humboldt und Champollion
Für den französischen Orientalisten Jean-Francois Champollion war es ein überwältigender Augenblick, als er am 14. September 1822 endlich den Schlüssel zur Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen fand. Gegen das traditionsmächtige Dogma, dass es sich dabei um eine reine Bilderschrift handle, stellte er fest, dass die meisten Zeichen einen lautlichen Wert besaßen; und erst diese Wende zur Phonographie ließ lesen, was in den geheimnisvollen, mit einer mythischen Aura umwobenen Hieroglyphen geschrieben worden war. Mit einem Triumphschrei – „je tiens l’affair” – jubelte er über seine Entdeckung und fiel in einer ungeheuren Erregung wie leblos zu Boden. Einige Tage später schrieb er dann den „Lettre à M. Dacier”, um seine epochale Leistung akademisch bekannt- zumachen.
Für den Privatgelehrten Wilhelm von Humboldt, der nach seiner Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst seinen Sinn für die Sprache wissenschaftlich und philosophisch verfeinerte und vertiefte, war es ein Glück, dass ihm Champollions Brief noch rechtzeitig in die Hände gefallen war. Es schützte ihn vor einem schwerwiegenden Irrtum. Denn noch im Winter 1823/24 war er in seiner Arbeit „Über den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache” davon ausgegangen, dass „wahre Bilderschrift allein in Ägypten einheimisch war” und dass die Entwicklung der Schrift folgerichtig vom anfänglichen Bild zur lautorientierten Buchstabenschrift führte, die er für die „sprachlichste” hielt. Jetzt aber musste er einsehen, dass bereits die meisten hieroglyphischen Figuren als Alphabetelemente funktionierten; und so ließen die „phonetischen Hieroglyphen” Humboldt ein neues Bild der Schrift in ihrem Zusammenhang mit dem Sprachbau entwerfen, das er zwischen 1824 und 1827 weiter entfaltete.
Die Rückkehr zu Humboldts Sprachansichten, für die sich seit Mitte der achtziger Jahre vor allem Jürgen Trabant, Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin, engagiert, rückte zwar auch dessen Schriftreflexionen wieder in den Blick. Champollions Leistung wurde jedoch nur stichwortartig erwähnt. Dessen „Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen fließt ein in Humboldts Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Schrift”, hieß es 1986 in Trabants wegweisender Schrift über Humboldts Sprach-Bild.
Diesem knappen Hinweis seines Doktorvaters ist Markus Messling gefolgt und hat nun eine weit ausholende und tiefgreifende Dissertation über Humboldts Theorie der Schrift vorgelegt, in der Champollion eine zentrale Rolle spielt: „Wenn nämlich im ältesten Schriftsystem der Menschheit, als das die ägyptischen Hieroglyphen zu Humboldts Zeit in aller Regel galten, bereits das phonographische, mehr noch, wie Humboldt glaubt, das alphabetische Funktionsprinzip vorkommt, so kommt die Genealogie bereits im Ursprung der Schrift zum Erliegen: Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Menschen zu schreiben, entstehen nicht auseinander, sie sind von Beginn an gegeben, sie sind Anthropologica im eigentlichen Sinne.” Sie entspringen dem jeweiligen „Sprachsinn” einer Kultur und passen sich seiner Individualität an.
Mit diesem Resümee gliedert sich Messlings Studie in Trabants Humboldt-Tradition ein, die sie durch umfangreich recherchiertes Quellenmaterial und äußerst subtile, auch verschlungene Reflexionen, vor allem hinsichtlich der Grammatologie Jacques Derridas und der „Orientalismus”-Kritik Edward W. Saids, aktualisiert. Informativ ist dabei, neben dem Nachweis eines engen französisch-deutschen Kulturtransfers, besonders der Anhang, in dem zum ersten Mal der Briefwechsel zwischen Humboldt und Champollion (1824 bis 1827) dokumentiert worden ist, allerdings nur in französischer Originalsprache. Aber das ist wohl der Intention dieser Humboldt-Studie geschuldet. Sie ist eine exzellente Universitätsarbeit, mit der sich Messling, ohne allzu große Rücksicht auf ein breiteres Lesepublikum, vor allem an die spezialisierten Fachleute der Humboldt-Forschung wendet. Und selbst diesen wird es nicht leicht fallen, in dieser Schrift die abenteuerliche Geschichte einer folgenreichen Entdeckung entziffern zu können. MANFRED GEIER
MARKUS MESSLING: Pariser Orientlektüren. Zu Wilhelm von Humboldts Theorie der Schrift. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2008. 406 Seiten, 44,90 Euro.
Jean François Champollion in einer Chromolithographie des 19. Jahrhunderts Foto: pa/maxppp
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Die Hieroglyphe ist kein Bild: Markus Messlings Studie zu Humboldt und Champollion
Für den französischen Orientalisten Jean-Francois Champollion war es ein überwältigender Augenblick, als er am 14. September 1822 endlich den Schlüssel zur Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen fand. Gegen das traditionsmächtige Dogma, dass es sich dabei um eine reine Bilderschrift handle, stellte er fest, dass die meisten Zeichen einen lautlichen Wert besaßen; und erst diese Wende zur Phonographie ließ lesen, was in den geheimnisvollen, mit einer mythischen Aura umwobenen Hieroglyphen geschrieben worden war. Mit einem Triumphschrei – „je tiens l’affair” – jubelte er über seine Entdeckung und fiel in einer ungeheuren Erregung wie leblos zu Boden. Einige Tage später schrieb er dann den „Lettre à M. Dacier”, um seine epochale Leistung akademisch bekannt- zumachen.
