Was es bedeutet, jung zu sein in unsicherer Zeit: Noch im April 1942 beschreibt die Literaturstudentin Hélène in ihrem Tagebuch Paris als Stadt der Lebensfreude. Im Juni bereits muss sie den Judenstern tragen, ihr Vater wird festgenommen, und sie beendet ihre Aufzeichnungen. Als sie das Tagebuch 1943 wiederaufnimmt, legt sie Zeugnis ab vom grassierenden Antisemitismus und von dem Unrecht, das während der deutschen Besatzung geschieht. Hélène Berr steht internierten Juden und ihren Angehörigen bei. Sie schwebt in Gefahr, aber sie will nicht fliehen. Patrick Modiano hat Hélène Berr mit Simone Weil und Katherine Mansfield verglichen. Ihr Tagebuch gehört zu den bedeutendsten Zeugnissen der Shoa in Frankreich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2009Kopf hoch, so sind Sie hübscher
Sie ist die französische Anne Frank: Heute erscheint in Deutschland Hélène Berrs Tagebuch aus dem besetzten Paris. Ihr Journal ist der berührende Zeugenbericht einer starken Frau.
PARIS, 3. Februar.
Kinder gehen von Bord eines Schiffs, manche blinzeln frech in die Kamera, andere schauen verschlossen daran vorbei. Eine derzeit in Paris laufende Ausstellung über die "Reichskristallnacht" im Mémorial de la Shoah schließt mit dieser Dokumentarfilmsequenz von der Ankunft eines jüdischen Kindertransports aus Österreich im englischen Hafen von Harwich Ende der dreißiger Jahre. Diese Kinder waren nun auf der sicheren Seite. Drei Etagen tiefer liegen in einer Vitrine der Dauerausstellung des Mémorial ein paar lose Blätter mit einer unregelmäßigen, offenbar schnell hingekritzelten Handschrift, in der ebenfalls von Blicken die Rede ist. "Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde", heißt es da: "Ich ging mit hocherhobenem Kopf und habe den Leuten so fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten."
Das Datum dieses Eintrags ist der 8. Juni 1942, die Autorin heißt Hélène Berr, eine einundzwanzigjährige Pariser Studentin aus gutsituiertem jüdischem Haus. Sie war gerade zum ersten Mal mit dem fortan für Juden obligatorischen gelben Stern auf der Brust ausgegangen und notierte die Erfahrung so detailliert wie viele andere Einzelheiten ihres Alltags ins Tagebuch. Sie beschreibt die Blicke der Leute, deren verlegenes Wegschauen, die Zeichen von Sympathie, das Fingerzeigen der Kinder, das schroffe "Letzter Wagen!" des Kontrolleurs in der Métro, das steife "Ein elsässischer Katholik reicht Ihnen die Hand, Mademoiselle" eines Unbekannten auf der Straße, das gutgemeinte "Kopf hoch, so sind Sie noch viel hübscher" des Postangestellten, das ihr die Tränen in die Augen treibt.
Hélène Berr hatte dieses Tagebuch im Frühjahr 1942 begonnen und mit einer Pause bis Februar 1944 geführt. Drei Wochen später wurde sie zusammen mit ihren Eltern verhaftet, kam nach Auschwitz, dann nach Bergen-Belsen, wo sie im April 1945 wenige Tage vor der Befreiung starb. Ihr Tagebuch erschien vor einem Jahr erstmals in Frankreich, wo es mit achtzigtausend verkauften Exemplaren ein großes Leserecho fand. Nach englischen, portugiesischen, holländischen Übersetzungen erscheint das Buch heute als "Pariser Tagebuch 1942-1944" in der Übersetzung von Elisabeth Edl beim Hanser Verlag auf Deutsch.
