»Ich bin, was ich erzähle«, sagt Karl Faller, Held des Romans, zu der jungen Staatsanwältin Suse Stein, die ihn in einer Mordsache vernimmt und trotz aller Selbstbezichtigung des Verdächtigen dessen Unschuld beweist. Da ist unter anderem von einem Lehrer die Rede, den Karl schon als Schüler erschlagen haben will, und von erst kürzlich umgekommenen Eltern, an deren Tod der Sohn sich die Schuld gibt. Doch in das Zentrum von Karls Erzählen rückt immer zwingender sein schillernder Vater Kristian, der den Sohn in den Wirren der Studentenbewegung früh verlassen hat und später eine einzigartige Buchreihe erfand, »Fallers Stadtführer für Alleinreisende«. Kaum auf freiem Fuß bereist Karl die Städte, die sein Vater in unverwechselbarer Weise beschrieben hat, davon überzeugt, Kristians Wege durch versteckte Gassen und Lokale seien auch Wege zu seinen Geliebten oder überhaupt zur Liebe. Mit leidenschaftlicher Neugier folgt der Sohn den Spuren eines fernen und doch vom Alter her zu nahen Vaters und begibt sich dabei auf die Suche nach einer rätselhaften Fremden, die in allen Stadtführern erwähnt wird. Aber nicht nur er folgt einer Fährte, auch an seine Geschichte hat sich jemand geheftet. Die junge Staatsanwältin Stein, schon während der Verhöre ebenso an dem Verdächtigen interessiert wie an der Wahrheit, hat Urlaub genommen; mit ihrem Auftauchen treffen Sprache und Liebe für Karl zum ersten Mal aufeinander.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Heilung von Kristian
Bodo Kirchhoffs erotische Wallfahrt / Von Heinz Ludwig Arnold
Faller ist nicht Stiller. Zwischen ihrer literarischen Geburt liegt ein halbes Jahrhundert, wechselten die Generationen wie die Zeiten, veränderte sich die Welt. Der existentialistische Grund, auf dem Max Frischs Anatol Ludwig Stiller vergeblich gegen die Gesellschaft kämpfte, weil sie ihm ihre Muster aufprägte, zerbröselte zum amorphen Individualismus, dessen hedonistische Träger ihre Gewänder aus den Mustern der mächtig gewordenen Warenwelt beziehen - die Kontinuität ihrer fragmentierten Persönlichkeit wird nach Gottfried Benn bekanntlich "gewahrt nur noch von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten". Aber das wurde schon gesagt, als Stiller entstand.
Karl Faller, die Zentralfigur in Bodo Kirchhoffs neuem großen Roman "Parlando", geboren 1965, ist ein Produkt dieser hedonistischen Welt. Deshalb kämpft er, um sich darin zu behaupten, nicht wie Stiller gegen eine in ihrem ideologischen Selbstverständnis noch festgefügte Gesellschaft; sondern er kämpft gegen Phantome und gegen Phantomschmerzen. Beide behaupten sich durchs Erzählen, imaginieren ihre Welt und füllen sie mit ihren Geschichten. Beide sind sie Rollenspieler ihrer Zeit.
Karl Faller wacht eines Tages in einem Frankfurter Krankenhaus auf. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, lag bewußtlos neben der Leiche einer jungen Frau; das Messer, mit dem sie erstochen wurde, ist übersät mit seinen Fingerabdrücken. Deshalb wird er von der jungen Staatsanwältin Suse Stein vernommen, der Faller gesteht: Ganz einfach, ich war's. Und er bekennt auch noch, daß er einen Lehrer, der ihn im Internat mißbraucht hat, erschlagen und daß er auch seine Eltern auf dem Gewissen habe. Ein verpfuschtes Leben? Eine interessante Figur? Der Roman soll uns beide entfalten.
