Das Verhältnis von Brandt und Schmidt gilt als kompliziert und schwierig, weil ihre Sozialisation, ihr Politikstil und Politikverständnis sich deutlich unterschieden. Dennoch verband die beiden führenden Sozialdemokraten neben ihrer Rivalität eine jahrzehntelange Partnerschaft, deren Höhen und Tiefen sich in ihrem Briefwechsel facettenreich widerspiegeln. Die sorgfältig annotierte Edition erschließt die gesamte Korrespondenz zwischen Brandt und Schmidt. Sie umfasst mehr als 700 Briefe der Jahre 1958 bis 1992 und bietet neue Einblicke in die persönliche Beziehung der beiden Staatsmänner. Waren sie zunächst enge Weggefährten bei ihrem Aufstieg zu sozialdemokratischen Spitzenpolitikern, vertraten sie während der Großen Koalition und später als Bundeskanzler in der sozial-liberalen Ära nicht selten unterschiedliche Positionen. Trotz aller Rivalitäten arbeiteten Brandt und Schmidt jedoch immer wieder vertrauensvoll zusammen. Ihre politischen Differenzen und Kontroversen über die eigene Partei und deren Regierungspolitik, über die Nachrüstungsfrage sowie den Umgang mit der Ökologie- und Friedensbewegung machen den besonderen Reiz der Briefe aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2015Kann man den wegretuschieren?
Willy Brandt und Helmut Schmidt schätzten sich - aber nicht immer. Manchmal gingen sie mit Fotos um, wie man das aus dem Stalinismus kennt. Der Briefwechsel der SPD-Kanzler zeigt, warum.
Von Thomas Karlauf
Das Anekdotische vorweg: Am 18. Mai 1987 übergab mir Willy Brandt das Manuskript seiner Abschiedsrede, mit der er auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD vier Wochen später sein politisches Leben nach 23 Jahren Parteivorsitz bilanzierte. Der Text sollte am Tag nach dem Parteitag im Siedler Verlag als Buch erscheinen, ergänzt um einen Bildteil, der die wichtigsten Stationen dieses Lebens in Fotografien festhielt. Am 19. Mai besprach Brandt mit mir die Bildauswahl. Unter den Dutzenden Motiven waren auch Aufnahmen der sogenannten Troika Brandt, Schmidt, Wehner. Brandt zog die Augenbrauen nach oben, fast ein wenig irritiert: "Muss das sein?" Ohne die Troika erschiene mir sein Leben, zumal aus Sicht der Genossen, unvollständig, sagte ich, konnte ihn aber nicht umstimmen. Auch im Redetext wurden Schmidt und Wehner nicht erwähnt.
Sechs Wochen zuvor war ich mit Helmut Schmidt die Abbildungen für seinen Memoirenband "Menschen und Mächte" durchgegangen. Ein herrliches Foto zeigte den dynamischen Verteidigungsminister im April 1970 mit Richard Nixon am Rednerpult im Rosengarten des Weißen Hauses, den damaligen Bundeskanzler, Willy Brandt, daneben. "Den schneiden wir aber ab!", sagte Schmidt. Ich gab zu bedenken, dass eine solche Bildretusche auffallen könnte. Schmidt: dann besser gar nicht. Das Verhältnis zwischen den beiden bedeutendsten Sozialdemokraten der Bundesrepublik war auf dem Gefrierpunkt angelangt. Sie wollten sich gegenseitig nicht einmal mehr als Zaungast dulden.
Die in diesen Tagen erscheinende Korrespondenz zwischen dem vierten und fünften Bundeskanzler, die, von 1969 bis 1982, gemeinsam dreizehn Jahre sozial-liberale Politik verantworteten, zählt zu den wichtigsten Quelleneditionen der letzten Zeit. Zwar muss man sich streckenweise durch Passagen quälen, die außer Historikern und Parteichronisten heute nur noch wenige interessieren und die nur dank ausführlicher Anmerkungen überhaupt verständlich werden. Zugleich aber wirft man einen Blick ins Herz der deutschen Sozialdemokratie, wie er aufregender nicht sein könnte. Die intellektuelle Höhe, auf der sich die Briefpartner bewegen, fasziniert dabei nicht weniger als die elementare politische Kraft, die bei diesem Aufeinandertreffen freigesetzt wird.
