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Produktdetails
  • Verlag: Brinkmann u. Bose
  • Seitenzahl: 622
  • Erscheinungstermin: Oktober 2003
  • Deutsch
  • Abmessung: 238mm x 149mm x 40mm
  • Gewicht: 968g
  • ISBN-13: 9783922660804
  • ISBN-10: 3922660800
  • Artikelnr.: 11644622

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  • Herstellerkennzeichnung
  • Brinkmann U. Bose
  • Leuschner Damm 13
  • 10999 Berlin
  • +49306154892
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2003

So macht Medientheorie Laune
Famos: Bernhard Siegert erzählt die Geschichte der Mathematik

Medientheoretiker übersetzen Literatur in Technik, sie bilden Benjamin Franklin, den Erfinder des Blitzableiters, auf Frankenstein, Mary Shelleys Schöpfer des elektrisch animierten Monsters, ab. Ist es jedoch wirklich nötig, immer neue Details aus Schriften von Goethe, Nietzsche, Heidegger oder Kafka im Licht der Medientheorie zu deuten?

Bernhard Siegert hat jetzt eine monumentale Studie über die "Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften" vorgelegt, die den Überdruß an der Medientheorie bestätigt - und ihn zur selben Zeit grandios widerlegt. Der ebenso lapidare wie hermetische, voraussetzungsvolle Stil, die mathematischen Formeln und fremdsprachigen Zitate stoßen den medientheologisch Uneingeweihten zurück, sollte er sich durch Erich Brinkmanns bibliophile Gestaltung des Bandes angezogen fühlen. Doch die Fülle teils exotischer, teils klassischer, aber für den Kulturhistoriker ungewohnter Quellen, die Siegert vor uns ausbreitet, der Reichtum der Beziehungen, die er zwischen ihnen knüpft, die Delikatesse, mit der er die ungeheuren Stoffmassen philosophisch durchdringt - sie elektrisieren uns trotz der Schicht auftrumpfender Manierismen, unter denen Siegert herumstolziert. Muß immer alles "ganz", "exakt", "streng" oder "präzise" sein, wie vom Standpunkt des allwissenden, Laplaceschen Dämons aus gesehen, welcher in ein und derselben analytischen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms umfaßt und vorausberechnet?

Dieser Gestus ist um so erstaunlicher, als es in Siegerts Buch gerade um das Ende der determinierten Welt von Laplace geht und um den Anfang einer neuen Welt, in der sich kontingente Daten nicht mehr durch eine stetige Funktion beschreiben lassen. Zur Geschichte dieses Begriffs der "Funktion" von Newtons Lehrer Barrow bis Cantor sagt Siegert inhaltlich zunächst nichts anderes als das, was wir auch im Historischen Wörterbuch der Philosophie nachlesen können, vor allem, daß in dem halben Jahrhundert zwischen Leonhard Euler und Jean-Baptiste Joseph Fourier etwas nicht mehr Dar- und Vorstellbares auftritt und die Welt kontinuierlicher Kurven sprengt. Siegert erreicht jedoch auf geniale Weise sein Ziel, die historische Textur dieses Kontinuums zu rekonstruieren: So können wir hören, wie der Vorhang reißt, und wir sehen, wie der Fels zu "Cantor-Staub" zerfällt.

Um das Unhörbare hörbar zu machen, erzählt Siegert die Geschichte der Mathematik nicht als Fortschreiten einer "autarken symbolischen Ordnung", als dialektische Bewegung reiner Begriffe. Sondern er betrachtet ihre Aussagen "streng" nach Michel Foucault "als Ereignisse und Dinge", die innerhalb eines weitläufigen kommunikativen Resonanzraums mit anderen Aussagen, Handlungen, technischen Erfindungen, experimentalwissenschaftlichen Versuchsanordnungen, künstlerischen Methoden, philosophischen Begriffen oder bürokratischen Verfahrensordnungen zusammenstoßen. Diese Stöße, Beben und Erschütterungen erzeugen ein bestimmtes historisches Klangbild, ein Muster von Analogien und Korrespondenzen, die Siegert mit phänomenal trainierter Sensibilität verzeichnet. Solche Korrespondenzen sind etwa: der Einsatz des neuen, vergänglichen Mediums Papier und die Vorstellung, in einer Welt kontingenter Tatsachen zu leben; die bürokratische Verwaltung der neuen Welt durch die Kosmographen Philips II. und die Entstehung der modernen experimentellen Wissenschaften; der Buchdruck mit beweglichen Lettern und das algebraische Buchstabenrechnen; die Gleichursprünglichkeit der Zahl Null, der Leerstelle im typographischen Zeichensatz und des Fluchtpunkts der zentralperspektivischen Repräsentation; die politische Arithmetik staatlicher Bürokratie und ihre Ontologisierung in der Metaphysik und dem Infinitesimalkalkül von Leibniz.