Doch wie kann ein Roman entfalten, was der Täter bereits gestanden hat, bevor die Taten bekannt wurden? Kirchhoff überrascht seine Leser mit einem Paradox: Die Staatsanwältin hält alle Bekenntnisse Fallers für falsch und versucht, ihm seine Unschuld zu beweisen. Sie will die Wahrheit, und um die zu erfahren, muß sie ihn zum Sprechen bringen. "Gut", antwortet Faller, "die ganze Wahrheit, unter einer Bedingung. Sie hören sich auch die ganze Geschichte an."
Und dann erzählt Faller ihr die ganze Geschichte, von Angesicht zu Angesicht oder auf Bänder, die sie später abhört, erzählt sie ihr im Gefängnis, und als er entlassen wird, weil die eigenen Beweise für seine Schuld zu dünn werden, erzählt er ihr die ganze Geschichte weiter am Telefon, ruft sie von seinen Reisen nach Marrakesch, Lissabon, Buenos Aires an, dort immer auf der Suche nach der Wahrheit seiner Geschichte, seines Lebens.
Stets reist Faller dabei auf den Spuren seines Vaters, von dem er einmal sagt, er habe ihn, den ungewollten Sohn, getötet, "und das seit meiner Geburt". Das war 1965 in Kirchzarten, südlicher Schwarzwald, also ländliche Kindheit; nach zehn Jahren trennen sich die Eltern Kristian und Kathi voneinander, Karl muß ins Internat, wo er geprügelt und mißbraucht wird; Abitur, Zivildienst, Studium und Abbruch, Arbeiten für Funk und Fernsehen - alle paar Wochen ein "Tatort".
Kristian, der Vater, einst Rand-Achtundsechziger "mit langem Haar und heraushängendem Hemd", reiste durch die Welt, verfaßte Reiseführer für Alleinstehende und hatte immer Affären: "Überschaubare Affären, das wollte er. Seine Stadtführer halfen ihm dabei, sie gaben ihm einen gewissen Rang als Weltbürger und menschlichen Linken." Und: seine "Stadtführer sind . . . versteckte Biographien, Rom, Lissabon, Buenos Aires, Moskau, das sind Frauen" - seine Führer für Alleinreisende sind "Führer durch den Dschungel der Liebe". Als Karl - nun immerhin an die dreißig Jahre alt - von einer seiner Geliebten erfährt, daß auch sie, die vor langer Zeit etwas mit seinem Vater hatte, gerade noch einmal, aber nur so nebenher, mit ihm geschlafen habe, verläßt er sie, wortlos. Es ist, als habe da eine Initiation gezündet - "meine langwierige Heilung von Kristian hatte begonnen" - und ganz offensichtlich damit auch der Roman.
Im Fokus der Sexualität, dort, wo sie ihren Grund hat, bewältigt Karl Faller fortan seine ödipale Haßliebe: Er schläft der Reihe nach mit Gabi, Elke, Charlotte, Bärbel oder Barbara, Claudia, Regina, Marianne, Hilde, Monika, "Frauen, die ich umarmt hatte, weil sie durch die Hände meines Vaters gegangen waren"; und auch mit Irene, der zweiten Frau Kristians, die, unglücklich, später ins Wasser geht. All diese Affären geben Kirchhoff Gelegenheit, kleine amouröse Pastiches zu zeichnen, wie sie in den meisten seiner Bücher nachzulesen sind - hier aber deutlich und dezent, angemessen dem Parlando-Stil des Romans. Sie sind auch Charakterisierungen seines Helden Faller im Umgang mit der Liebe.
Das alles erzählt Faller, immer genauer, immer intimer, seiner Staatsanwältin Suse Stein, und man beginnt im Verlaufe dieses Erzählens zu ahnen, daß die ohnehin schon psychoanalytisch grundierte Verhörsituation in eine intimere Beziehung übergeht, die Distanz zwischen den beiden schwindet. Zugleich werden die Ursachen für das, was die Romanhandlung vorantreibt, weiter entfaltet: Fallers Abschiebung ins Internat, wo er gequält und mißbraucht wurde; die "leere" Beziehung Kristians zu seiner Frau Kathi, der fast gewaltsam vollzogene Akt, den der Zehnjährige im Urlaub zwischen Mutter und Vater beobachtet - das Schwungrad dieses Romans ist Fallers defizitäre Kindheit, in deren Zentrum sein Vater steht, von dem Faller, sich seiner ungewollten Zeugung erinnernd, einmal zur Staatsanwältin sagt: "Ich kenne Kristian; in gewisser Weise bin sogar ich sein Vater."