Die Rivalität ist von Anfang an da. Die Ambitionen des ehrgeizigen Hamburgers waren dem SPD-Kanzlerkandidaten der sechziger Jahre nicht verborgen geblieben. Schon im Herbst 1965, als Brandt nach der verlorenen Bundestagswahl erklärte, nicht ein drittes Mal antreten zu wollen, hatte sich Schmidt erkundigt, wie es jetzt weitergehe. Einerseits störe ihn "der mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblich", andererseits wäre es für ihn hilfreich, zu wissen, auf wen es in den nächsten Jahren denn zulaufe. Der Parteivorsitzende dankte für die "freundschaftliche Gesinnung", gab dem Kollegen aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg: "Für Dich wird es sehr darauf ankommen, dass Du Dich nicht übernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde hörst."
Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Rückzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen, dass das, was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde, erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei. Anfang März 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu, als er in Fernsehauftritten nach der Hamburger Bürgerschaftswahl über mangelnde Geschlossenheit klagte; das desaströse Ergebnis sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschäftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse. In einer internen Auswertung durch sein Büro konnte Schmidt wenige Tage später lesen, dass die Zuschauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien, der Bundesfinanzminister würde "als Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandt".
Spätestens seit der zweiten Kabinettsbildung 1972 sah Schmidt sich als derjenige, der gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden Wehner zuständig war für die Effizienz der Regierungsarbeit. Aus seiner Sicht ließ Brandt die Dinge allzu sehr schleifen, und darunter litt vor allem er, der Finanzminister, der die durch Brandts Ankündigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzuschmettern hatte. Erst mit dem Amtswechsel im Mai 1974 waren die Zuständigkeiten geklärt - jedenfalls aus Sicht des neuen Kanzlers. Er, Schmidt, besorgte jetzt das mühsame Geschäft des Regierens, und dazu brauchte er vor allem die Fraktion. Der SPD-Vorsitzende wurde nur dann einbezogen, wenn unmittelbar Interessen der Partei berührt wurden. Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verständnis für eine reibungslose Kooperation, und nach mehr stand ihm auch nicht der Sinn. Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft.
Es sei ein politischer Fehler gewesen, wird er später nicht müde zu betonen, damals nicht auch den Parteivorsitz übernommen zu haben. Aber hätte das Amt überhaupt zu Helmut Schmidt gepasst, wäre es gutgegangen? Eine Programmpartei wie die SPD, die in ständiger Unruhe ist, weil sie aufgrund ihres Anspruchs, die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben, jedes Etappenziel umgehend in Frage stellt, verlangt nach einem Vorsitzenden, der sie in ständiger Bewegung hält und ihr dadurch jene innere Dynamik verleiht, die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen braucht. Dieser ideale Vorsitzende war Willy Brandt.
Andererseits musste die Partei akzeptieren, dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitäten zu haben war. In diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt überein. Schmidt den Rücken freizuhalten war für Brandt in erster Linie deshalb keine Frage der Loyalität zum Kanzler - als die er sie später mitunter darstellte -, sondern eine Frage des Machterhalts der SPD. Schmidts Pragmatismus lastete indes vielen Genossen am linken Flügel schwer auf der Seele; sie fürchteten um sozialdemokratische Substanz und stießen damit beim Vorsitzenden auf viel Verständnis. "Du solltest der Partei manchmal noch stärker den Eindruck vermitteln, dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifizierst, was sie in ihrer großen Mehrheit darstellt", mahnte er den Kanzler 1976.
