Von der Überlegenheit der menschenleeren Landschaften, der großen Ebenen und der Schönheit der Steine:»Den wahren Dimensionen der Erde ausgeliefert, gezwungenermaßen achtsamer auf die Natur und weniger bedrängt durch seinesgleichen, findet der Mensch sich, ohne daß er es weiß, auf subtile Weise befreit.« In diesen zum ersten Mal auf deutsch vorliegenden Essays umkreist Caillois eines wichtigsten Themen, die so ephemere Anwesenheit der Spezies Mensch auf der Erde, von verschiedenen Seiten: sei es die ungeheuer abweisende Landschaft Patagoniens, seien es die Ebenen und Einöden des äußersten Südens Argentiniens, die wuchernden Dschungel Amazoniens oder die Steppen Sibiriens, aber auch surrealistische Objekte wie eine eigenartig bemalte Schneiderpuppe oder Albrecht Dürers rätselhafter Stich »Melencolia« bzw. dieBeschäftigung des Malers mit Mineralien. Und hinter all dem entdeckt er in der äußersten Reglosigkeit der »toten Gesteine« die Wunder und Dynamiken eines anderen Lebens, Explosionen und Turbulenzen, die den Wundern der menschlichen Kunst vielleicht sogar überlegen sind - nicht nur an Dauer, sondern auch an Schönheit.Caillois' Schreiben ist streng und aufs Äußerste verdichtet: »An jenem Tag, an dem ich diese Notizen veröffentlichte, nicht ohne sie vorher von jedem anekdotischen oder malerischen Detail gereinigt zu haben, um meinen Seiten die Kargheit jener Landschaft zu verleihen, an jenem Tag wurde ich zum Schriftsteller wider Willen.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2016Schwarz glänzt die Sonne im blauen Polyeder
Blick zurück auf die Epoche der Menschen: Ein Band mit zum ersten Mal übersetzten Texten von Roger Caillois
Zu den Rätseln von Dürers Stich "Melencolia I" (1514) gehört ein dreidimensionales Objekt, das die linke Bildmitte dominiert. Ein geometrisches Symbol der Schwermut, wie Erwin Panofsky und Fritz Saxl in "Saturn und Melancholie" meinten? Bis heute versuchen sich Kunsthistoriker und Mathematiker an Erklärungen. Jetzt können sie sich von einem erstmals auf Deutsch zugänglichen Essay von Roger Caillois inspirieren lassen, der eine andere Deutung vorschlägt, allerdings im Modus der Fiktion.
Nach seinem Bruch mit den Surrealisten, den er als Geste der Abkehr von der Literatur im Namen der Wissenschaft inszenierte, gründete Caillois 1937 zusammen mit Georges Bataille das streitbare Collège de Sociologie und wurde nach seinem Exil in Argentinien zu einem wichtigen Vermittler der lateinamerikanischen Literatur. In seinem nur zum Teil auf Deutsch vorliegenden Werk amalgamiert er Religionssoziologie, Psychologie, Philosophie, Biologie und Ästhetik zu Essays über das Heilige, den Mythos, das Spiel, das Imaginäre der Krake, mimetische Insekten und die Zeichnungen von Schmetterlingsflügeln oder über die Poesie der Steine.
Dahinter steht - seit Kurzem auch nachzulesen in dem Band "Dissymmetrie" (F.A.Z. vom 30. Dezember 2015) - die Idee von universellen Formgesetzen, welche für die unbelebte Materie, das Reich des Organischen und die Hervorbringungen des Menschen gelten. Es geht hier nicht um Projektionen oder Irritationen des Blicks, sondern ganz unbescheiden um Ontologie und die Einheit der Natur. Die Mimese der Insekten und die Mode der Menschen folgen denselben Regeln; Schmetterlingsflügel sind Kunst, Gedichte sind Steine. Idiosynkratische Verwirrungen, romantische Naturphilosophie oder Provokation von heute, wo das Geologische und Anthropogene im "Anthropozän" konvergieren und Ethnologen wie Philippe Descola nichteuropäische Ontologien "jenseits von Natur und Kultur" beschreiben? Inzwischen wird Caillois in der Kunstwelt rezipiert: Auf der Biennale von Venedig wurde vor drei Jahren seine Sammlung von Steinen ausgestellt, von denen man einige mittlerweile in der Galerie de Minéralogie et de Géologie im Pariser Jardin des Plantes betrachten kann (und in dem unlängst erschienenen Band "Roger Caillois. La lecture des pierres", Editions Xavier Barral).
