Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt - und wollen das auch mit allen teilen. Pathos bedeutet Macht. Wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen erst die Dinge ins Rollen. Dann kann Pathos Veränderung bedeuten. Gleichzeitig spiegelt sein Einsatz auch die herrschenden Machtverhältnisse wider.
Scharf und pointiert seziert Solmaz Khorsand die einzelnen Tonlagen des uns stets umgebenden Pathoskonzerts. Sie misst die Lautstärke der Wortführer und hört bei den leisen Äußerungen der Ausgeschlossenen genau hin. Sie spürt, wessen aufgeregtes Geheul Gewicht hat und wem man rät, doch bitte nicht so pathetisch zu sein. Sie zeigt den fein balancierten Kipppunkt, an dem sich entscheidet, ob Pathos zu Achtsamkeit führt oder zu Radikalisierung. Und nicht zuletzt tritt sie ein für ein Innehalten, ein Dämpfen unseres eigenen Lärms und einen realistischen Blick auf uns selbst, der dazu ermutigt, im richtigen Moment einfach mal denMund zu halten.
Scharf und pointiert seziert Solmaz Khorsand die einzelnen Tonlagen des uns stets umgebenden Pathoskonzerts. Sie misst die Lautstärke der Wortführer und hört bei den leisen Äußerungen der Ausgeschlossenen genau hin. Sie spürt, wessen aufgeregtes Geheul Gewicht hat und wem man rät, doch bitte nicht so pathetisch zu sein. Sie zeigt den fein balancierten Kipppunkt, an dem sich entscheidet, ob Pathos zu Achtsamkeit führt oder zu Radikalisierung. Und nicht zuletzt tritt sie ein für ein Innehalten, ein Dämpfen unseres eigenen Lärms und einen realistischen Blick auf uns selbst, der dazu ermutigt, im richtigen Moment einfach mal denMund zu halten.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Martin Tschechne empfiehlt Solmaz Khorsands Buch über Pathos als PR. Zu lernen ist für den Leser, woher der Begriff kommt und wie sein Weg von der griechischen Tragödie bis in unsere Zeit ausschaut, was Pathos heute mit Macht zu tun hat und wie es funktioniert und wirkt. Für Tschechne eine Art Gebrauchsanleitung, zumal die Autorin laut Rezensent das Moralisieren lässt und lieber anhand von Beispielen wie der öffentlichen Verarbeitung des Todes von George Floyd analysiert, was Pathos bewirkt, wo seine Paradoxien und Bruchlinien liegen und wie es uns nützt beziehungsweise schadet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2021Ergriffen von
sich selbst
Solmaz Khorsand plädiert für
weniger Selbstmitleid
Neulich hat sich mal wieder jemand auf Twitter über die Deutsche Bahn beschwert. Weil er seine Bahncard doppelt bekam und nicht mehr stornieren konnte. Oder so ähnlich. Ein kleines, privates Problem jedenfalls, das zur Schau gestellt wurde, als beträfe es die ganze Menschheit. Seht her, ich leide: Das ist Pathos in seiner kleinen, harmlosen Variante, und man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn es einem nicht inzwischen an jeder Ecke begegnen würde. Pathos ist das rhetorische Mittel der Stunde.
So beschreibt es jedenfalls die österreichische Journalistin Solmaz Khorsand, die beim Schweizer Online-Magazin Republik arbeitet, in ihrem soeben erschienenen Buch „Pathos“: „Pathos ist überall, permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite.“
Wer aus beruflichen Gründen, oder weil ihn privater Masochismus dazu treibt, regelmäßig in den sozialen Medien unterwegs ist, kann dieser Diagnose vermutlich zustimmen. So viele Tweets mit Gefühl, so viele Analysen mit moralischen Bewertungen. Laut Duden ist Pathos feierliche Ergriffenheit, und oft, möchte man hinzufügen, sind die pathetischen Menschen vor allem von sich selbst ergriffen. Man ist deshalb sehr einverstanden, wenn Khorsand zu Beginn ihres Buches fordert, „bitte hin und wieder diese Bühne zu räumen. Hin und wieder die Lautstärke runterzudrehen. Hin und wieder einfach nur still zu sein“. Das eigene Pathos dürfe auch gedrosselt werden, wenigstens ab und zu.