Solange Brandt davon überzeugt war, dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein müsse als die Reinhaltung ihrer Grundsätze auf den Bänken der Opposition, ließen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaßen im Gleichgewicht halten. Persönlich fühlte er sich allerdings immer häufiger übergangen, auch gekränkt, und nach der Wahl 1980 gab er dem Parteiaffen Zucker. Schmidt seinerseits beklagte sich über mangelnde Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Epplers und Lafontaines, die ihm das Regieren schwermachten. Diesen Vorwurf wollte Brandt nicht gelten lassen: Für die Regierung Schmidt sei er zuletzt bis hart an die Grenze seiner Selbstachtung gegangen.
Am 11. Oktober 1982, zehn Tage nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition, eröffnete Brandt mit einem scheinbar beiläufigen Hinweis auf ihre unterschiedliche Verantwortung eine Diskussion über die Frage, wen am Ende die Schuld traf. Bis Anfang Dezember tauschten sie ihre Argumente aus, keiner konnte die Sicht des anderen unwidersprochen lassen. Zugleich hatten beide die Größe, ihrem Gegenüber die Interpretation nicht streitig zu machen. Bei allen Differenzen in der Sache blieb ein hoher gegenseitiger Respekt, nicht nur vor der politischen Gesamtleistung, sondern auch vor der persönlichen Integrität des anderen. Am Ende - das wussten beide - käme auf die Waagschale der Geschichte nicht, was sie trennte, sondern ihr in diversen Konstellationen erprobter, sechzehn Jahre währender gemeinsamer Einsatz für die gemeinsame Sache.
Dennoch blieben die Folgejahre von Irritationen überschattet. Als sich Schmidt im Frühjahr 1986 wegen eines infamen Artikels im "Vorwärts" bei Brandt als einem der Herausgeber beschwerte, verwahrte sich dieser, er sei "niemandes Watschenmann". Schmidt stellte die Korrespondenz ein. Zwei Jahre später fand er im Hintergrundgespräch mit einem Brandt-Biographen eine Formulierung, die ihm so gut gefiel, dass er später mehrfach darauf zurückgriff: Er wäre bis in die frühen siebziger Jahre für Brandt "durchs Feuer gegangen". Tatsächlich empfand Schmidt hohe menschliche Achtung, ja, Bewunderung für Brandt, nicht zuletzt für den Stoizismus, mit dem er die unablässigen Diffamierungen durch den politischen Gegner ertrug. Brandt habe große Steherqualitäten: "Ein Feigling ist er nicht!"
Am 18. Dezember 1988, an Brandts 75. Geburtstag, gab Schmidt sich einen Ruck und schrieb einen langen versöhnlichen Brief an den bedeutendsten Weggefährten seiner Laufbahn. "Je größer unser Abstand zu unseren öffentlichen Ämtern wird, umso weniger wichtig will es mir vorkommen, dass wir in den letzten 15 Jahren in einigen Punkten nicht mehr so gut übereingestimmt haben wie zuvor." Das Schreiben geriet ein wenig hölzern, wie so oft, wenn Schmidt bemüht war, Gefühle zu verbergen, aber der Adressat wusste es als Angebot auf Versöhnung richtig zu deuten. "Was immer geschrieben wurde und noch geschrieben werden mag", so Brandt in seiner Replik zu Schmidts siebzigstem Geburtstag fünf Tage später: "Ich finde, dass wir nicht nur jeder auf seine Weise, sondern auch miteinander manches zu bewirken vermochten, was unserer Partei voranhalf und auch staatspolitisch zu Buche schlug." Jetzt waren sie quitt.
Nachdem sie sich am Rande der Gedenkveranstaltung zum hundertsten Geburtstag ihres gemeinsamen Vorbilds Julius Leber im November 1991 noch einmal ausgesprochen hatten, besuchte Schmidt den vom Tod Gezeichneten Anfang Juli 1992 in seinem Haus in Unkel am Rhein. An den Inhalt ihres Gespräches konnte er sich später nicht mehr erinnern. Wichtiger war für ihn die bleibende Gewissheit, nach Hause gefahren zu sein in dem Gefühl, sich von einem Freund verabschiedet zu haben.
