Wie kaum ein zweiter Begriff der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland steht gegenwärtig der "Patriotismus" im Zentrum des Nachdenkens über die sozio-moralischen Grundlagen unseres Gemeinwesens in Zeiten des Wandels. Volker Kronenberg führt die umfassende politikwissenschaftliche Rekonstruktion dieses Schlüsselbegriffs im Beziehungsgeflecht von Nation, Nationalismus, Verfassung und Europa in gegenwartsbezogener Absicht durch - nicht zuletzt um deutlich zu machen, wie notwendig ein aufgeklärter, weltoffener Patriotismus für ein europäisches Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Den Abschluss bilden Stellungnahmen u.a. von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ralf Dahrendorf, Axel Honneth und Helmut Kohl.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2006Das Wohl aller im Blick
Patriotismus im freiheitlich-demokratischen Nationalstaat
Patriotismus ist eine unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie. So lautet das Ergebnis der perspektivenreichen Untersuchung von Volker Kronenberg. Ohne Patriotismus sei kein Staat in der Lage, seine freiheitsverbürgenden Institutionen dauerhaft lebendig zu erhalten. Warum das so ist, wird aus der Definition ersichtlich, die Kronenberg seiner Patriotismus-Studie zugrunde legt: Patriotismus markiere ein Verhalten, das nicht persönliche Interessen und Karrieregesichtspunkte zu handlungsleitenden Normen öffentlichen Engagements erhebe, sondern das Wohl aller Mitglieder der Gesellschaft im Blick habe. Patriotismus sei Arbeit am Gemeinwohl, Dienst an der Sache der res publica - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Mit dieser auf den ersten Blick eher überraschenden Inhaltsbestimmung bezieht Kronenberg Position in einer höchst aktuell gewordenen und lebhaft geführten Debatte, die - ausgelöst vom Unbehagen an den zunehmend erstarrten Ritualen deutscher Selbstkritik - ein verstärktes Verlangen nach einem "neuen Patriotismus" nahezulegen scheint. Solchem Verlangen trägt der Autor Rechnung, der aus politikwissenschaftlicher Perspektive den historischen Patriotismus-Begriff in "gegenwartsbezogener Absicht" rekonstruieren will. Der Blick richtet sich dabei nicht nur auf die zweihundertjährige Geschichte des Patriotismus-Diskurses in Deutschland. Er bezieht auch Sichtweisen aus Frankreich, England und den Vereinigten Staaten mit ein.
Die aus solcher Vergleichsperspektive erwachsenen Forschungsresultate verdienen Beachtung, weil sie die aktuelle Debatte durch neue und teilweise originelle Akzentsetzungen beleben. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert wird deutlich, wie stark die führenden deutschen Philosophen und Staatstheoretiker damals aufgeklärtes Denken und patriotisches Handeln als untrennbar miteinander verknüpft empfanden. "Aufgeklärt" sein hieß in der Vorstellungswelt eines Immanuel Kant, Thomas Abbt oder Friedrich Carl von Moser, sich für das Allgemeinwohl zu engagieren. Der "Patriot" war der tugendhaft handelnde Staatsbürger schlechthin, der sein privates und öffentliches Wirken ganz dem Gedeihen des Vaterlandes widmete und sich in dieser vaterländischen Gesinnung zugleich als Kosmopolit fühlen durfte - einig mit allen anderen am Wohl der Menschheit arbeitenden Patrioten aller Länder der zivilisierten Welt.