Dass dies viel mehr ist als nur ein weiterer Zeugenbericht eines Holocaust-Opfers, hat neben dem Publikum auch die französische Kritik früh bemerkt. In seiner ungekünstelten Direktheit und Klarheit ist der Text zugleich privates Lebenszeugnis, Botschaft an einen kaum gekannten, fernen Verlobten, den die Autorin nie wiedersehen sollte, symptomatische Alltagsbeschreibung aus dem besetzten Paris und Reflexion von erstaunlicher Reife. Nichts drängte auf Publikation. Das Tagebuch von Hélène sei in der Familie als Maschinenabschrift zirkuliert, sagt Mariette Job, Hélène Berrs Nichte, die hinter der Veröffentlichung steht: Unzählige Male habe sie es seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gelesen. Allmählich habe sich aber die Sorge aufgedrängt, das Originalmanuskript könnte verschwinden. So entschloss sich Frau Job vor siebzehn Jahren zu Nachforschungen. Da Hélène Berr selbst in ihren Aufzeichnungen den Wunsch äußert, das Tagebuch solle Jean Morawiecki zukommen, ihrem fernen Verlobten, falls sie deportiert werde, war der Inhaber schnell gefunden. Ihm war das Konvolut nach dem Krieg überreicht worden. Er vermachte das Manuskript dann 1994 Hélène Berrs Nichte, die es schließlich im Mémorial de la Shoah hinterlegte.
Ein gutes Dutzend Vitrinen veranschaulichen dort exemplarisch an jeweils einem Einzelschicksal die Ereignisse mit Briefen, Fotos, Amtspapieren, persönlichen Objekten. Keine andere verbindet aber so eindringlich Privatheit und literarisch durchsetzte Allgemeinrelevanz. Hélène Berr arbeitete nach ihrem Literaturstudium an einer Promotion über Keats, da ihr als Jüdin die Lehramtsprüfung versagt war. Sensibilität und Empörungsfähigkeit sind die beiden Grundzüge des Journals. Durch einen heraufziehenden Regen kann die Glücksstimmung der Autorin beim Flanieren durch Paris oder beim Himbeerenpflücken im Landhaus jäh in Trübsinn umschlagen. Bis in die letzten Monate schwebt über diesen Seiten eine unerlöste Ambivalenz. Die Schönheit des Frühlings und die Barbarei der Verfolgung gehen unmittelbar zusammen. "Das Leben ist weiterhin seltsam schäbig und seltsam schön", notierte sie im Juni 1942, noch bevor ihr Vater verhaftet wurde, weil sein Judenstern nicht aufgenäht, sondern mit einer Nadel angeheftet war.
Die Tränen der jungen Frau sind Tränen der Wut, wenn den Juden etwa das Überqueren der Champs-Élysées verboten wird. Die Nachricht sei in einem scheinheilig natürlichen Ton abgefasst, als wäre es selbstverständlich, dass in Frankreich Juden verfolgt würden, notiert die Autorin: "Als ich daran dachte, kochte ich so sehr, dass ich in dieses Zimmer gekommen bin, um mich zu beruhigen." Sie beruhigt sich durchs Aufschreiben - "denn man darf nichts vergessen". Die ganze Wirklichkeit will sie aufschreiben, und sie will nie daran denken, dass andere es lesen könnten, "um die eigene Haltung nicht zu verfälschen". Empörung schlug aber bei Hélène Berr, die sich in einem geheimen Hilfswerk für jüdische Kinder engagierte, nie in Hass um. Eine jähe Begegnung mit einer großen Zahl Deutscher auf der Place de la Concorde weckt in ihr allenfalls Auflehnung dagegen, dass diese Männer, die ganz Europa die Lebensfreude geraubt haben, so schlecht zur "zerbrechlichen Schönheit von Paris" passen - "und diese Fremden, die weder Paris noch Frankreich jemals verstehen werden, behaupten, ich sei keine Französin".
Im Herbst 1943 verdichten sich jedoch die Todesahnungen, nicht zuletzt durch die Gerüchte, was mit den Deportierten geschieht. Es ist nicht Schicksalsergebenheit eines künftigen Opfers, sondern eine mürbe gewordene Auflehnung. "Ich vergesse, dass ich ein postumes Leben führe", notiert die Autorin im November und einen Monat später: "Es sind nicht mehr viele Juden in Paris." Klar und sachlich blickt sie dem eigenen Verderben entgegen und staunt selbst über ihr Verhalten. "Wieso hast du, obwohl du das wusstest, nichts unternommen, um es zu vermeiden?" - werde sie sich wohl fragen, wenn es so weit sei, und ein allfälliger Leser dieser Zeilen werde wohl sagen: "Ja, wieso, wieso?" Vielleicht weil die Müdigkeit schon zu groß war. An einem Märzabend 1944 mochten Hélène Berr und ihre Eltern nicht abermals ein Versteck für die Nacht aufsuchen und blieben zu Hause. Am nächsten Morgen wurden sie verhaftet und deportiert. Niemand kam zurück.
