Der Reiz liegt im Aufspüren der Affinität des Herausgebers. Ist der Ausgewählte Vorbild? Oder soll an einem festgefügten Autorenbild eine längst überfällige Korrektur vorgenommen werden? Indem sich der Dichter/Herausgeber aber für einen Autor entscheidet, legt er eine Art Bekenntnis ab. Zu erspüren, welcher Art dieses Bekenntnis ist, bleibt Aufgabe des Lesers. Die Reihe kann so für den in der Lyrik wenig bewanderten einen Einstieg in die Welt der Poesie bedeuten, für den Insider wird sie überraschend neue Einblicke bereithalten.
(Aus dem Amerikanischen von Andrea Paluch und Robert Habeck)
(Aus dem Amerikanischen von Andrea Paluch und Robert Habeck)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2002Keine wie du, Sulamit!
Augendichter: der amerikanische Lyriker Charles Reznikoff
Prominente Autoren entdecken vergessene oder unterschätzte Dichter - ich weiß nicht, ob diese Idee für eine ganze Buchreihe reicht, wie sie Axel Marquardt im Europa Verlag ediert. Aber wenn dabei eine wirkliche Entdeckung herauskommt, muß man sie preisen. "Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff" - unter diesem Titel wird dem deutschen Leser ein wahrhaft bedeutender Dichter bekannt gemacht: nämlich der 1976 gestorbene amerikanisch-jüdische Lyriker Charles Reznikoff, der übrigens auch in den Vereinigten Staaten noch immer nicht nach Verdienst gewürdigt wird. Um den Glücksfall vollzumachen: Sein "Entdecker", der Erzähler Paul Auster, ist als Guide und Interpret ein Muster von Einfühlung und Präzision, das nur zu loben ist.
Reznikoffs Vita ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte. 1894 in Brooklyn geboren, besuchte er ein Jahr lang eine Journalistenschule, schloß daran ein Jurastudium an und wurde 1915 als Rechtsanwalt zugelassen. Als die Klienten ausblieben, versuchte Reznikoff sich als Handlungsreisender und später, nach der großen Depression, als Redakteur in juristischen Verlagen. Beruf und Schreiben miteinander zu verbinden erwies sich als schwierig. Aber Reznikoff ließ sich nicht entmutigen. Er setzte auf die "Flut", die zweimal am Tag kommt; nämlich als Poesie nach der ersten Flut von Tagesarbeit für den Lebensunterhalt. Auch W. C. Williams und Wallace Stevens haben ja solche Doppelleben geführt; der eine als Landarzt, der andere als Anwalt und Angestellter in einer Versicherung. Beide sind trotzdem erfolgreiche Autoren geworden; Reznikoff hingegen nicht.
Das war durchaus kein Erfolgsstreik, denn Reznikoff publizierte seit 1918, seit seinem Debüt mit Vierundzwanzig, kontinuierlich bis ins Alter. Doch ein gewisser störriger Eigensinn scheint bei ihm im Spiel gewesen zu sein, eine Unlust, sich Zeitschriften oder Verlegern aufzudrängen. Vielleicht gar der Wunsch, sich als Figur unsichtbar zu machen. Mit Louis Zukofsky und George Oppen gründete Reznikoff "The Objectivist Press", um gemeinsam die eigenen Bücher herauszubringen. Immer wieder war er auf kleine Verlage oder den Selbstverlag angewiesen.
Auster spricht von der lebenslangen Mißachtung des Dichters, die skandalös gewesen sei. Als Reznikoff fast siebzig war, publizierte der angesehene Verlag New Directions einen Band ausgewählter Gedichte und ließ ein zweites Buch folgen. Dann aber und trotz der Resonanz der beiden Ausgaben strich ihn der Verlag von der Liste seiner Autoren. Die kleine Black Sparrow Press übernahm 1974 sein Werk. Am 22. Januar 1976, während der Drucklegung seiner "Complete Poems", starb der Dichter in New York.