Noch ist der Ich-Erzähler Herr des Geschehens, das vor allem im zweiten und dritten Teil des Romans immer komplexer wird. Denn nun wird in die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Faller und seiner Staatsanwältin Fallers Suche nach jener dunkelhaarigen Schönen eingeflochten, die als "Stillsteherin aus dem Rom-Führer . . . auch in den übrigen Führern erwähnt wird, als sei er ihr nachgereist oder umgekehrt"; denn Karl hält sie, die der Vater "die Berberin" und die "Wüstenschönheit" nannte, für dessen "einzige große gescheiterte Liebe": Um sie zu finden und damit über den Vater zu triumphieren, bricht Faller nach Marrakesch auf, meint sie dort gesehen, in Lissabon gar mit ihr gesprochen zu haben. Er folgt ihrer vermeintlichen Spur nach Buenos Aires, dann nach Mexico City.
Die Geschichte der Stillsteherin wird so fast zu einem Roman im Roman. Aber Kirchhoff gelingt es dennoch, sie in sein Parlando aufzunehmen. Da werden Reisebeschreibungen aus Kristians Städteführern ebenso integriert wie die Abenteuer, die Faller erlebt, und auch die Geschichte mit Suse Stein ist hineingewoben. So verwundert es auch nicht, daß in diesem Roman auch alle kriminalistischen Fragen, die ja im Grunde auf psychologische Antworten aus sind, am Ende gelöst werden, ob real oder imaginiert.
Am Ende, nach über fünfhundert Seiten, kehrt Faller nach Frankfurt zurück. Und er wird just an jenem Auge operiert, das durch den Schlag auf den Kopf am Beginn des Romans verletzt worden war - minutiös und meisterhaft beschreibt Kirchhoff auf ein paar Seiten die Operation. Und als sie vorbei ist, "war da schon eine Hand an meiner Wange, Daumen am Ohr, und eine Stimme sagte Du, und über die Schulter sah ich genau auf den Mund, den ich schon immer gewollt hatte, und erwiderte Ja oder hörte mich genau das erwidern, Ja und nochmals Ja, denn wer all die Stimmen in sich hat ausreden lassen, wird wohl am Ende die eigene hören." Im Echo des Du, endlich, findet er sich selbst.
Parlando" ist der Roman von Karl Fallers Suche nach sich selbst. Sein Erzählen war ausgelöst worden von der Frage der Staatsanwältin nach der "Wahrheit". Das steht bereits auf der dritten Seite des Romans. Ist denn da die ganze Geschichte schon geschehen? Oder wird sie gar erzählt, um nicht geschehen zu müssen - also statt dessen? -, und wäre denn ganz und gar erfunden, vielleicht im Krankenbett-Fieber phantasiert, eine imaginierte Wunschbiographie, ein im Erzählen möglicherweise gelöstes Trauma?
Faller versorgt seine Staatsanwältin mit Geschichten, die immer neue Aspekte seines Lebens entfalten, mit denen er ihre Thesen von seiner Unschuld zu widerlegen und sich selbst auf die Spur zu kommen versucht. Das schafft, zumal in solcher Intensität, auch Nähe zwischen beiden, die schließlich alles andere verdrängt und so die fatale Lebensperspektive Fallers durch die Liebe neu justiert: Eine Augenoperation wird am Schluß zum Symbol einer neuen Sehweise - der endgültigen Selbsterkenntnis?
So souverän, so vielschichtig und noch im geringsten Detail anschaulich, so konsequent und komplex und gleichzeitig so leicht hat Bodo Kirchhoff bislang nie erzählt. Und das weiche Wort "Parlando", das dieses Erzählen zutreffend charakterisiert, wurde mit Recht zum Titel, weil es nicht nur den übers ganze Buch hin verführerisch süffigen Stil meint, sondern auch die Methode der Erkenntnisgewinnung beschreibt: als Ziel und Produkt der erzählerischen Phantasie, die den Leser hineinzieht in die schöne Odyssee einer obsessiven Lebensbewältigung.