Schon zwei Monate nach der Verhaftung sei ihre Pariser Wohnung von Fremden bezogen worden, und die meisten Objekte seien nach dem Krieg verschwunden, sagt Mariette Job. Dass französische Beamte an der Verfolgung beteiligt waren, sei für die seit mehr als zwei Jahrhunderten in Frankreich lebende Familie ein Trauma gewesen. Den Deutschen als solchen trägt Mariette Job im Unterschied zur Generation ihrer Eltern heute nichts mehr nach. Bei unserem Gespräch hält sie zum ersten Mal das Buch in der deutschen Fassung in den Händen. Das sei für sie so bewegend wie die Erstpublikation auf Französisch, sagt die Herausgeberin. Doch müsse sie sich immer wieder selbst davon überzeugen: Das war auch die Sprache Goethes, Schillers und Rilkes, die Sprache von Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms. In ihrer Freizeit ist Mariette Job eine leidenschaftliche Musikerin, wie ihre Tante es war. Deren Geige gehörte zusammen mit dem Tagebuch nach Kriegsende zu den wenigen Dingen, die von ihr blieben.
Auch das ist eine Eigenart dieses Buchs. Dessen Schönheit liegt vor allem in der darin sich zeigenden Frauengestalt. Hélène Berrs Unbeirrbarkeit, dem nahenden Unheil entgegenzublicken mit einer Mischung aus Heldenmut und Demut, lässt an die Philosophin Simone Weil denken. Tatsächlich hätten manche Sätze von Simone Weil stammen können, schreibt der Schriftsteller Patrick Modiano in seinem Vorwort, doch im Unterschied zur Philosophin sei die Studentin empfänglich für strahlend schöne Morgen und für die sonnigen Straßen von Paris. Man könnte auch sagen: empfänglich für die Musik. Dass der klare Blick ins Antlitz der Barbarei und das Quartettspielen bis fast zuletzt zusammengingen, gibt diesem Buch als spätes Zeugnis Bestand.
JOSEPH HANIMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie ist die französische Anne Frank: Heute erscheint in Deutschland Hélène Berrs Tagebuch aus dem besetzten Paris. Ihr Journal ist der berührende Zeugenbericht einer starken Frau.
PARIS, 3. Februar.
Kinder gehen von Bord eines Schiffs, manche blinzeln frech in die Kamera, andere schauen verschlossen daran vorbei. Eine derzeit in Paris laufende Ausstellung über die "Reichskristallnacht" im Mémorial de la Shoah schließt mit dieser Dokumentarfilmsequenz von der Ankunft eines jüdischen Kindertransports aus Österreich im englischen Hafen von Harwich Ende der dreißiger Jahre. Diese Kinder waren nun auf der sicheren Seite. Drei Etagen tiefer liegen in einer Vitrine der Dauerausstellung des Mémorial ein paar lose Blätter mit einer unregelmäßigen, offenbar schnell hingekritzelten Handschrift, in der ebenfalls von Blicken die Rede ist. "Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde", heißt es da: "Ich ging mit hocherhobenem Kopf und habe den Leuten so fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten."
Das Datum dieses Eintrags ist der 8. Juni 1942, die Autorin heißt Hélène Berr, eine einundzwanzigjährige Pariser Studentin aus gutsituiertem jüdischem Haus. Sie war gerade zum ersten Mal mit dem fortan für Juden obligatorischen gelben Stern auf der Brust ausgegangen und notierte die Erfahrung so detailliert wie viele andere Einzelheiten ihres Alltags ins Tagebuch. Sie beschreibt die Blicke der Leute, deren verlegenes Wegschauen, die Zeichen von Sympathie, das Fingerzeigen der Kinder, das schroffe "Letzter Wagen!" des Kontrolleurs in der Métro, das steife "Ein elsässischer Katholik reicht Ihnen die Hand, Mademoiselle" eines Unbekannten auf der Straße, das gutgemeinte "Kopf hoch, so sind Sie noch viel hübscher" des Postangestellten, das ihr die Tränen in die Augen treibt.