Kronenberg legt großen Wert auf den Nachweis, daß die Tradition dieses "freiheitlichen Patriotismus" mit seinen staatsbürgerlich-emanzipatorischen Komponenten in den Jahren nach 1789 nicht abgebrochen ist. Auch jene Patrioten, die im Rahmen der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts aktiv gewesen seien, hätten diese Perspektive niemals gänzlich aus dem Blick verloren. Und tatsächlich richteten sich deren Ziele ja auf die Verwirklichung von Einheit und Freiheit in einem deutschen Nationalstaat, der als Verfassungsstaat zugleich Raum für die Entfaltung einer modernen Bürgergesellschaft bieten sollte. Diese freiheitlich-emanzipatorische Ausprägungsform deutschen patriotischen Denkens bietet für Kronenberg die historische Bezugsgröße, an die eine aktuelle Patriotismus-Debatte im vereinigten Deutschland anknüpfen kann. Das, was die deutschen Patrioten des 18. und 19. Jahrhunderts einst erstrebten - die moderne Bürgergesellschaft in Einheit und Freiheit -, ist mittlerweile Realität geworden. Doch vielfach fehlen der Bürgergesellschaft emotionale Bindungskräfte, aus denen kollektive Identitäten erwachsen. Und nicht selten mangelt es an gefühlsmäßiger Identifikation der in Einheit und Freiheit Lebenden mit ihrem Staat und der ihn tragenden Wertegemeinschaft. Für Kronenberg ist eine solche dringend erforderliche Identifikationsleistung an die Existenz des demokratisch verfaßten Nationalstaats gebunden, auf den sich patriotisches Handeln in absehbarer Zeit zu beziehen habe. Allein der Nationalstaat sorge für eine effektive Garantie der Freiheits-, Grund- und Bürgerrechte und sei als Vermittler von Solidarität ebenso unentbehrlich wie als einzig bisher funktionierender Ort demokratischer Partizipation.
Von der Konstruktion eines "Verfassungspatriotismus", wie ihn Jürgen Habermas und Dieter Oberndörfer munter propagiert und als vermeintlich "weltbürgerliche" Alternative zum Nationalgefühl traditioneller Prägung einst gepriesen haben, hält Kronenberg nichts, weil ein nur auf die Verfassung bezogener Patriotismus weder solidaritätsstiftende Bindungskräfte noch wertorientierte Identifikationspotentiale freizusetzen vermag. Und die in diesem Zusammenhang gleichfalls gelegentlich als Vorbild bemühte Diskursgesellschaft eines "global village" biete ohnehin keine glaubhaften Regelungsmechanismen für die verbindliche Einhaltung grenzüberschreitender demokratischer Spielregeln.
So bleibt als Aufgabe künftiger Politik und Politikwissenschaft in Deutschland, sich einen nationalstaatsbezogenen Patriotismus zu erarbeiten. Allerdings muß man dem Verfasser hier die Frage stellen, wie ein solches Patriotismus-Modell denn mit dem europäischen Einigungsprozeß harmonisiert werden kann. Soll der Nationalstaat weiterhin als Kristallisationspunkt konsensorientierten Handelns dienen, so müßte ihm doch wohl ein Verständnis von Europa entsprechen, das Raum läßt für die Vermittlung von Gemeinsinn, Emanzipation und Engagement in ihrer nationenspezifischen, auch räumlich konkret erlebbaren Qualität. Dies ist in der Tat Kronenbergs Perspektive - einen Zugang zu Europa ohne Vermittlung nationaler Identitäten gibt es für ihn nicht, weil der Idee der europäischen Einheit keine Realität des Einheitseuropäers entspricht.
Kronenberg löst den Patriotismus-Begriff aus allen unguten, nationalistisch oder gar chauvinistisch aufgeladenen Sinnzusammenhängen, die sich bei einer Beschäftigung mit ihm nur allzuoft einstellen, und führt ihn auf seine eigentlichen Wurzeln zurück. Er rekonstruiert und rehabilitiert ihn als zentrale Bezugsgröße eines freiheitlich-demokratischen Nationalstaats. In dieser Sicht erscheint Patriotismus nicht als deutsche Sonderleistung, sondern als europäischer Normalfall - eine bürgerliche Tugend allerorts in Europa. Gerade die Deutschen wären gut beraten, sich auch in dieser Hinsicht als ein Volk europäischer Normalbürger auszuweisen.
FRANK-LOTHAR KROLL
Volker Kronenberg: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation. Mit Interviews u. a. von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ralf Dahrendorf, Axel Honneth und Helmut Kohl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005. 418 S., 44,90 [Euro].