Für den Privatgelehrten Wilhelm von Humboldt, der nach seiner Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst seinen Sinn für die Sprache wissenschaftlich und philosophisch verfeinerte und vertiefte, war es ein Glück, dass ihm Champollions Brief noch rechtzeitig in die Hände gefallen war. Es schützte ihn vor einem schwerwiegenden Irrtum. Denn noch im Winter 1823/24 war er in seiner Arbeit „Über den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache” davon ausgegangen, dass „wahre Bilderschrift allein in Ägypten einheimisch war” und dass die Entwicklung der Schrift folgerichtig vom anfänglichen Bild zur lautorientierten Buchstabenschrift führte, die er für die „sprachlichste” hielt. Jetzt aber musste er einsehen, dass bereits die meisten hieroglyphischen Figuren als Alphabetelemente funktionierten; und so ließen die „phonetischen Hieroglyphen” Humboldt ein neues Bild der Schrift in ihrem Zusammenhang mit dem Sprachbau entwerfen, das er zwischen 1824 und 1827 weiter entfaltete.
Die Rückkehr zu Humboldts Sprachansichten, für die sich seit Mitte der achtziger Jahre vor allem Jürgen Trabant, Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin, engagiert, rückte zwar auch dessen Schriftreflexionen wieder in den Blick. Champollions Leistung wurde jedoch nur stichwortartig erwähnt. Dessen „Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen fließt ein in Humboldts Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Schrift”, hieß es 1986 in Trabants wegweisender Schrift über Humboldts Sprach-Bild.
Diesem knappen Hinweis seines Doktorvaters ist Markus Messling gefolgt und hat nun eine weit ausholende und tiefgreifende Dissertation über Humboldts Theorie der Schrift vorgelegt, in der Champollion eine zentrale Rolle spielt: „Wenn nämlich im ältesten Schriftsystem der Menschheit, als das die ägyptischen Hieroglyphen zu Humboldts Zeit in aller Regel galten, bereits das phonographische, mehr noch, wie Humboldt glaubt, das alphabetische Funktionsprinzip vorkommt, so kommt die Genealogie bereits im Ursprung der Schrift zum Erliegen: Die unterschiedlichen Möglichkeiten des Menschen zu schreiben, entstehen nicht auseinander, sie sind von Beginn an gegeben, sie sind Anthropologica im eigentlichen Sinne.” Sie entspringen dem jeweiligen „Sprachsinn” einer Kultur und passen sich seiner Individualität an.
Mit diesem Resümee gliedert sich Messlings Studie in Trabants Humboldt-Tradition ein, die sie durch umfangreich recherchiertes Quellenmaterial und äußerst subtile, auch verschlungene Reflexionen, vor allem hinsichtlich der Grammatologie Jacques Derridas und der „Orientalismus”-Kritik Edward W. Saids, aktualisiert. Informativ ist dabei, neben dem Nachweis eines engen französisch-deutschen Kulturtransfers, besonders der Anhang, in dem zum ersten Mal der Briefwechsel zwischen Humboldt und Champollion (1824 bis 1827) dokumentiert worden ist, allerdings nur in französischer Originalsprache. Aber das ist wohl der Intention dieser Humboldt-Studie geschuldet. Sie ist eine exzellente Universitätsarbeit, mit der sich Messling, ohne allzu große Rücksicht auf ein breiteres Lesepublikum, vor allem an die spezialisierten Fachleute der Humboldt-Forschung wendet. Und selbst diesen wird es nicht leicht fallen, in dieser Schrift die abenteuerliche Geschichte einer folgenreichen Entdeckung entziffern zu können. MANFRED GEIER
MARKUS MESSLING: Pariser Orientlektüren. Zu Wilhelm von Humboldts Theorie der Schrift. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2008. 406 Seiten, 44,90 Euro.
Jean François Champollion in einer Chromolithographie des 19. Jahrhunderts Foto: pa/maxppp
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beeindruckt und gefesselt hat Manfred Geier die Dissertation von Markus Meßling gelesen, der darin Wilhelm von Humboldts Schrifttheorie und ihre Voraussetzungen in der Hieroglyphenentzifferung des französischen Orientalisten Jean-Francois Champollion untersucht. Der Autor zeichne in seiner umfassenden Studie Humboldts Entwicklung einer Theorie der Entstehung von Schrift nach, die Champollions Entdeckung, dass es sich bei den Hieroglyphen nicht, wie bis dahin angenommen, um eine reine Bildsprache, sondern um ein grundsätzlich phonetisches Schriftsystem handelt, entscheidend beeinflusste, erklärt der Rezensent. Er lobt das gründliche Quellenstudium und die tiefgründigen Reflexionen, die Meßling besonders auf der Grundlage von Jacques Derrida Grammatologie entwickelt und findet es erfreulich, dass im Anhang auch der Briefwechsel zwischen Humboldt und Champollion enthalten ist. Wenn sich die Korrespondenz allerdings dort unübersetzt nur auf Französisch nachvollziehen lässt, macht das schon deutlich, dass sich dieses Buch ausschließlich an ein akademisches Fachpublikum wendet, das durch diese Studie zudem stark gefordert ist, warnt Geier.
© Perlentaucher Medien GmbH
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