Es folgt dann allerdings glücklicherweise kein weiteres Wehklagen über den Zustand der öffentlichen Debatten im Allgemeinen, sondern die Beschreibung von Pathos als mächtiges Mittel zur Festigung bestehender Strukturen. Nur wer die Mehrheit auf seiner Seite hat, kann es wirklich gewinnbringend einsetzen und darauf hoffen, in seiner gefühligen Übertreibung gehört und verstanden zu werden. Pathos ist ein Privileg. Was zum Beispiel, fragt Khorsand, habe es denn mit der „Krise des weißen Mannes“ wirklich auf sich?
Handelt es sich womöglich einfach um die für ihn schmerzhafte Erkenntnis, dass es noch andere gesellschaftliche Akteure gibt, die auch gehört werden wollen und deshalb nicht länger schweigen? „Wer den Anspruch hat“, so Khorsand, „die Menschheit als Norm zu repräsentieren – und sei diese Norm noch so fiktiv und imaginiert –, hat auch den Anspruch, seine Krise als eine Krise der gesamten Menschheit zu postulieren.“ Dieser Anspruch wirke auch umgekehrt, wenn Pathos von oben eingefordert wird, also etwa die Repräsentanten einer Minderheit bitteschön nur so auftreten sollen, wie es für sie vorgesehen ist.
Warum andererseits das laute Klagen und Empören auch eine gute Sache sein kann, wenn etwa Machtstrukturen mit Pathos bekämpft oder gar gekippt werden, zeigt die Autorin auch an mehreren Beispielen. Der Schweizer Juristin Nora Scheidegger gelang es etwa, eine Reform des überkommenen Schweizer Sexualstrafrechts anzustoßen. Und die Amerikanerin Emma González, die einen Amoklauf an einer Schule in Parkland, Florida überlebte, wurde zur Ikone der Bewegung für strengere Waffengesetze. 6 Minuten und 20 Sekunden stand sie vor Tausenden Menschen auf einer Bühne und schwieg, weil der Amokläufer so lange gebraucht hatte, um 17 Menschen zu töten. Pathos, das wirkt: Florida verschärfte seine Waffengesetze, wenigstens ein bisschen.
So gesehen ist Pathos nicht gleich Pathos. Es ist immer Mittel zum Zweck, manche Anliegen haben es mehr verdient als andere. Khorsand gesteht es deshalb nicht jedem zu. Ein Problem sei etwa die Tendenz zur pathetischen Ich-Geschichte im Journalismus: „Das Einzelschicksal wird auf das große Ganze hochgerechnet. Und mittlerweile beginnt das Einzelschicksal bequemerweise gleich beim Autor selbst.“ Nicht jede Befindlichkeit müsse jedoch gleich geteilt werden, nicht jede Kränkung brauche eine Plattform und nicht jedes Gefühl eine Bühne.
Die leidenschaftliche Übertreibung ist für Solmaz Khorsand letztlich in erster Linie ein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele, die den Marginalisierten helfen. Der Mehrheitsgesellschaft, die sich gerne solidarisch erklärt, aber oft einfach nur von sich selbst überwältigt ist, empfiehlt Khorsand den öffentlichen Pathosverzicht, als Akt der Solidarität: „Dann wäre schon etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie gegeben.“ Einfach mal still sein: ein Rat, der in vielen Lebenslagen hilfreich sein kann. Nicht nur dann, wenn die Deutsche Bahn einen mal wieder gekränkt hat. Dann aber auf jeden Fall.
DOMINIK FÜRST
Es gibt berechtigtes Pathos.
Und es gibt eine Menge
narzisstisches Gejammer
Solmaz Khorsand:
Pathos.
Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 2021.
128 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sich selbst
Solmaz Khorsand plädiert für
weniger Selbstmitleid
Neulich hat sich mal wieder jemand auf Twitter über die Deutsche Bahn beschwert. Weil er seine Bahncard doppelt bekam und nicht mehr stornieren konnte. Oder so ähnlich. Ein kleines, privates Problem jedenfalls, das zur Schau gestellt wurde, als beträfe es die ganze Menschheit. Seht her, ich leide: Das ist Pathos in seiner kleinen, harmlosen Variante, und man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn es einem nicht inzwischen an jeder Ecke begegnen würde. Pathos ist das rhetorische Mittel der Stunde.
