Produktdetails
- Verlag: Frankfurt am Main : Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518032060
- Artikelnr.: 26159778
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.07.2018Strahlenwind,
Büßerschnee
Paul Celan in einer „Neuen
kommentierten Gesamtausgabe“
Und jetzt noch mal ein Buch mit mehr als 1200 Seiten, eng bedruckt, nur mit Kommentaren zu einzelnen Stellen in den Gedichten Paul Celans! Es ist ein Phänomen, wie viel in den letzten beiden Jahrzehnten aus dem Nachlass dieses Schriftstellers herausgegeben worden ist. Er ist der am häufigsten interpretierte und der am umfassendsten edierte Lyriker des 20. Jahrhunderts. Das Motiv für dieses lang anhaltende Interesse liegt bestimmt darin, dass Celan mit seiner frühen „Todesfuge“ das berühmteste Gedicht deutscher Sprache im 20. Jahrhundert geschrieben hat. Vielerorts hat man ihn mit diesem Gedicht gleichgesetzt und ihn zum Lyriker des deutschen Massenmords an den Juden gemacht, ihn als Opfer, Heiligen und Märtyrer gleichermaßen stilisiert – was ihm selbst keineswegs behagte.
Andererseits gilt Celan, vor allem mit seinem Spätwerk, als ungemein hermetisch und schwer verständlich. Das Faszinosum liegt wohl in der Reibung, die aus diesen verschiedenen Zuweisungen entsteht.
Dabei ist Celan zum hart umkämpften Schauplatz von Wissenschaftsinteressen geworden, und der Zugang zum Nachlass war von Anfang an schwierigen Bedingungen unterworfen. Es gibt eine dichte Gemengelage von unter anderem zwei historisch-kritischen Celan-Editionen – die Bonner Ausgabe seit 1990 und die Tübinger Ausgabe seit 1999, und es wäre auch bei keinem anderen Dichter seit 1945 vorstellbar, ihm eine vergleichbare „kommentierte Gesamtausgabe“ zu widmen wie die, die nunmehr vorliegt. Jedes einzelne Gedicht Celans wird hier mit Anmerkungen versehen, und in vielen Fällen erklären sie Worte, die nicht sofort durchschaubar sind – so, wenn der oft spezifisch geologische Hintergrund von Celans Bildern erläutert wird: „Tischfelsen“ etwa, „Strahlenwind“ oder „Büßerschnee“ (Schnee- und Gletscherfelder, bei denen durch Sonneneinwirkung nur einzelne Säulen stehen bleiben).
Bereits 2003 kam ein erster Kommentarband der Herausgeberin Barbara Wiedemann heraus. Seitdem sind viele neue Quellen erschlossen worden, 58 Gedichte sind hinzugekommen, vor allem aber sind inzwischen die zentralen Briefwechsel Celans sowie persönliche Erinnerungen erschienen.
Das 2010 veröffentlichte Buch von Brigitta Eisenreich etwa, einer langjährigen geheimen Geliebten Celans, machte auf ungeahnte Weise Gedichte wie „Schuttkahn“ in ihrem Entstehungsprozess durchsichtig: es war ihr Wort für die flachen großen Kähne auf der Seine, die man von ihrem Fenster aus sehen konnte. Und Celans Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann klärte nicht zuletzt die Umstände, die zum Gedicht „Köln, Am Hof“ führten: es thematisiert die ungestüme Liebesnacht bei der zufälligen Wiederbegegnung der beiden Lyriker nach einer langen Trennung. Die Größe dieses Gedichts besteht aber auch darin, dass es nicht mit plumpen sexuellen Anspielungen arbeitet, auch wenn das jetzt manchmal suggeriert wird – darauf legt der Kommentar der Herausgeberin Wert.