Hélène Berr hatte dieses Tagebuch im Frühjahr 1942 begonnen und mit einer Pause bis Februar 1944 geführt. Drei Wochen später wurde sie zusammen mit ihren Eltern verhaftet, kam nach Auschwitz, dann nach Bergen-Belsen, wo sie im April 1945 wenige Tage vor der Befreiung starb. Ihr Tagebuch erschien vor einem Jahr erstmals in Frankreich, wo es mit achtzigtausend verkauften Exemplaren ein großes Leserecho fand. Nach englischen, portugiesischen, holländischen Übersetzungen erscheint das Buch heute als "Pariser Tagebuch 1942-1944" in der Übersetzung von Elisabeth Edl beim Hanser Verlag auf Deutsch.
Dass dies viel mehr ist als nur ein weiterer Zeugenbericht eines Holocaust-Opfers, hat neben dem Publikum auch die französische Kritik früh bemerkt. In seiner ungekünstelten Direktheit und Klarheit ist der Text zugleich privates Lebenszeugnis, Botschaft an einen kaum gekannten, fernen Verlobten, den die Autorin nie wiedersehen sollte, symptomatische Alltagsbeschreibung aus dem besetzten Paris und Reflexion von erstaunlicher Reife. Nichts drängte auf Publikation. Das Tagebuch von Hélène sei in der Familie als Maschinenabschrift zirkuliert, sagt Mariette Job, Hélène Berrs Nichte, die hinter der Veröffentlichung steht: Unzählige Male habe sie es seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gelesen. Allmählich habe sich aber die Sorge aufgedrängt, das Originalmanuskript könnte verschwinden. So entschloss sich Frau Job vor siebzehn Jahren zu Nachforschungen. Da Hélène Berr selbst in ihren Aufzeichnungen den Wunsch äußert, das Tagebuch solle Jean Morawiecki zukommen, ihrem fernen Verlobten, falls sie deportiert werde, war der Inhaber schnell gefunden. Ihm war das Konvolut nach dem Krieg überreicht worden. Er vermachte das Manuskript dann 1994 Hélène Berrs Nichte, die es schließlich im Mémorial de la Shoah hinterlegte.
Ein gutes Dutzend Vitrinen veranschaulichen dort exemplarisch an jeweils einem Einzelschicksal die Ereignisse mit Briefen, Fotos, Amtspapieren, persönlichen Objekten. Keine andere verbindet aber so eindringlich Privatheit und literarisch durchsetzte Allgemeinrelevanz. Hélène Berr arbeitete nach ihrem Literaturstudium an einer Promotion über Keats, da ihr als Jüdin die Lehramtsprüfung versagt war. Sensibilität und Empörungsfähigkeit sind die beiden Grundzüge des Journals. Durch einen heraufziehenden Regen kann die Glücksstimmung der Autorin beim Flanieren durch Paris oder beim Himbeerenpflücken im Landhaus jäh in Trübsinn umschlagen. Bis in die letzten Monate schwebt über diesen Seiten eine unerlöste Ambivalenz. Die Schönheit des Frühlings und die Barbarei der Verfolgung gehen unmittelbar zusammen. "Das Leben ist weiterhin seltsam schäbig und seltsam schön", notierte sie im Juni 1942, noch bevor ihr Vater verhaftet wurde, weil sein Judenstern nicht aufgenäht, sondern mit einer Nadel angeheftet war.
Die Tränen der jungen Frau sind Tränen der Wut, wenn den Juden etwa das Überqueren der Champs-Élysées verboten wird. Die Nachricht sei in einem scheinheilig natürlichen Ton abgefasst, als wäre es selbstverständlich, dass in Frankreich Juden verfolgt würden, notiert die Autorin: "Als ich daran dachte, kochte ich so sehr, dass ich in dieses Zimmer gekommen bin, um mich zu beruhigen." Sie beruhigt sich durchs Aufschreiben - "denn man darf nichts vergessen". Die ganze Wirklichkeit will sie aufschreiben, und sie will nie daran denken, dass andere es lesen könnten, "um die eigene Haltung nicht zu verfälschen". Empörung schlug aber bei Hélène Berr, die sich in einem geheimen Hilfswerk für jüdische Kinder engagierte, nie in Hass um. Eine jähe Begegnung mit einer großen Zahl Deutscher auf der Place de la Concorde weckt in ihr allenfalls Auflehnung dagegen, dass diese Männer, die ganz Europa die Lebensfreude geraubt haben, so schlecht zur "zerbrechlichen Schönheit von Paris" passen - "und diese Fremden, die weder Paris noch Frankreich jemals verstehen werden, behaupten, ich sei keine Französin".