So beschreibt es jedenfalls die österreichische Journalistin Solmaz Khorsand, die beim Schweizer Online-Magazin Republik arbeitet, in ihrem soeben erschienenen Buch „Pathos“: „Pathos ist überall, permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite.“
Wer aus beruflichen Gründen, oder weil ihn privater Masochismus dazu treibt, regelmäßig in den sozialen Medien unterwegs ist, kann dieser Diagnose vermutlich zustimmen. So viele Tweets mit Gefühl, so viele Analysen mit moralischen Bewertungen. Laut Duden ist Pathos feierliche Ergriffenheit, und oft, möchte man hinzufügen, sind die pathetischen Menschen vor allem von sich selbst ergriffen. Man ist deshalb sehr einverstanden, wenn Khorsand zu Beginn ihres Buches fordert, „bitte hin und wieder diese Bühne zu räumen. Hin und wieder die Lautstärke runterzudrehen. Hin und wieder einfach nur still zu sein“. Das eigene Pathos dürfe auch gedrosselt werden, wenigstens ab und zu.
Es folgt dann allerdings glücklicherweise kein weiteres Wehklagen über den Zustand der öffentlichen Debatten im Allgemeinen, sondern die Beschreibung von Pathos als mächtiges Mittel zur Festigung bestehender Strukturen. Nur wer die Mehrheit auf seiner Seite hat, kann es wirklich gewinnbringend einsetzen und darauf hoffen, in seiner gefühligen Übertreibung gehört und verstanden zu werden. Pathos ist ein Privileg. Was zum Beispiel, fragt Khorsand, habe es denn mit der „Krise des weißen Mannes“ wirklich auf sich?
Handelt es sich womöglich einfach um die für ihn schmerzhafte Erkenntnis, dass es noch andere gesellschaftliche Akteure gibt, die auch gehört werden wollen und deshalb nicht länger schweigen? „Wer den Anspruch hat“, so Khorsand, „die Menschheit als Norm zu repräsentieren – und sei diese Norm noch so fiktiv und imaginiert –, hat auch den Anspruch, seine Krise als eine Krise der gesamten Menschheit zu postulieren.“ Dieser Anspruch wirke auch umgekehrt, wenn Pathos von oben eingefordert wird, also etwa die Repräsentanten einer Minderheit bitteschön nur so auftreten sollen, wie es für sie vorgesehen ist.
Warum andererseits das laute Klagen und Empören auch eine gute Sache sein kann, wenn etwa Machtstrukturen mit Pathos bekämpft oder gar gekippt werden, zeigt die Autorin auch an mehreren Beispielen. Der Schweizer Juristin Nora Scheidegger gelang es etwa, eine Reform des überkommenen Schweizer Sexualstrafrechts anzustoßen. Und die Amerikanerin Emma González, die einen Amoklauf an einer Schule in Parkland, Florida überlebte, wurde zur Ikone der Bewegung für strengere Waffengesetze. 6 Minuten und 20 Sekunden stand sie vor Tausenden Menschen auf einer Bühne und schwieg, weil der Amokläufer so lange gebraucht hatte, um 17 Menschen zu töten. Pathos, das wirkt: Florida verschärfte seine Waffengesetze, wenigstens ein bisschen.
So gesehen ist Pathos nicht gleich Pathos. Es ist immer Mittel zum Zweck, manche Anliegen haben es mehr verdient als andere. Khorsand gesteht es deshalb nicht jedem zu. Ein Problem sei etwa die Tendenz zur pathetischen Ich-Geschichte im Journalismus: „Das Einzelschicksal wird auf das große Ganze hochgerechnet. Und mittlerweile beginnt das Einzelschicksal bequemerweise gleich beim Autor selbst.“ Nicht jede Befindlichkeit müsse jedoch gleich geteilt werden, nicht jede Kränkung brauche eine Plattform und nicht jedes Gefühl eine Bühne.
Die leidenschaftliche Übertreibung ist für Solmaz Khorsand letztlich in erster Linie ein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele, die den Marginalisierten helfen. Der Mehrheitsgesellschaft, die sich gerne solidarisch erklärt, aber oft einfach nur von sich selbst überwältigt ist, empfiehlt Khorsand den öffentlichen Pathosverzicht, als Akt der Solidarität: „Dann wäre schon etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie gegeben.“ Einfach mal still sein: ein Rat, der in vielen Lebenslagen hilfreich sein kann. Nicht nur dann, wenn die Deutsche Bahn einen mal wieder gekränkt hat. Dann aber auf jeden Fall.
DOMINIK FÜRST
Es gibt berechtigtes Pathos.
Und es gibt eine Menge
narzisstisches Gejammer
Solmaz Khorsand:
Pathos.
Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 2021.
128 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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