Bodo Kirchhoff: "Parlando". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 536 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bodo Kirchhoffs erotische Wallfahrt / Von Heinz Ludwig Arnold
Faller ist nicht Stiller. Zwischen ihrer literarischen Geburt liegt ein halbes Jahrhundert, wechselten die Generationen wie die Zeiten, veränderte sich die Welt. Der existentialistische Grund, auf dem Max Frischs Anatol Ludwig Stiller vergeblich gegen die Gesellschaft kämpfte, weil sie ihm ihre Muster aufprägte, zerbröselte zum amorphen Individualismus, dessen hedonistische Träger ihre Gewänder aus den Mustern der mächtig gewordenen Warenwelt beziehen - die Kontinuität ihrer fragmentierten Persönlichkeit wird nach Gottfried Benn bekanntlich "gewahrt nur noch von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten". Aber das wurde schon gesagt, als Stiller entstand.
Karl Faller, die Zentralfigur in Bodo Kirchhoffs neuem großen Roman "Parlando", geboren 1965, ist ein Produkt dieser hedonistischen Welt. Deshalb kämpft er, um sich darin zu behaupten, nicht wie Stiller gegen eine in ihrem ideologischen Selbstverständnis noch festgefügte Gesellschaft; sondern er kämpft gegen Phantome und gegen Phantomschmerzen. Beide behaupten sich durchs Erzählen, imaginieren ihre Welt und füllen sie mit ihren Geschichten. Beide sind sie Rollenspieler ihrer Zeit.
Karl Faller wacht eines Tages in einem Frankfurter Krankenhaus auf. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, lag bewußtlos neben der Leiche einer jungen Frau; das Messer, mit dem sie erstochen wurde, ist übersät mit seinen Fingerabdrücken. Deshalb wird er von der jungen Staatsanwältin Suse Stein vernommen, der Faller gesteht: Ganz einfach, ich war's. Und er bekennt auch noch, daß er einen Lehrer, der ihn im Internat mißbraucht hat, erschlagen und daß er auch seine Eltern auf dem Gewissen habe. Ein verpfuschtes Leben? Eine interessante Figur? Der Roman soll uns beide entfalten.
Doch wie kann ein Roman entfalten, was der Täter bereits gestanden hat, bevor die Taten bekannt wurden? Kirchhoff überrascht seine Leser mit einem Paradox: Die Staatsanwältin hält alle Bekenntnisse Fallers für falsch und versucht, ihm seine Unschuld zu beweisen. Sie will die Wahrheit, und um die zu erfahren, muß sie ihn zum Sprechen bringen. "Gut", antwortet Faller, "die ganze Wahrheit, unter einer Bedingung. Sie hören sich auch die ganze Geschichte an."
Und dann erzählt Faller ihr die ganze Geschichte, von Angesicht zu Angesicht oder auf Bänder, die sie später abhört, erzählt sie ihr im Gefängnis, und als er entlassen wird, weil die eigenen Beweise für seine Schuld zu dünn werden, erzählt er ihr die ganze Geschichte weiter am Telefon, ruft sie von seinen Reisen nach Marrakesch, Lissabon, Buenos Aires an, dort immer auf der Suche nach der Wahrheit seiner Geschichte, seines Lebens.
Stets reist Faller dabei auf den Spuren seines Vaters, von dem er einmal sagt, er habe ihn, den ungewollten Sohn, getötet, "und das seit meiner Geburt". Das war 1965 in Kirchzarten, südlicher Schwarzwald, also ländliche Kindheit; nach zehn Jahren trennen sich die Eltern Kristian und Kathi voneinander, Karl muß ins Internat, wo er geprügelt und mißbraucht wird; Abitur, Zivildienst, Studium und Abbruch, Arbeiten für Funk und Fernsehen - alle paar Wochen ein "Tatort".