Den Achat, der den Ausgangspunkt des Dürer-Essays bildet, sucht man hier allerdings vergeblich. Caillois phantasiert eine den Biographen unbekannte Reise des Malers nach Idar-Oberstein, wo er einen Achat erworben habe. Beunruhigt von der Frage, ob die "Meisterwerke der Natur" seinen Werken überlegen sein könnten, betrachtet Dürer die Zeichnung des Steins, entdeckt eine schwarze Sonne und einen blauen Polyeder. Das erfüllt ihn angesichts der Nichtigkeit der menschlichen Kunst mit Traurigkeit. Noch in dem Gasthaus im Hunsrück skizziert Dürer seinen berühmten Stich. Caillois schließt die Erzählung mit einer Reflexion über die "geheime Verwandtschaft zwischen den blinden Wegen der leblosen Materie und denen der Einbildungskraft". Dieser späte Text ist auch ein Selbstporträt: Caillois entpuppt sich als Melancholiker, für den die Achatknollen die menschlichen Kunstwerke überragen und überdauern.
Der Übersetzer Rainer G. Schmidt, dem bereits die deutsche Ausgabe von "Die Schrift der Steine" (2003) zu verdanken ist, zeichnet auch verantwortlich für die Auswahl von Texten, in denen Caillois gegen die Askese, die er sich verordnet hatte, zum Schriftsteller geworden sei. Tatsächlich kann man ihn hier als Autor einer poetischen Prosa entdecken, der die rhetorischen Mittel - vor allem die Analogie - in den Dienst seiner spekulativen Naturphilosophie stellt.
Der titelgebende Text "Patagonien" entstand 1942 im Anschluss an eine Reise, von der Caillois später gesagt hat, sie habe einen "ästhetischen und metaphysischen Schock" in ihm ausgelöst, und ihn, der die Literatur eigentlich hasste, "wider Willen" zum Schriftsteller gemacht. Dem Krieg dank einer Einladung von Victoria Ocampo glücklich entkommen, evoziert Caillois das Schlachtfeld von Wind und Gezeiten, für ihn die Begegnung mit einem "Gesetz universeller und schrecklicher Zerstörung". Dem "makabren Museum der Knochen, Felle und Flaumfedern" an den patagonischen Stränden setzt er die fragilen Friedhöfe der Menschen entgegen.
Der Fokus verschiebt sich von dem ambivalenten Flirt mit der Aufwertung charismatischer Macht im Collège de Sociologie zu allgemeinen Fragen: "Es ist ein Wunder, dass der Mensch auf dieser rebellischen Kruste Fuß fasst, ein Wunder, dass er sich dort hält, dass er dort dauerhafte Reiche erbaut." Die weiteren hier versammelten Essays über Amerika (1948) sowie die "Streifzüge" (1974) variieren diese Motive am Beispiel von Sibirien und Amazonien. Deutlich wird, wie Caillois die fiktive Perspektive eines transhumanen Beobachters herstellt, der aus einer fernen Zukunft auf das kurze Zeitalter des Menschen auf der Erde zurückblickt.
Ganz zu überzeugen vermag die Auswahl der gelungen übertragenen Texte nicht. Gerade die Essays über Amerika dürften mit ihrem Pathos des Pioniers eher befremden. Ein schönes Fundstück, der Text über die mit einer Landschaft bemalte Schneiderpuppe, steht unverbunden neben die Reiseskizzen und der Dürer-Phantasie. Dem Leser bietet sich dennoch die Möglichkeit die Grundthemen des Autors kennenzulernen. Caillois sollte indes weniger als Verfasser einer poetischen Prosa angepriesen werden denn als jemand, dessen Reflexionen über Kunst und Literatur aktuelle Debatten über nicht-anthropozentrische Ästhetiken und Ontologien anregen können.