Wo Barbara Wiedemann sich auf die genaue Textgenese, auf konkrete Fakten wie Wörterbücher und Notizen Celans beschränkt, ist ihr Kommentar sehr hilfreich. Allerdings greift sie manchmal auch darüber hinaus, und das ist trotz des objektiven Gestus mitunter streitbar. So hat Celans Gedicht „Corona“ mit Rilkes „Herbsttag“ keinerlei Gemeinsamkeiten, auch wenn die Herausgeberin Rilkes „Herr: es ist Zeit“ und Celans „es ist Zeit, dass man weiß!“ aufeinander beziehen möchte. Wiedemann, Privatdozentin in Tübingen, bekam von der Familie Celans schon früh den Auftrag, den Celan-Nachlass für den deutschsprachigen Raum auszuwerten, und wie sie dieses Privileg nutzt, ist nicht unumstritten geblieben. Oft spürt man eine Art Überidentifikation mit ihrem Gegenstand. So musste sich etwa der alte Peter Rühmkorf, der sich in den Fünfzigerjahren als junger Wilder auch gegen den in seinen Augen bereits etablierten Celan zu profilieren versuchte, erbittert gegen bestimmte Insinuationen von ihr wehren. Am fragwürdigsten waren Wiedemanns subjektiven Wertungen, als sie Celans Beziehung zu dem durch den Nationalsozialismus kompromittierten Rolf Schroers überschätzte – die Bedeutung des Briefwechsels Celan-Schroers setzte sie sogar mit derjenigen des Briefwechsels Celan-Bachmann gleich.
Ihre Gedichtkommentare bieten jedoch durch Verweise auf die jeweils aktuelle Zeitungslektüre Celans und durch die auffällig akribischen Archivrecherchen viele neue Aufschlüsse im Detail. Manchmal würde man allerdings gern genauer wissen, wem sie bestimmte Erkenntnisse verdankt (ist es wirklich die Entdeckung der Herausgeberin, den für Celan wichtigen Terminus des „Zeithofs“ auf Husserl zu beziehen?), andernorts verweist sie auf durchaus belanglose Aufsätze. Gelegentlich wird ein jenseits üblicher akademischer Zitierkartelle noch radikalisiertes Freund-Feind-Denken erkennbar. Trotzdem ist der Band auf jeden Fall von praktischem Nutzen.
HELMUT BÖTTIGER
Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1261 Seiten, 78 Euro.
„Schuttkahn“ war ihr Wort
für die flachen,
großen Kähne auf der Seine
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Büßerschnee
Paul Celan in einer „Neuen
kommentierten Gesamtausgabe“
Und jetzt noch mal ein Buch mit mehr als 1200 Seiten, eng bedruckt, nur mit Kommentaren zu einzelnen Stellen in den Gedichten Paul Celans! Es ist ein Phänomen, wie viel in den letzten beiden Jahrzehnten aus dem Nachlass dieses Schriftstellers herausgegeben worden ist. Er ist der am häufigsten interpretierte und der am umfassendsten edierte Lyriker des 20. Jahrhunderts. Das Motiv für dieses lang anhaltende Interesse liegt bestimmt darin, dass Celan mit seiner frühen „Todesfuge“ das berühmteste Gedicht deutscher Sprache im 20. Jahrhundert geschrieben hat. Vielerorts hat man ihn mit diesem Gedicht gleichgesetzt und ihn zum Lyriker des deutschen Massenmords an den Juden gemacht, ihn als Opfer, Heiligen und Märtyrer gleichermaßen stilisiert – was ihm selbst keineswegs behagte.
Andererseits gilt Celan, vor allem mit seinem Spätwerk, als ungemein hermetisch und schwer verständlich. Das Faszinosum liegt wohl in der Reibung, die aus diesen verschiedenen Zuweisungen entsteht.