Kristian, der Vater, einst Rand-Achtundsechziger "mit langem Haar und heraushängendem Hemd", reiste durch die Welt, verfaßte Reiseführer für Alleinstehende und hatte immer Affären: "Überschaubare Affären, das wollte er. Seine Stadtführer halfen ihm dabei, sie gaben ihm einen gewissen Rang als Weltbürger und menschlichen Linken." Und: seine "Stadtführer sind . . . versteckte Biographien, Rom, Lissabon, Buenos Aires, Moskau, das sind Frauen" - seine Führer für Alleinreisende sind "Führer durch den Dschungel der Liebe". Als Karl - nun immerhin an die dreißig Jahre alt - von einer seiner Geliebten erfährt, daß auch sie, die vor langer Zeit etwas mit seinem Vater hatte, gerade noch einmal, aber nur so nebenher, mit ihm geschlafen habe, verläßt er sie, wortlos. Es ist, als habe da eine Initiation gezündet - "meine langwierige Heilung von Kristian hatte begonnen" - und ganz offensichtlich damit auch der Roman.
Im Fokus der Sexualität, dort, wo sie ihren Grund hat, bewältigt Karl Faller fortan seine ödipale Haßliebe: Er schläft der Reihe nach mit Gabi, Elke, Charlotte, Bärbel oder Barbara, Claudia, Regina, Marianne, Hilde, Monika, "Frauen, die ich umarmt hatte, weil sie durch die Hände meines Vaters gegangen waren"; und auch mit Irene, der zweiten Frau Kristians, die, unglücklich, später ins Wasser geht. All diese Affären geben Kirchhoff Gelegenheit, kleine amouröse Pastiches zu zeichnen, wie sie in den meisten seiner Bücher nachzulesen sind - hier aber deutlich und dezent, angemessen dem Parlando-Stil des Romans. Sie sind auch Charakterisierungen seines Helden Faller im Umgang mit der Liebe.
Das alles erzählt Faller, immer genauer, immer intimer, seiner Staatsanwältin Suse Stein, und man beginnt im Verlaufe dieses Erzählens zu ahnen, daß die ohnehin schon psychoanalytisch grundierte Verhörsituation in eine intimere Beziehung übergeht, die Distanz zwischen den beiden schwindet. Zugleich werden die Ursachen für das, was die Romanhandlung vorantreibt, weiter entfaltet: Fallers Abschiebung ins Internat, wo er gequält und mißbraucht wurde; die "leere" Beziehung Kristians zu seiner Frau Kathi, der fast gewaltsam vollzogene Akt, den der Zehnjährige im Urlaub zwischen Mutter und Vater beobachtet - das Schwungrad dieses Romans ist Fallers defizitäre Kindheit, in deren Zentrum sein Vater steht, von dem Faller, sich seiner ungewollten Zeugung erinnernd, einmal zur Staatsanwältin sagt: "Ich kenne Kristian; in gewisser Weise bin sogar ich sein Vater."
Noch ist der Ich-Erzähler Herr des Geschehens, das vor allem im zweiten und dritten Teil des Romans immer komplexer wird. Denn nun wird in die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Faller und seiner Staatsanwältin Fallers Suche nach jener dunkelhaarigen Schönen eingeflochten, die als "Stillsteherin aus dem Rom-Führer . . . auch in den übrigen Führern erwähnt wird, als sei er ihr nachgereist oder umgekehrt"; denn Karl hält sie, die der Vater "die Berberin" und die "Wüstenschönheit" nannte, für dessen "einzige große gescheiterte Liebe": Um sie zu finden und damit über den Vater zu triumphieren, bricht Faller nach Marrakesch auf, meint sie dort gesehen, in Lissabon gar mit ihr gesprochen zu haben. Er folgt ihrer vermeintlichen Spur nach Buenos Aires, dann nach Mexico City.