Im Herbst 1943 verdichten sich jedoch die Todesahnungen, nicht zuletzt durch die Gerüchte, was mit den Deportierten geschieht. Es ist nicht Schicksalsergebenheit eines künftigen Opfers, sondern eine mürbe gewordene Auflehnung. "Ich vergesse, dass ich ein postumes Leben führe", notiert die Autorin im November und einen Monat später: "Es sind nicht mehr viele Juden in Paris." Klar und sachlich blickt sie dem eigenen Verderben entgegen und staunt selbst über ihr Verhalten. "Wieso hast du, obwohl du das wusstest, nichts unternommen, um es zu vermeiden?" - werde sie sich wohl fragen, wenn es so weit sei, und ein allfälliger Leser dieser Zeilen werde wohl sagen: "Ja, wieso, wieso?" Vielleicht weil die Müdigkeit schon zu groß war. An einem Märzabend 1944 mochten Hélène Berr und ihre Eltern nicht abermals ein Versteck für die Nacht aufsuchen und blieben zu Hause. Am nächsten Morgen wurden sie verhaftet und deportiert. Niemand kam zurück.
Schon zwei Monate nach der Verhaftung sei ihre Pariser Wohnung von Fremden bezogen worden, und die meisten Objekte seien nach dem Krieg verschwunden, sagt Mariette Job. Dass französische Beamte an der Verfolgung beteiligt waren, sei für die seit mehr als zwei Jahrhunderten in Frankreich lebende Familie ein Trauma gewesen. Den Deutschen als solchen trägt Mariette Job im Unterschied zur Generation ihrer Eltern heute nichts mehr nach. Bei unserem Gespräch hält sie zum ersten Mal das Buch in der deutschen Fassung in den Händen. Das sei für sie so bewegend wie die Erstpublikation auf Französisch, sagt die Herausgeberin. Doch müsse sie sich immer wieder selbst davon überzeugen: Das war auch die Sprache Goethes, Schillers und Rilkes, die Sprache von Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms. In ihrer Freizeit ist Mariette Job eine leidenschaftliche Musikerin, wie ihre Tante es war. Deren Geige gehörte zusammen mit dem Tagebuch nach Kriegsende zu den wenigen Dingen, die von ihr blieben.
Auch das ist eine Eigenart dieses Buchs. Dessen Schönheit liegt vor allem in der darin sich zeigenden Frauengestalt. Hélène Berrs Unbeirrbarkeit, dem nahenden Unheil entgegenzublicken mit einer Mischung aus Heldenmut und Demut, lässt an die Philosophin Simone Weil denken. Tatsächlich hätten manche Sätze von Simone Weil stammen können, schreibt der Schriftsteller Patrick Modiano in seinem Vorwort, doch im Unterschied zur Philosophin sei die Studentin empfänglich für strahlend schöne Morgen und für die sonnigen Straßen von Paris. Man könnte auch sagen: empfänglich für die Musik. Dass der klare Blick ins Antlitz der Barbarei und das Quartettspielen bis fast zuletzt zusammengingen, gibt diesem Buch als spätes Zeugnis Bestand.
JOSEPH HANIMANN
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Martina Meister zeigt sich beeindruckt von Helene Berrs Tagebuchaufzeichnungen aus dem besetzten Frankreich, einem erschütternden Dokument und Zeugnis einer klugen und sensiblen jungen Pariser Jüdin. In ihrem Artikel berichtet Meister vor allem von ihrer Begegnung mit Mariette Job, der Nichte Helene Berrs, durch deren Bemühungen das Zeitdokument publiziert werden konnte. Die Rezensentin schildert den Einsatz Jobs, die seit dreißig Jahren in der Vergangenheit bohre, um die Aufzeichnungen ihrer Tante zugänglich zu machen. Zwischen 1942 und 1944 führte Helene Berr dieses Tagebuch; 1945, so erfährt der Leser der Rezension, starb sie in Bergen-Belsen, nur wenige Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers. Es sind die Aufzeichnungen einer Frau, die die Tragödie kommen sah und trotzdem nicht fliehen wollte, wie Meister anerkennend bemerkt: Im Journal der Literaturstudentin erkennt die Rezensentin den "Zusammenprall von größtmöglichem Grauen und maximaler moralischer Größe".
© Perlentaucher Medien GmbH
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