Dabei ist Celan zum hart umkämpften Schauplatz von Wissenschaftsinteressen geworden, und der Zugang zum Nachlass war von Anfang an schwierigen Bedingungen unterworfen. Es gibt eine dichte Gemengelage von unter anderem zwei historisch-kritischen Celan-Editionen – die Bonner Ausgabe seit 1990 und die Tübinger Ausgabe seit 1999, und es wäre auch bei keinem anderen Dichter seit 1945 vorstellbar, ihm eine vergleichbare „kommentierte Gesamtausgabe“ zu widmen wie die, die nunmehr vorliegt. Jedes einzelne Gedicht Celans wird hier mit Anmerkungen versehen, und in vielen Fällen erklären sie Worte, die nicht sofort durchschaubar sind – so, wenn der oft spezifisch geologische Hintergrund von Celans Bildern erläutert wird: „Tischfelsen“ etwa, „Strahlenwind“ oder „Büßerschnee“ (Schnee- und Gletscherfelder, bei denen durch Sonneneinwirkung nur einzelne Säulen stehen bleiben).
Bereits 2003 kam ein erster Kommentarband der Herausgeberin Barbara Wiedemann heraus. Seitdem sind viele neue Quellen erschlossen worden, 58 Gedichte sind hinzugekommen, vor allem aber sind inzwischen die zentralen Briefwechsel Celans sowie persönliche Erinnerungen erschienen.
Das 2010 veröffentlichte Buch von Brigitta Eisenreich etwa, einer langjährigen geheimen Geliebten Celans, machte auf ungeahnte Weise Gedichte wie „Schuttkahn“ in ihrem Entstehungsprozess durchsichtig: es war ihr Wort für die flachen großen Kähne auf der Seine, die man von ihrem Fenster aus sehen konnte. Und Celans Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann klärte nicht zuletzt die Umstände, die zum Gedicht „Köln, Am Hof“ führten: es thematisiert die ungestüme Liebesnacht bei der zufälligen Wiederbegegnung der beiden Lyriker nach einer langen Trennung. Die Größe dieses Gedichts besteht aber auch darin, dass es nicht mit plumpen sexuellen Anspielungen arbeitet, auch wenn das jetzt manchmal suggeriert wird – darauf legt der Kommentar der Herausgeberin Wert.
Wo Barbara Wiedemann sich auf die genaue Textgenese, auf konkrete Fakten wie Wörterbücher und Notizen Celans beschränkt, ist ihr Kommentar sehr hilfreich. Allerdings greift sie manchmal auch darüber hinaus, und das ist trotz des objektiven Gestus mitunter streitbar. So hat Celans Gedicht „Corona“ mit Rilkes „Herbsttag“ keinerlei Gemeinsamkeiten, auch wenn die Herausgeberin Rilkes „Herr: es ist Zeit“ und Celans „es ist Zeit, dass man weiß!“ aufeinander beziehen möchte. Wiedemann, Privatdozentin in Tübingen, bekam von der Familie Celans schon früh den Auftrag, den Celan-Nachlass für den deutschsprachigen Raum auszuwerten, und wie sie dieses Privileg nutzt, ist nicht unumstritten geblieben. Oft spürt man eine Art Überidentifikation mit ihrem Gegenstand. So musste sich etwa der alte Peter Rühmkorf, der sich in den Fünfzigerjahren als junger Wilder auch gegen den in seinen Augen bereits etablierten Celan zu profilieren versuchte, erbittert gegen bestimmte Insinuationen von ihr wehren. Am fragwürdigsten waren Wiedemanns subjektiven Wertungen, als sie Celans Beziehung zu dem durch den Nationalsozialismus kompromittierten Rolf Schroers überschätzte – die Bedeutung des Briefwechsels Celan-Schroers setzte sie sogar mit derjenigen des Briefwechsels Celan-Bachmann gleich.
