Von der Atlantikküste bis zur zerklüfteten Küste des Pazifik, von den riesigen Ebenen der Pampa bis Feuerland und Kap Hoorn Patagonien ist der Inbegriff für Freiheit, Abgeschiedenheit und Fremde. »El Sur« beeindruckte Entdecker wie Magellan, Fitzroy oder Freibeuter wie Drake. Die scharfgezackten Granitfelsen des Fitz-Roy-Massivs, mächtige Gletscherfelder, die von einer urzeitlichen Welt aus ewigem Eis geformt wurden, stille Bergseen in den Anden sowie undurchdringliche Regenwälder schlagen noch heute jeden Besucher in Bann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2006Bücherecke
Reise ins wilde Wunderland
Patagonien in Text und Bild
Die Versuchung ist groß, Patagonien als ein aus der Zeit gefallenes Paradies zu beschreiben, in dem der Mensch unter großen Mühen mit derNatur in Einklang lebt. Auch der Autor Michael Allhoff steht mehrfach sehr nahe davor, dieser Versuchung zu erliegen, also jedes realistische Maß zu verlieren und sich in liebesblinder Schwärmerei zu ergehen.
Doch schon in der Anekdote, mit der er sein Buch „Patagonien” beginnt – einen Bildband, zu dem Hubert Stadler die Fotografien beigetragen hat –, schon auf den ersten Seiten also verwahrt er sich gegen diese billige Art der Reiseprosa. Er erzählt vielmehr, wie er auf Feuerland in einer weiten Ebene steht, vor sich jenes „Wunderland”, das hundert Jahre zuvor noch Terra incognita war, und in sich eine grenzenlose Freiheit verspürend. Hinter sich weiß er die Geborgenheit einer Estancia. Aus einem „antiquarischen Holzlautsprecher” rauscht Klaviermusik von John Field, eines Zeitgenossen Chopins. Soweit bedient er noch das Klischee vom urtümlichen Land. Doch gleich darauf erzählt ihm die Dame des Hauses, dass ihre Tochter die Schallplatte im Internet ausfindig gemacht habe.
In Patagonien hat das 19. Jahrhundert eben nicht die Zeitläufte überdauert. Man kann dort lediglich, wie Allhoff das auch widerfahren ist, eine „sonderbare Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft” verspüren. Das Land gehört halb zu Argentinien und halbzu Chile und versteht sich doch als einheitliches Ganzes, das wiederum mit den beiden Staaten wenig gemein hat. Seine Liebhaber würden sich bedanken, wennsie wie Generationen vor ihnen selbst jagen und schlachten müssten, und wenn sie zur Fortbewegung ausschließlich auf Pferde angewiesen wären.
Die Natur in ihrer Ungezähmtheit und Widerborstigkeit, wie sie in Patagonien in der Tat in starkem Maß zu finden ist, fasziniert heutige Besucher vor allem deshalb so sehr, weil man sie intensiv erleben kann, ohne sich all ihren Mühsalen aussetzen zu müssen. Man kann bequem hinfliegen, kann die Landschaft trotz der wilden Ursprünglichkeit mit dem Auto und dem Zug erfahren. Man weiß, woher die Steaks kommen, die einem gebraten werden, muss sie aber nicht selbst aus einem Tier herausschneiden.
Das Buch von Allhoff und Stadler ist nicht tatsächlich neu, die beiden haben ihre Erstausgabe von 1998 erweitert und, wo notwendig, aktualisiert. Es wäre den beiden zu wünschen gewesen, dass das Lektorat ähnlich sorgsam wie sie selbst vorgegangen wäre. Dann gäbe es keine falschen Silbentrennungen und keine vertauschten Bilder in dem Buch.
Die Neuauflage ist dennoch sehr schön geworden; sie vermittelt eine Vielfalt von Eindrücken in Bild und Text. Beide, Stadler und Allhoff, erlauben sich ungläubiges Staunen, beide bewahren sich aber zugleich auch kritische Distanz. Sie beschreiben die Entwicklung Patagoniens überdies nicht als einen abgeschlossenen Prozess. Allhoff vor allem wagt immer wieder einen Ausblick in die Zukunft und beweist damit, dass Patagonien sehr wohl mit der Zeit geht. Nur eben mit einer eigenwilligen Schrittlänge und in eine ungewöhnliche Richtung.