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Patriotismus im freiheitlich-demokratischen Nationalstaat
Patriotismus ist eine unverzichtbare Voraussetzung der Demokratie. So lautet das Ergebnis der perspektivenreichen Untersuchung von Volker Kronenberg. Ohne Patriotismus sei kein Staat in der Lage, seine freiheitsverbürgenden Institutionen dauerhaft lebendig zu erhalten. Warum das so ist, wird aus der Definition ersichtlich, die Kronenberg seiner Patriotismus-Studie zugrunde legt: Patriotismus markiere ein Verhalten, das nicht persönliche Interessen und Karrieregesichtspunkte zu handlungsleitenden Normen öffentlichen Engagements erhebe, sondern das Wohl aller Mitglieder der Gesellschaft im Blick habe. Patriotismus sei Arbeit am Gemeinwohl, Dienst an der Sache der res publica - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Mit dieser auf den ersten Blick eher überraschenden Inhaltsbestimmung bezieht Kronenberg Position in einer höchst aktuell gewordenen und lebhaft geführten Debatte, die - ausgelöst vom Unbehagen an den zunehmend erstarrten Ritualen deutscher Selbstkritik - ein verstärktes Verlangen nach einem "neuen Patriotismus" nahezulegen scheint. Solchem Verlangen trägt der Autor Rechnung, der aus politikwissenschaftlicher Perspektive den historischen Patriotismus-Begriff in "gegenwartsbezogener Absicht" rekonstruieren will. Der Blick richtet sich dabei nicht nur auf die zweihundertjährige Geschichte des Patriotismus-Diskurses in Deutschland. Er bezieht auch Sichtweisen aus Frankreich, England und den Vereinigten Staaten mit ein.
Die aus solcher Vergleichsperspektive erwachsenen Forschungsresultate verdienen Beachtung, weil sie die aktuelle Debatte durch neue und teilweise originelle Akzentsetzungen beleben. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert wird deutlich, wie stark die führenden deutschen Philosophen und Staatstheoretiker damals aufgeklärtes Denken und patriotisches Handeln als untrennbar miteinander verknüpft empfanden. "Aufgeklärt" sein hieß in der Vorstellungswelt eines Immanuel Kant, Thomas Abbt oder Friedrich Carl von Moser, sich für das Allgemeinwohl zu engagieren. Der "Patriot" war der tugendhaft handelnde Staatsbürger schlechthin, der sein privates und öffentliches Wirken ganz dem Gedeihen des Vaterlandes widmete und sich in dieser vaterländischen Gesinnung zugleich als Kosmopolit fühlen durfte - einig mit allen anderen am Wohl der Menschheit arbeitenden Patrioten aller Länder der zivilisierten Welt.
Kronenberg legt großen Wert auf den Nachweis, daß die Tradition dieses "freiheitlichen Patriotismus" mit seinen staatsbürgerlich-emanzipatorischen Komponenten in den Jahren nach 1789 nicht abgebrochen ist. Auch jene Patrioten, die im Rahmen der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts aktiv gewesen seien, hätten diese Perspektive niemals gänzlich aus dem Blick verloren. Und tatsächlich richteten sich deren Ziele ja auf die Verwirklichung von Einheit und Freiheit in einem deutschen Nationalstaat, der als Verfassungsstaat zugleich Raum für die Entfaltung einer modernen Bürgergesellschaft bieten sollte. Diese freiheitlich-emanzipatorische Ausprägungsform deutschen patriotischen Denkens bietet für Kronenberg die historische Bezugsgröße, an die eine aktuelle Patriotismus-Debatte im vereinigten Deutschland anknüpfen kann. Das, was die deutschen Patrioten des 18. und 19. Jahrhunderts einst erstrebten - die moderne Bürgergesellschaft in Einheit und Freiheit -, ist mittlerweile Realität geworden. Doch vielfach fehlen der Bürgergesellschaft emotionale Bindungskräfte, aus denen kollektive Identitäten erwachsen. Und nicht selten mangelt es an gefühlsmäßiger Identifikation der in Einheit und Freiheit Lebenden mit ihrem Staat und der ihn tragenden Wertegemeinschaft. Für Kronenberg ist eine solche dringend erforderliche Identifikationsleistung an die Existenz des demokratisch verfaßten Nationalstaats gebunden, auf den sich patriotisches Handeln in absehbarer Zeit zu beziehen habe. Allein der Nationalstaat sorge für eine effektive Garantie der Freiheits-, Grund- und Bürgerrechte und sei als Vermittler von Solidarität ebenso unentbehrlich wie als einzig bisher funktionierender Ort demokratischer Partizipation.