Thomas Karlauf hat sowohl mit Helmut Schmidt als auch mit Willy Brandt zusammengearbeitet und schreibt zurzeit an einer Helmut-Schmidt-Biographie. Die mehr als siebenhundert Briefe finden sich in dem soeben erschienenen Band Willy Brandt/Helmut Schmidt - "Partner und Rivalen". Der Briefwechsel (1958-1992). Herausgegeben und eingeleitet von Meik Woyke, verlegt von Dietz in Bonn.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willy Brandt und Helmut Schmidt schätzten sich - aber nicht immer. Manchmal gingen sie mit Fotos um, wie man das aus dem Stalinismus kennt. Der Briefwechsel der SPD-Kanzler zeigt, warum.
Von Thomas Karlauf
Das Anekdotische vorweg: Am 18. Mai 1987 übergab mir Willy Brandt das Manuskript seiner Abschiedsrede, mit der er auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD vier Wochen später sein politisches Leben nach 23 Jahren Parteivorsitz bilanzierte. Der Text sollte am Tag nach dem Parteitag im Siedler Verlag als Buch erscheinen, ergänzt um einen Bildteil, der die wichtigsten Stationen dieses Lebens in Fotografien festhielt. Am 19. Mai besprach Brandt mit mir die Bildauswahl. Unter den Dutzenden Motiven waren auch Aufnahmen der sogenannten Troika Brandt, Schmidt, Wehner. Brandt zog die Augenbrauen nach oben, fast ein wenig irritiert: "Muss das sein?" Ohne die Troika erschiene mir sein Leben, zumal aus Sicht der Genossen, unvollständig, sagte ich, konnte ihn aber nicht umstimmen. Auch im Redetext wurden Schmidt und Wehner nicht erwähnt.
Sechs Wochen zuvor war ich mit Helmut Schmidt die Abbildungen für seinen Memoirenband "Menschen und Mächte" durchgegangen. Ein herrliches Foto zeigte den dynamischen Verteidigungsminister im April 1970 mit Richard Nixon am Rednerpult im Rosengarten des Weißen Hauses, den damaligen Bundeskanzler, Willy Brandt, daneben. "Den schneiden wir aber ab!", sagte Schmidt. Ich gab zu bedenken, dass eine solche Bildretusche auffallen könnte. Schmidt: dann besser gar nicht. Das Verhältnis zwischen den beiden bedeutendsten Sozialdemokraten der Bundesrepublik war auf dem Gefrierpunkt angelangt. Sie wollten sich gegenseitig nicht einmal mehr als Zaungast dulden.
Die in diesen Tagen erscheinende Korrespondenz zwischen dem vierten und fünften Bundeskanzler, die, von 1969 bis 1982, gemeinsam dreizehn Jahre sozial-liberale Politik verantworteten, zählt zu den wichtigsten Quelleneditionen der letzten Zeit. Zwar muss man sich streckenweise durch Passagen quälen, die außer Historikern und Parteichronisten heute nur noch wenige interessieren und die nur dank ausführlicher Anmerkungen überhaupt verständlich werden. Zugleich aber wirft man einen Blick ins Herz der deutschen Sozialdemokratie, wie er aufregender nicht sein könnte. Die intellektuelle Höhe, auf der sich die Briefpartner bewegen, fasziniert dabei nicht weniger als die elementare politische Kraft, die bei diesem Aufeinandertreffen freigesetzt wird.
Die Rivalität ist von Anfang an da. Die Ambitionen des ehrgeizigen Hamburgers waren dem SPD-Kanzlerkandidaten der sechziger Jahre nicht verborgen geblieben. Schon im Herbst 1965, als Brandt nach der verlorenen Bundestagswahl erklärte, nicht ein drittes Mal antreten zu wollen, hatte sich Schmidt erkundigt, wie es jetzt weitergehe. Einerseits störe ihn "der mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblich", andererseits wäre es für ihn hilfreich, zu wissen, auf wen es in den nächsten Jahren denn zulaufe. Der Parteivorsitzende dankte für die "freundschaftliche Gesinnung", gab dem Kollegen aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg: "Für Dich wird es sehr darauf ankommen, dass Du Dich nicht übernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde hörst."
Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Rückzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen, dass das, was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde, erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei. Anfang März 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu, als er in Fernsehauftritten nach der Hamburger Bürgerschaftswahl über mangelnde Geschlossenheit klagte; das desaströse Ergebnis sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschäftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse. In einer internen Auswertung durch sein Büro konnte Schmidt wenige Tage später lesen, dass die Zuschauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien, der Bundesfinanzminister würde "als Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandt".
Spätestens seit der zweiten Kabinettsbildung 1972 sah Schmidt sich als derjenige, der gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden Wehner zuständig war für die Effizienz der Regierungsarbeit. Aus seiner Sicht ließ Brandt die Dinge allzu sehr schleifen, und darunter litt vor allem er, der Finanzminister, der die durch Brandts Ankündigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzuschmettern hatte. Erst mit dem Amtswechsel im Mai 1974 waren die Zuständigkeiten geklärt - jedenfalls aus Sicht des neuen Kanzlers. Er, Schmidt, besorgte jetzt das mühsame Geschäft des Regierens, und dazu brauchte er vor allem die Fraktion. Der SPD-Vorsitzende wurde nur dann einbezogen, wenn unmittelbar Interessen der Partei berührt wurden. Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verständnis für eine reibungslose Kooperation, und nach mehr stand ihm auch nicht der Sinn. Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft.
Es sei ein politischer Fehler gewesen, wird er später nicht müde zu betonen, damals nicht auch den Parteivorsitz übernommen zu haben. Aber hätte das Amt überhaupt zu Helmut Schmidt gepasst, wäre es gutgegangen? Eine Programmpartei wie die SPD, die in ständiger Unruhe ist, weil sie aufgrund ihres Anspruchs, die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben, jedes Etappenziel umgehend in Frage stellt, verlangt nach einem Vorsitzenden, der sie in ständiger Bewegung hält und ihr dadurch jene innere Dynamik verleiht, die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen braucht. Dieser ideale Vorsitzende war Willy Brandt.
Andererseits musste die Partei akzeptieren, dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitäten zu haben war. In diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt überein. Schmidt den Rücken freizuhalten war für Brandt in erster Linie deshalb keine Frage der Loyalität zum Kanzler - als die er sie später mitunter darstellte -, sondern eine Frage des Machterhalts der SPD. Schmidts Pragmatismus lastete indes vielen Genossen am linken Flügel schwer auf der Seele; sie fürchteten um sozialdemokratische Substanz und stießen damit beim Vorsitzenden auf viel Verständnis. "Du solltest der Partei manchmal noch stärker den Eindruck vermitteln, dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifizierst, was sie in ihrer großen Mehrheit darstellt", mahnte er den Kanzler 1976.
Solange Brandt davon überzeugt war, dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein müsse als die Reinhaltung ihrer Grundsätze auf den Bänken der Opposition, ließen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaßen im Gleichgewicht halten. Persönlich fühlte er sich allerdings immer häufiger übergangen, auch gekränkt, und nach der Wahl 1980 gab er dem Parteiaffen Zucker. Schmidt seinerseits beklagte sich über mangelnde Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Epplers und Lafontaines, die ihm das Regieren schwermachten. Diesen Vorwurf wollte Brandt nicht gelten lassen: Für die Regierung Schmidt sei er zuletzt bis hart an die Grenze seiner Selbstachtung gegangen.
Am 11. Oktober 1982, zehn Tage nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition, eröffnete Brandt mit einem scheinbar beiläufigen Hinweis auf ihre unterschiedliche Verantwortung eine Diskussion über die Frage, wen am Ende die Schuld traf. Bis Anfang Dezember tauschten sie ihre Argumente aus, keiner konnte die Sicht des anderen unwidersprochen lassen. Zugleich hatten beide die Größe, ihrem Gegenüber die Interpretation nicht streitig zu machen. Bei allen Differenzen in der Sache blieb ein hoher gegenseitiger Respekt, nicht nur vor der politischen Gesamtleistung, sondern auch vor der persönlichen Integrität des anderen. Am Ende - das wussten beide - käme auf die Waagschale der Geschichte nicht, was sie trennte, sondern ihr in diversen Konstellationen erprobter, sechzehn Jahre währender gemeinsamer Einsatz für die gemeinsame Sache.