STEFAN FISCHER
HUBERT STADLER, MICHAEL ALLHOFF: Patagonien. Bucher Verlag, München 2006, 204 Seiten, 49,95 Euro.
Bäume schützen die Estancia – Gauchos sind dem Wind ausgesetzt.
Fotos: Stadler
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Reise ins wilde Wunderland
Patagonien in Text und Bild
Die Versuchung ist groß, Patagonien als ein aus der Zeit gefallenes Paradies zu beschreiben, in dem der Mensch unter großen Mühen mit derNatur in Einklang lebt. Auch der Autor Michael Allhoff steht mehrfach sehr nahe davor, dieser Versuchung zu erliegen, also jedes realistische Maß zu verlieren und sich in liebesblinder Schwärmerei zu ergehen.
Doch schon in der Anekdote, mit der er sein Buch „Patagonien” beginnt – einen Bildband, zu dem Hubert Stadler die Fotografien beigetragen hat –, schon auf den ersten Seiten also verwahrt er sich gegen diese billige Art der Reiseprosa. Er erzählt vielmehr, wie er auf Feuerland in einer weiten Ebene steht, vor sich jenes „Wunderland”, das hundert Jahre zuvor noch Terra incognita war, und in sich eine grenzenlose Freiheit verspürend. Hinter sich weiß er die Geborgenheit einer Estancia. Aus einem „antiquarischen Holzlautsprecher” rauscht Klaviermusik von John Field, eines Zeitgenossen Chopins. Soweit bedient er noch das Klischee vom urtümlichen Land. Doch gleich darauf erzählt ihm die Dame des Hauses, dass ihre Tochter die Schallplatte im Internet ausfindig gemacht habe.
In Patagonien hat das 19. Jahrhundert eben nicht die Zeitläufte überdauert. Man kann dort lediglich, wie Allhoff das auch widerfahren ist, eine „sonderbare Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft” verspüren. Das Land gehört halb zu Argentinien und halbzu Chile und versteht sich doch als einheitliches Ganzes, das wiederum mit den beiden Staaten wenig gemein hat. Seine Liebhaber würden sich bedanken, wennsie wie Generationen vor ihnen selbst jagen und schlachten müssten, und wenn sie zur Fortbewegung ausschließlich auf Pferde angewiesen wären.
Die Natur in ihrer Ungezähmtheit und Widerborstigkeit, wie sie in Patagonien in der Tat in starkem Maß zu finden ist, fasziniert heutige Besucher vor allem deshalb so sehr, weil man sie intensiv erleben kann, ohne sich all ihren Mühsalen aussetzen zu müssen. Man kann bequem hinfliegen, kann die Landschaft trotz der wilden Ursprünglichkeit mit dem Auto und dem Zug erfahren. Man weiß, woher die Steaks kommen, die einem gebraten werden, muss sie aber nicht selbst aus einem Tier herausschneiden.
Das Buch von Allhoff und Stadler ist nicht tatsächlich neu, die beiden haben ihre Erstausgabe von 1998 erweitert und, wo notwendig, aktualisiert. Es wäre den beiden zu wünschen gewesen, dass das Lektorat ähnlich sorgsam wie sie selbst vorgegangen wäre. Dann gäbe es keine falschen Silbentrennungen und keine vertauschten Bilder in dem Buch.
Die Neuauflage ist dennoch sehr schön geworden; sie vermittelt eine Vielfalt von Eindrücken in Bild und Text. Beide, Stadler und Allhoff, erlauben sich ungläubiges Staunen, beide bewahren sich aber zugleich auch kritische Distanz. Sie beschreiben die Entwicklung Patagoniens überdies nicht als einen abgeschlossenen Prozess. Allhoff vor allem wagt immer wieder einen Ausblick in die Zukunft und beweist damit, dass Patagonien sehr wohl mit der Zeit geht. Nur eben mit einer eigenwilligen Schrittlänge und in eine ungewöhnliche Richtung.
STEFAN FISCHER
HUBERT STADLER, MICHAEL ALLHOFF: Patagonien. Bucher Verlag, München 2006, 204 Seiten, 49,95 Euro.
Bäume schützen die Estancia – Gauchos sind dem Wind ausgesetzt.
Fotos: Stadler
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