IRENE ALBERS
Roger Caillois: "Patagonien und weitere Streifzüge".
Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Rainer G. Schmidt. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2016. 126 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blick zurück auf die Epoche der Menschen: Ein Band mit zum ersten Mal übersetzten Texten von Roger Caillois
Zu den Rätseln von Dürers Stich "Melencolia I" (1514) gehört ein dreidimensionales Objekt, das die linke Bildmitte dominiert. Ein geometrisches Symbol der Schwermut, wie Erwin Panofsky und Fritz Saxl in "Saturn und Melancholie" meinten? Bis heute versuchen sich Kunsthistoriker und Mathematiker an Erklärungen. Jetzt können sie sich von einem erstmals auf Deutsch zugänglichen Essay von Roger Caillois inspirieren lassen, der eine andere Deutung vorschlägt, allerdings im Modus der Fiktion.
Nach seinem Bruch mit den Surrealisten, den er als Geste der Abkehr von der Literatur im Namen der Wissenschaft inszenierte, gründete Caillois 1937 zusammen mit Georges Bataille das streitbare Collège de Sociologie und wurde nach seinem Exil in Argentinien zu einem wichtigen Vermittler der lateinamerikanischen Literatur. In seinem nur zum Teil auf Deutsch vorliegenden Werk amalgamiert er Religionssoziologie, Psychologie, Philosophie, Biologie und Ästhetik zu Essays über das Heilige, den Mythos, das Spiel, das Imaginäre der Krake, mimetische Insekten und die Zeichnungen von Schmetterlingsflügeln oder über die Poesie der Steine.
Dahinter steht - seit Kurzem auch nachzulesen in dem Band "Dissymmetrie" (F.A.Z. vom 30. Dezember 2015) - die Idee von universellen Formgesetzen, welche für die unbelebte Materie, das Reich des Organischen und die Hervorbringungen des Menschen gelten. Es geht hier nicht um Projektionen oder Irritationen des Blicks, sondern ganz unbescheiden um Ontologie und die Einheit der Natur. Die Mimese der Insekten und die Mode der Menschen folgen denselben Regeln; Schmetterlingsflügel sind Kunst, Gedichte sind Steine. Idiosynkratische Verwirrungen, romantische Naturphilosophie oder Provokation von heute, wo das Geologische und Anthropogene im "Anthropozän" konvergieren und Ethnologen wie Philippe Descola nichteuropäische Ontologien "jenseits von Natur und Kultur" beschreiben? Inzwischen wird Caillois in der Kunstwelt rezipiert: Auf der Biennale von Venedig wurde vor drei Jahren seine Sammlung von Steinen ausgestellt, von denen man einige mittlerweile in der Galerie de Minéralogie et de Géologie im Pariser Jardin des Plantes betrachten kann (und in dem unlängst erschienenen Band "Roger Caillois. La lecture des pierres", Editions Xavier Barral).
Den Achat, der den Ausgangspunkt des Dürer-Essays bildet, sucht man hier allerdings vergeblich. Caillois phantasiert eine den Biographen unbekannte Reise des Malers nach Idar-Oberstein, wo er einen Achat erworben habe. Beunruhigt von der Frage, ob die "Meisterwerke der Natur" seinen Werken überlegen sein könnten, betrachtet Dürer die Zeichnung des Steins, entdeckt eine schwarze Sonne und einen blauen Polyeder. Das erfüllt ihn angesichts der Nichtigkeit der menschlichen Kunst mit Traurigkeit. Noch in dem Gasthaus im Hunsrück skizziert Dürer seinen berühmten Stich. Caillois schließt die Erzählung mit einer Reflexion über die "geheime Verwandtschaft zwischen den blinden Wegen der leblosen Materie und denen der Einbildungskraft". Dieser späte Text ist auch ein Selbstporträt: Caillois entpuppt sich als Melancholiker, für den die Achatknollen die menschlichen Kunstwerke überragen und überdauern.