Die Geschichte der Stillsteherin wird so fast zu einem Roman im Roman. Aber Kirchhoff gelingt es dennoch, sie in sein Parlando aufzunehmen. Da werden Reisebeschreibungen aus Kristians Städteführern ebenso integriert wie die Abenteuer, die Faller erlebt, und auch die Geschichte mit Suse Stein ist hineingewoben. So verwundert es auch nicht, daß in diesem Roman auch alle kriminalistischen Fragen, die ja im Grunde auf psychologische Antworten aus sind, am Ende gelöst werden, ob real oder imaginiert.
Am Ende, nach über fünfhundert Seiten, kehrt Faller nach Frankfurt zurück. Und er wird just an jenem Auge operiert, das durch den Schlag auf den Kopf am Beginn des Romans verletzt worden war - minutiös und meisterhaft beschreibt Kirchhoff auf ein paar Seiten die Operation. Und als sie vorbei ist, "war da schon eine Hand an meiner Wange, Daumen am Ohr, und eine Stimme sagte Du, und über die Schulter sah ich genau auf den Mund, den ich schon immer gewollt hatte, und erwiderte Ja oder hörte mich genau das erwidern, Ja und nochmals Ja, denn wer all die Stimmen in sich hat ausreden lassen, wird wohl am Ende die eigene hören." Im Echo des Du, endlich, findet er sich selbst.
Parlando" ist der Roman von Karl Fallers Suche nach sich selbst. Sein Erzählen war ausgelöst worden von der Frage der Staatsanwältin nach der "Wahrheit". Das steht bereits auf der dritten Seite des Romans. Ist denn da die ganze Geschichte schon geschehen? Oder wird sie gar erzählt, um nicht geschehen zu müssen - also statt dessen? -, und wäre denn ganz und gar erfunden, vielleicht im Krankenbett-Fieber phantasiert, eine imaginierte Wunschbiographie, ein im Erzählen möglicherweise gelöstes Trauma?
Faller versorgt seine Staatsanwältin mit Geschichten, die immer neue Aspekte seines Lebens entfalten, mit denen er ihre Thesen von seiner Unschuld zu widerlegen und sich selbst auf die Spur zu kommen versucht. Das schafft, zumal in solcher Intensität, auch Nähe zwischen beiden, die schließlich alles andere verdrängt und so die fatale Lebensperspektive Fallers durch die Liebe neu justiert: Eine Augenoperation wird am Schluß zum Symbol einer neuen Sehweise - der endgültigen Selbsterkenntnis?
So souverän, so vielschichtig und noch im geringsten Detail anschaulich, so konsequent und komplex und gleichzeitig so leicht hat Bodo Kirchhoff bislang nie erzählt. Und das weiche Wort "Parlando", das dieses Erzählen zutreffend charakterisiert, wurde mit Recht zum Titel, weil es nicht nur den übers ganze Buch hin verführerisch süffigen Stil meint, sondern auch die Methode der Erkenntnisgewinnung beschreibt: als Ziel und Produkt der erzählerischen Phantasie, die den Leser hineinzieht in die schöne Odyssee einer obsessiven Lebensbewältigung.
Bodo Kirchhoff: "Parlando". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 536 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
So souverän, so vielschichtig und noch im geringsten Detail anschaulich, findet überschwänglich Rezensent Heinz Ludwig Arnold, kurz: so leicht habe Bodo Kirchhoff bislang nie erzählt. Der Rezensent fühlt sich hineingezogen in "die schöne Odyssee einer obsessiven Lebensbewältigung". Schon im Ton von Arnolds Nacherzählung der Geschichte von Karl Faller, Jahrgang 1965, die er einer Staatsanwältin erzählt, schwingt beträchtliche Begeisterung mit. Und von den kleinen "amourösen Pastiches" oder den Schilderung der defizitären 68er-Kindheit des Helden scheint Arnold in höchstem Maß gefesselt. Und was hat er nicht alles in Kirchhoffs "Parlando" noch gefunden: Reisebeschreibungen aus Städteführern, Abenteuer- und Liebesgeschichten, kriminalistische Recherchen - und eine minutiös und meisterhaft beschriebene Augenoperation.
© Perlentaucher Medien GmbH
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