Auster nennt Reznikoff einen Dichter des Auges, wenig später aber einen Dichter des Nennens. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Man könnte von einem Imagisten sprechen, der seine Bildfindungen am Wirklichen überprüft. Insofern mag man ihn zu den Objektivisten rechnen. Aber Reznikoff war, anders als Pound oder Williams, weder an Schulen noch an Theorien interessiert. "Ich sehe etwas", sagte er 1968 in einem Interview, "und schreibe es auf, wie ich es sehe. Dabei enthalte ich mich kommentierender Worte. Wenn ich nun etwas vollbracht habe, das mich bewegt - wenn ich das Objekt gut porträtiert habe -, wird jemand anders auch davon bewegt sein, und der nächste wird sagen: ,Was zum Teufel ist denn das?' Und vielleicht haben beide recht."
Den Dichter - vielleicht wurde er ja deshalb nicht Anwalt - interessiert nicht, wer recht hat oder bekommt, sondern die Evidenz der geschauten Dinge. Er liebt den Snapshot aus dem alltäglichen Leben - um so besser, wenn daraus eine Epiphanie wird. Als Imagist reicht Reznikoff durchaus an Williams und Pound heran. Dessen berühmten Zweizeiler "In a Station of the Metro" überbietet er an Konzentration durch seinen Einzeiler "Die Brücke": "In einer Wolke Knochen aus Stahl". Ein Mini-Haiku, das man als mythologische Figur lesen kann. Von Baudelaires Wald der Symbole bleibt bei diesem Dichter der City die U-Bahn-Station als Hain stählerner Säulen, und selbst den Schmutz, das fortgeworfene Kaugummi, holt er in die Natur zurück, wenn er in ihm einen "flachen schwarzen Pilz" sieht.
Reznikoff ist nicht der Flaneur, der auf Exquisites aus ist. Er kennt die Stadt, wie Paul Auster sagt, wie ein Holzfäller den Wald. In seinen mittleren Jahren sei der Dichter jeden Tag zwischen zehn und zwanzig Meilen, von Brooklyn nach Riverdale und zurück, gewandert. Was er von diesen Erkundungen heimbrachte, waren nicht bloß Schnappschüsse und flüchtige Blicke, sondern wurde - mit dem Titel eines seiner Bücher - "Testimony", Zeugnis. Dieses Zeugnis gewann Reznikoff auch aus Büchern, aus Dokumenten. So etwa aus Gerichtsprotokollen und Urteilssammlungen. Da ist Reznikoff wahrhaft ein Dichter des Nennens. Der deutsche Auswahlband gibt ein Beispiel: die Geschichte eines Waisenmädchens, dessen Haar in eine Maschinenwelle gerät. Das Gedicht ist mehr als das Protokoll eines tödlichen Arbeitsunfalls, es hat eine unausgesprochene moralische, ja eine religiöse Dimension.
Sie kommt in einigen Gedichten gänzlich zum Ausdruck, die man Lieder nennen könnte, würden sie von Reim und Metrum Gebrauch machen. Aus ihnen spricht der Sohn eingewanderter Juden, der sich seiner Identität nicht mehr gewiß ist. "Wie schwierig Hebräisch für mich ist", beginnt ein titelloses Gedicht, um mit einem Bekenntnis der Liebe zu enden: "Wie Salomon / habe ich die Sprache von Fremden / geheiratet und geheiratet; / keine ist wie du, Sulamit."
Als Dichter - berichtet Paul Auster - habe Charles Reznikoff davon geträumt, zu Fuß durch das Land zu gehen und an Synagogen entlang des Wegs anzuhalten und dort aus seinen Werken vorzulesen, als Gegenleistung für Essen und Unterkunft. Reznikoff wußte Traum und Realität zu trennen. Aber wir verstehen besser, warum dieser Dichter, der von den Dingen Zeugnis ablegte, ohne ein Richter werden zu wollen, sich so unsichtbar gemacht hat. Ein Glück also, ihn jetzt entdecken zu können; in einer Übersetzung, die keinen anderen Ehrgeiz hat, als dem Dichter zu dienen. Ein Glück, daß es diesen Dichter gibt, aus dessen Werk der deutsche Leser noch viel erwarten darf. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht.