Von der Konstruktion eines "Verfassungspatriotismus", wie ihn Jürgen Habermas und Dieter Oberndörfer munter propagiert und als vermeintlich "weltbürgerliche" Alternative zum Nationalgefühl traditioneller Prägung einst gepriesen haben, hält Kronenberg nichts, weil ein nur auf die Verfassung bezogener Patriotismus weder solidaritätsstiftende Bindungskräfte noch wertorientierte Identifikationspotentiale freizusetzen vermag. Und die in diesem Zusammenhang gleichfalls gelegentlich als Vorbild bemühte Diskursgesellschaft eines "global village" biete ohnehin keine glaubhaften Regelungsmechanismen für die verbindliche Einhaltung grenzüberschreitender demokratischer Spielregeln.
So bleibt als Aufgabe künftiger Politik und Politikwissenschaft in Deutschland, sich einen nationalstaatsbezogenen Patriotismus zu erarbeiten. Allerdings muß man dem Verfasser hier die Frage stellen, wie ein solches Patriotismus-Modell denn mit dem europäischen Einigungsprozeß harmonisiert werden kann. Soll der Nationalstaat weiterhin als Kristallisationspunkt konsensorientierten Handelns dienen, so müßte ihm doch wohl ein Verständnis von Europa entsprechen, das Raum läßt für die Vermittlung von Gemeinsinn, Emanzipation und Engagement in ihrer nationenspezifischen, auch räumlich konkret erlebbaren Qualität. Dies ist in der Tat Kronenbergs Perspektive - einen Zugang zu Europa ohne Vermittlung nationaler Identitäten gibt es für ihn nicht, weil der Idee der europäischen Einheit keine Realität des Einheitseuropäers entspricht.
Kronenberg löst den Patriotismus-Begriff aus allen unguten, nationalistisch oder gar chauvinistisch aufgeladenen Sinnzusammenhängen, die sich bei einer Beschäftigung mit ihm nur allzuoft einstellen, und führt ihn auf seine eigentlichen Wurzeln zurück. Er rekonstruiert und rehabilitiert ihn als zentrale Bezugsgröße eines freiheitlich-demokratischen Nationalstaats. In dieser Sicht erscheint Patriotismus nicht als deutsche Sonderleistung, sondern als europäischer Normalfall - eine bürgerliche Tugend allerorts in Europa. Gerade die Deutschen wären gut beraten, sich auch in dieser Hinsicht als ein Volk europäischer Normalbürger auszuweisen.
FRANK-LOTHAR KROLL
Volker Kronenberg: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation. Mit Interviews u. a. von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ralf Dahrendorf, Axel Honneth und Helmut Kohl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005. 418 S., 44,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Beifall überhäuft Frank-Lothar Kroll diese Studie über die Unverzichtbarkeit eines aufgeklärten Patriotismus für das demokratische Gemeinwesen, die Volker Kronenberg verfasst hat. Er bescheinigt dem Autor, den Patriotismusbegriff aus seinen negativen, chauvinistischen wie nationalistischen Kontexten zu lösen, um seine ursprüngliche Bedeutung wiederzubeleben - den persönlichen Einsatz für das Gemeinwesen und das Gemeinwohl. Besonders instruktiv an Kronenbergs Rekonstruktion des historischen Patriotismusbegriffs findet Kroll den Blick auf die führenden deutschen Philosophen und Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts wie Immanuel Kant oder Thomas Abbt. Lobend hebt er hervor, dass sich Kronenberg nicht auf den zweihundertjährigen Patriotismusdiskurs in Deutschland beschränkt, sondern auch Ansichten aus Frankreich, England und den Vereinigten Staaten einbezieht. Das Verdienst dieser Arbeit sieht Kroll in der gelungenen Rehabilitation des Patriotismus als "zentrale Bezugsgröße eines freiheitlich-demokratischen Nationalstaats".
© Perlentaucher Medien GmbH
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