Dennoch blieben die Folgejahre von Irritationen überschattet. Als sich Schmidt im Frühjahr 1986 wegen eines infamen Artikels im "Vorwärts" bei Brandt als einem der Herausgeber beschwerte, verwahrte sich dieser, er sei "niemandes Watschenmann". Schmidt stellte die Korrespondenz ein. Zwei Jahre später fand er im Hintergrundgespräch mit einem Brandt-Biographen eine Formulierung, die ihm so gut gefiel, dass er später mehrfach darauf zurückgriff: Er wäre bis in die frühen siebziger Jahre für Brandt "durchs Feuer gegangen". Tatsächlich empfand Schmidt hohe menschliche Achtung, ja, Bewunderung für Brandt, nicht zuletzt für den Stoizismus, mit dem er die unablässigen Diffamierungen durch den politischen Gegner ertrug. Brandt habe große Steherqualitäten: "Ein Feigling ist er nicht!"
Am 18. Dezember 1988, an Brandts 75. Geburtstag, gab Schmidt sich einen Ruck und schrieb einen langen versöhnlichen Brief an den bedeutendsten Weggefährten seiner Laufbahn. "Je größer unser Abstand zu unseren öffentlichen Ämtern wird, umso weniger wichtig will es mir vorkommen, dass wir in den letzten 15 Jahren in einigen Punkten nicht mehr so gut übereingestimmt haben wie zuvor." Das Schreiben geriet ein wenig hölzern, wie so oft, wenn Schmidt bemüht war, Gefühle zu verbergen, aber der Adressat wusste es als Angebot auf Versöhnung richtig zu deuten. "Was immer geschrieben wurde und noch geschrieben werden mag", so Brandt in seiner Replik zu Schmidts siebzigstem Geburtstag fünf Tage später: "Ich finde, dass wir nicht nur jeder auf seine Weise, sondern auch miteinander manches zu bewirken vermochten, was unserer Partei voranhalf und auch staatspolitisch zu Buche schlug." Jetzt waren sie quitt.
Nachdem sie sich am Rande der Gedenkveranstaltung zum hundertsten Geburtstag ihres gemeinsamen Vorbilds Julius Leber im November 1991 noch einmal ausgesprochen hatten, besuchte Schmidt den vom Tod Gezeichneten Anfang Juli 1992 in seinem Haus in Unkel am Rhein. An den Inhalt ihres Gespräches konnte er sich später nicht mehr erinnern. Wichtiger war für ihn die bleibende Gewissheit, nach Hause gefahren zu sein in dem Gefühl, sich von einem Freund verabschiedet zu haben.
Thomas Karlauf hat sowohl mit Helmut Schmidt als auch mit Willy Brandt zusammengearbeitet und schreibt zurzeit an einer Helmut-Schmidt-Biographie. Die mehr als siebenhundert Briefe finden sich in dem soeben erschienenen Band Willy Brandt/Helmut Schmidt - "Partner und Rivalen". Der Briefwechsel (1958-1992). Herausgegeben und eingeleitet von Meik Woyke, verlegt von Dietz in Bonn.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der Briefwechsel von Willy Brandt und Helmut Schmidt umfasst vierundreißig Jahre und kaum Sensationen, berichtet Alexander Cammann. Das liegt schlicht daran, dass Leben und Politik der zwei SPD-Granden bereits auf Ausführlichste aufgearbeitet sind und weiße Flecken rar gesät sind, erklärt der Rezensent. Interessant findet Cammann die Briefe trotz alledem, geben sie doch Einblick in einen Teil des kleinteiligen Lavierens in der Gemengelage von sich überschneidenden persönlichen und politischen Beziehungen, wie sie unweigerlich zur Berufspolitik gehören, so der Rezensent, der inständig hofft, dass Angela Merkels SMS ähnlich sorgfältig aufbewahrt werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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