HARALD HARTUNG
"Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff". Aus dem Amerikanischen von Andrea Paluch und Robert Habeck. Europa Verlag, Hamburg und Wien 2001. 96 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Augendichter: der amerikanische Lyriker Charles Reznikoff
Prominente Autoren entdecken vergessene oder unterschätzte Dichter - ich weiß nicht, ob diese Idee für eine ganze Buchreihe reicht, wie sie Axel Marquardt im Europa Verlag ediert. Aber wenn dabei eine wirkliche Entdeckung herauskommt, muß man sie preisen. "Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff" - unter diesem Titel wird dem deutschen Leser ein wahrhaft bedeutender Dichter bekannt gemacht: nämlich der 1976 gestorbene amerikanisch-jüdische Lyriker Charles Reznikoff, der übrigens auch in den Vereinigten Staaten noch immer nicht nach Verdienst gewürdigt wird. Um den Glücksfall vollzumachen: Sein "Entdecker", der Erzähler Paul Auster, ist als Guide und Interpret ein Muster von Einfühlung und Präzision, das nur zu loben ist.
Reznikoffs Vita ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte. 1894 in Brooklyn geboren, besuchte er ein Jahr lang eine Journalistenschule, schloß daran ein Jurastudium an und wurde 1915 als Rechtsanwalt zugelassen. Als die Klienten ausblieben, versuchte Reznikoff sich als Handlungsreisender und später, nach der großen Depression, als Redakteur in juristischen Verlagen. Beruf und Schreiben miteinander zu verbinden erwies sich als schwierig. Aber Reznikoff ließ sich nicht entmutigen. Er setzte auf die "Flut", die zweimal am Tag kommt; nämlich als Poesie nach der ersten Flut von Tagesarbeit für den Lebensunterhalt. Auch W. C. Williams und Wallace Stevens haben ja solche Doppelleben geführt; der eine als Landarzt, der andere als Anwalt und Angestellter in einer Versicherung. Beide sind trotzdem erfolgreiche Autoren geworden; Reznikoff hingegen nicht.
Das war durchaus kein Erfolgsstreik, denn Reznikoff publizierte seit 1918, seit seinem Debüt mit Vierundzwanzig, kontinuierlich bis ins Alter. Doch ein gewisser störriger Eigensinn scheint bei ihm im Spiel gewesen zu sein, eine Unlust, sich Zeitschriften oder Verlegern aufzudrängen. Vielleicht gar der Wunsch, sich als Figur unsichtbar zu machen. Mit Louis Zukofsky und George Oppen gründete Reznikoff "The Objectivist Press", um gemeinsam die eigenen Bücher herauszubringen. Immer wieder war er auf kleine Verlage oder den Selbstverlag angewiesen.
Auster spricht von der lebenslangen Mißachtung des Dichters, die skandalös gewesen sei. Als Reznikoff fast siebzig war, publizierte der angesehene Verlag New Directions einen Band ausgewählter Gedichte und ließ ein zweites Buch folgen. Dann aber und trotz der Resonanz der beiden Ausgaben strich ihn der Verlag von der Liste seiner Autoren. Die kleine Black Sparrow Press übernahm 1974 sein Werk. Am 22. Januar 1976, während der Drucklegung seiner "Complete Poems", starb der Dichter in New York.
Auster nennt Reznikoff einen Dichter des Auges, wenig später aber einen Dichter des Nennens. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Man könnte von einem Imagisten sprechen, der seine Bildfindungen am Wirklichen überprüft. Insofern mag man ihn zu den Objektivisten rechnen. Aber Reznikoff war, anders als Pound oder Williams, weder an Schulen noch an Theorien interessiert. "Ich sehe etwas", sagte er 1968 in einem Interview, "und schreibe es auf, wie ich es sehe. Dabei enthalte ich mich kommentierender Worte. Wenn ich nun etwas vollbracht habe, das mich bewegt - wenn ich das Objekt gut porträtiert habe -, wird jemand anders auch davon bewegt sein, und der nächste wird sagen: ,Was zum Teufel ist denn das?' Und vielleicht haben beide recht."