Der Übersetzer Rainer G. Schmidt, dem bereits die deutsche Ausgabe von "Die Schrift der Steine" (2003) zu verdanken ist, zeichnet auch verantwortlich für die Auswahl von Texten, in denen Caillois gegen die Askese, die er sich verordnet hatte, zum Schriftsteller geworden sei. Tatsächlich kann man ihn hier als Autor einer poetischen Prosa entdecken, der die rhetorischen Mittel - vor allem die Analogie - in den Dienst seiner spekulativen Naturphilosophie stellt.
Der titelgebende Text "Patagonien" entstand 1942 im Anschluss an eine Reise, von der Caillois später gesagt hat, sie habe einen "ästhetischen und metaphysischen Schock" in ihm ausgelöst, und ihn, der die Literatur eigentlich hasste, "wider Willen" zum Schriftsteller gemacht. Dem Krieg dank einer Einladung von Victoria Ocampo glücklich entkommen, evoziert Caillois das Schlachtfeld von Wind und Gezeiten, für ihn die Begegnung mit einem "Gesetz universeller und schrecklicher Zerstörung". Dem "makabren Museum der Knochen, Felle und Flaumfedern" an den patagonischen Stränden setzt er die fragilen Friedhöfe der Menschen entgegen.
Der Fokus verschiebt sich von dem ambivalenten Flirt mit der Aufwertung charismatischer Macht im Collège de Sociologie zu allgemeinen Fragen: "Es ist ein Wunder, dass der Mensch auf dieser rebellischen Kruste Fuß fasst, ein Wunder, dass er sich dort hält, dass er dort dauerhafte Reiche erbaut." Die weiteren hier versammelten Essays über Amerika (1948) sowie die "Streifzüge" (1974) variieren diese Motive am Beispiel von Sibirien und Amazonien. Deutlich wird, wie Caillois die fiktive Perspektive eines transhumanen Beobachters herstellt, der aus einer fernen Zukunft auf das kurze Zeitalter des Menschen auf der Erde zurückblickt.
Ganz zu überzeugen vermag die Auswahl der gelungen übertragenen Texte nicht. Gerade die Essays über Amerika dürften mit ihrem Pathos des Pioniers eher befremden. Ein schönes Fundstück, der Text über die mit einer Landschaft bemalte Schneiderpuppe, steht unverbunden neben die Reiseskizzen und der Dürer-Phantasie. Dem Leser bietet sich dennoch die Möglichkeit die Grundthemen des Autors kennenzulernen. Caillois sollte indes weniger als Verfasser einer poetischen Prosa angepriesen werden denn als jemand, dessen Reflexionen über Kunst und Literatur aktuelle Debatten über nicht-anthropozentrische Ästhetiken und Ontologien anregen können.
IRENE ALBERS
Roger Caillois: "Patagonien und weitere Streifzüge".
Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Rainer G. Schmidt. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2016. 126 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Irene Albers liest Roger Caillois am liebsten als Anreger im Dienste nicht-anthropozentrischer Ästhetiken, weniger als Prosapoeten. Dazu kommen ihr einige der hier versammelten Essays des Autors über Themen wie Dürers "Melencolia I", Amerika oder Sibirien allzu pathetisch daher. Als spekulativer, leicht melancholischer Naturphilosoph jedoch, der mit dem Blick des transhumanen Beobachters universellen Formgesetzen in der belebten und unbelebten Natur nachspürt, scheint der Autor der Rezensentin die ein oder andere Tür zu öffnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Was die Leser mitzubringen haben, ist nichts als Neugier und Furchtlosigkeit angesichts des Gewichts und der Beredsamkeit der Steine.« (Vorarlberger Nachrichten) »Caillois war ein außergewöhnlich feinsinniger und demütiger Weltbetrachter, der in einem unscheinbaren Stein einen ganzen Kosmos entdecken konnte, ein Stück erstarrte Ewigkeit.« (Otto Johannes Adler, Buchkultur) »Deutlich wird, wie Caillois die fiktive Perspektive eines transhumanen Beobachters herstellt, der aus der fernen Zukunft auf das kurze Zeitalter des Menschen auf der Erde zurückblickt.« ( Irene Albers, FAZ) »Was die Leser mitzubringen haben, ist nichts als Neugier und Furchtlosigkeit angesichts des Gewichts und der Beredsamkeit der Steine.« (Vorarlberger Nachrichten)