Dann kommt der große Knall und Blitz, der Einbruch des Diskontinuierlichen und der nichtanalytischen Funktionen, die es beschreiben: Auf einem Kupferstich wird der Physiker Georg Wilhelm Richmann in seinem Labor von einem Blitz erschlagen, der die Gestalt eines Eulerschen Impulsdiagramms hat. Siegert liest dem Bild die "neue Ordnung der elektrischen Medien" ab, in der "das Reale" sich selbst aufschreibt. Der Mensch ist in dieser Ordnung gleichzeitig Subjekt und Objekt. Um das "klassische Denken" zu retten, wollte der Philosoph Immanuel Kant diese Unterscheidung "transzendental" festschreiben. Doch die heroischen Selbstversuche etwa eines Johann Wilhelm Ritter lassen das mit seinem elektrischen Unbewußten rückgekoppelte menschliche Dasein fortan zwischen Batteriepolen oder Schaltzuständen oszillieren, zusammen mit Froschbeinen, guillotinierten Köpfen oder somnambulen Körpern.

In diesem cancan tanzenden "Diskursraum" des Unnatürlichen, Anorganischen, Verkrampften, Diskontinuierlichen wird das Dasein und seine neue Mathematik durchzuckt von zickzackförmigen telegraphischen Signalschriften, Treppenliniengraphen, Kathodenstrahlen; es spiegelt sich in Boris Karloffs vernarbtem Gesicht, Schaltplänen rückgekoppelter Ströme, die aus Verstärkerröhren Radiosender machen, oder - seit dem Ersten Weltkrieg - schließlich in Röhren, die Ingenieure zu künstlichen Gedächtnissen und digitalen Elektronenhirnen verschalten.

Auf den Schiffen Philips II., schreibt Siegert, hatte ein Schreiber während der Querung des Raums über alle Menschen und Dinge Buch zu führen. Der "rechnende Raum" des elektromagnetischen Imperiums dagegen schreibt sich selbst. Wir Menschen sind nur "Funktion von signalverarbeitenden Instrumenten", so wie das frühneuzeitliche Sekretärssubjekt "Effekt von Instrumenten, Maschinen und Codes der Repräsentation" war. Dieses allgemeine Fazit bekräftigt nur aufs neue die bekannten Dogmen der Diskurs- und Medientheorie. Siegert rekonstruiert quellennah den Sitz der scheinbar geschichtslosen mathematischen Kultur im bürokratisch verwalteten oder elektrisch geschalteten Leben. So schreibt er die orthodoxe Medienhistorie nicht nur gelehrt fort. Er erzählt auch eine spannende Schauergeschichte.

CHRISTOPH ALBRECHT

Bernhard Siegert: "Passage des Digitalen". Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900. Verlag Brinkmann und Bose, Berlin 2003. 622 S., 72 Abb., geb., 48,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Manfred Schneider ist von diesem Buch über die Geschichte der Zeichenpraktiken von 1500 bis 1900 absolut begeistert. Dass eine Schilderung der "Aufschreibepraktiken", wie Bernhard Siegert sie hier vorgelegt hat, überhaupt "spannend" sein kann, hatte sich der Rezensent nicht vorstellen können, nun ist er aber angenehm überrascht, was für ein "hinreißendes intellektuelles Vergnügen" die Lektüre darstellt. Allerdings verlangt das Buch durch seine wissenschaftliche "Genauigkeit" und den hohen "theoretischen Anspruch" seinen Lesern einiges ab, warnt Schneider. Nimmt man aber diese Anstrengungen auf sich, wird man nicht nur durch einen "gewaltigen Anekdotenschatz" amüsiert, sondern zugleich durch eine "sorgsam in Formeln, Funktionen, Schaltplänen dokumentierte Diskursgeschichte" geführt, so der Rezensent beeindruckt. Was die Darstellung für ihn so "einzigartig und zukunftweisend" macht, ist Siegerts Verschmelzen von Philosophie, Mathematik, Physik und Psychoanalyse zu einer "Diskursanalyse", so Schneider hingerissen. Der Rezensent preist das Buch als "brillantes Werk", das bei aller Wissenschaftlichkeit auch neben den "schönsten Seeabenteuerbüchern" bestehen könne, weil es derart fesselnd und unterhaltsam ist, und er ist beinahe überwältigt von dieser "glänzenden, farbigen, dramatischen und detailreichen" Studie.

© Perlentaucher Medien GmbH
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