Den Dichter - vielleicht wurde er ja deshalb nicht Anwalt - interessiert nicht, wer recht hat oder bekommt, sondern die Evidenz der geschauten Dinge. Er liebt den Snapshot aus dem alltäglichen Leben - um so besser, wenn daraus eine Epiphanie wird. Als Imagist reicht Reznikoff durchaus an Williams und Pound heran. Dessen berühmten Zweizeiler "In a Station of the Metro" überbietet er an Konzentration durch seinen Einzeiler "Die Brücke": "In einer Wolke Knochen aus Stahl". Ein Mini-Haiku, das man als mythologische Figur lesen kann. Von Baudelaires Wald der Symbole bleibt bei diesem Dichter der City die U-Bahn-Station als Hain stählerner Säulen, und selbst den Schmutz, das fortgeworfene Kaugummi, holt er in die Natur zurück, wenn er in ihm einen "flachen schwarzen Pilz" sieht.
Reznikoff ist nicht der Flaneur, der auf Exquisites aus ist. Er kennt die Stadt, wie Paul Auster sagt, wie ein Holzfäller den Wald. In seinen mittleren Jahren sei der Dichter jeden Tag zwischen zehn und zwanzig Meilen, von Brooklyn nach Riverdale und zurück, gewandert. Was er von diesen Erkundungen heimbrachte, waren nicht bloß Schnappschüsse und flüchtige Blicke, sondern wurde - mit dem Titel eines seiner Bücher - "Testimony", Zeugnis. Dieses Zeugnis gewann Reznikoff auch aus Büchern, aus Dokumenten. So etwa aus Gerichtsprotokollen und Urteilssammlungen. Da ist Reznikoff wahrhaft ein Dichter des Nennens. Der deutsche Auswahlband gibt ein Beispiel: die Geschichte eines Waisenmädchens, dessen Haar in eine Maschinenwelle gerät. Das Gedicht ist mehr als das Protokoll eines tödlichen Arbeitsunfalls, es hat eine unausgesprochene moralische, ja eine religiöse Dimension.
Sie kommt in einigen Gedichten gänzlich zum Ausdruck, die man Lieder nennen könnte, würden sie von Reim und Metrum Gebrauch machen. Aus ihnen spricht der Sohn eingewanderter Juden, der sich seiner Identität nicht mehr gewiß ist. "Wie schwierig Hebräisch für mich ist", beginnt ein titelloses Gedicht, um mit einem Bekenntnis der Liebe zu enden: "Wie Salomon / habe ich die Sprache von Fremden / geheiratet und geheiratet; / keine ist wie du, Sulamit."
Als Dichter - berichtet Paul Auster - habe Charles Reznikoff davon geträumt, zu Fuß durch das Land zu gehen und an Synagogen entlang des Wegs anzuhalten und dort aus seinen Werken vorzulesen, als Gegenleistung für Essen und Unterkunft. Reznikoff wußte Traum und Realität zu trennen. Aber wir verstehen besser, warum dieser Dichter, der von den Dingen Zeugnis ablegte, ohne ein Richter werden zu wollen, sich so unsichtbar gemacht hat. Ein Glück also, ihn jetzt entdecken zu können; in einer Übersetzung, die keinen anderen Ehrgeiz hat, als dem Dichter zu dienen. Ein Glück, daß es diesen Dichter gibt, aus dessen Werk der deutsche Leser noch viel erwarten darf. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht.
HARALD HARTUNG
"Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff". Aus dem Amerikanischen von Andrea Paluch und Robert Habeck. Europa Verlag, Hamburg und Wien 2001. 96 S., geb., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für Benedikt Erenz sind die Gedichte des hierzulande praktisch unbekannten Charles Reznikoff eine echte Entdeckung. Er vergleicht den Dichter mit so illustren Kollegen wie Emily Dickinson und William Carlos Williams, aber auch mit dem Fotografen Andre Kerzesz, der wie Reznikoff Momente sammelte, "kurze Szenen, kleine Ansprachen an die Dinge". Die Auswahl Paul Austers, der Reznikoff noch kennenlernte, zeigt den Dichter als "Mann in der Menge", nicht als Jurist oder Schriftgelehrter, der er auch gewesen ist, so Erenz, der an diesem Buch nur die "etwas fahrige" Aufmachung kritisiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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