Ihre Gedichtkommentare bieten jedoch durch Verweise auf die jeweils aktuelle Zeitungslektüre Celans und durch die auffällig akribischen Archivrecherchen viele neue Aufschlüsse im Detail. Manchmal würde man allerdings gern genauer wissen, wem sie bestimmte Erkenntnisse verdankt (ist es wirklich die Entdeckung der Herausgeberin, den für Celan wichtigen Terminus des „Zeithofs“ auf Husserl zu beziehen?), andernorts verweist sie auf durchaus belanglose Aufsätze. Gelegentlich wird ein jenseits üblicher akademischer Zitierkartelle noch radikalisiertes Freund-Feind-Denken erkennbar. Trotzdem ist der Band auf jeden Fall von praktischem Nutzen.
HELMUT BÖTTIGER
Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1261 Seiten, 78 Euro.
„Schuttkahn“ war ihr Wort
für die flachen,
großen Kähne auf der Seine
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2018Von der Stehkneipe zur Schneekneipe
Die neue Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans verbindet den Epochenzusammenhang mit der Werkwelt
Bevor die Menschen vernünftig wurden, war das Gedicht noch Gebet oder Zauberspruch: Das ist einer von den frommen Sätzen, mit denen die Neuzeit so tut, als könnte sie das, was ihre Vorzeit glauben musste, jetzt sorglos aufgeklärt als Kunst genießen. Wohin aber, wenn nicht in eine okkulte Liturgie, gehören Wendungen wie "durchs Schüttelsieb schick ich den Traum" oder "der Tod ist eine Blume, die blüht ein einzig Mal"? Im Ritenraum der Logenbruderschaft mag man so etwas sagen, in der Kirche auch, im Tempel. Der Widerwille gegen jeden von funktionalen Mitteilungskonventionen allzu weit abgerückten ästhetischen Modernismus (nicht nur der politisch motivierte wie beim bekannten Nazi-Affekt gegen "entartete Kunst") macht es sich da bekanntlich einfach: Solche Sätze, findet er, gehören ins Irrenhaus. Gehören sie aber, wenn man so ungnädig und phantasielos wie dieser Widerwille denn doch nicht sein will, stattdessen in den Literaturkanon?
Der ausgezeichnete Kommentar einer neuen Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans macht über einige Texte mit Titeln wie "Redewände", "Verwaist" oder "Kleide die Worthöhlen aus" traurige Angaben: "Entstehung: Paris, Psychiatrische Universitätsklinik, 2. 5. 1967." An manchen Tagen waren es gleich mehrere Gedichte, die an diesem Ort entstanden.
Gemüts- und Geisteskrankheiten sind in der Neuzeit nicht untypisch für Lyrikschaffende: Ezra Pound, Antipode Celans in vielerlei Dimensionen, sperrte man ins Sanatorium für beschädigte Seelen, weil man den Amerikaner sonst als Hetzer gegen den Westen und die Juden hätte wegen Hoch- und Landesverrat hinrichten müssen. Friedrich Hölderlin wütete im Wahn gegen die "Kamalattasprache" der modernen Freiheit zum Klartext. Das Genie der Unica Zürn floh vor der Künstlerinnenrolle in die Klinik und vor der Klinik in die Künstlerinnenrolle, bis sie ihr Leben selbst beendete. Es gibt offenbar gar nicht so selten obsessiv sprachnahe Naturen, die nicht mitreden wollen oder können, wenn die Gegenwart sich selbstgefällig Vernunft bescheinigt.
Wer diese Menschen mit Foucault, Deleuze und Guattari aus der medizinischen Verwaltung befreien will, treibt, weil sie auch außerhalb der strengen Institutionen leiden, Wunschdenken auf einem Niveau, das tief unter ihrer Not liegt: Verständnis und Wohlwollen nützen ihnen gar nichts, denn ihre Arbeit und ihre Existenz handeln von etwas tatsächlich schwer Verständlichem, das subjektives Wohl und Wehe gleichermaßen übersteigt. Aufs Versprechen der Befreiung (etwa aus einer Anstalt) und die Frage, wo sie wohl lieber wären, müssten sie antworten wie Celan, wenn der im Gedicht "Ich höre, die Axt hat geblüht" über einen Ort, der ihn lockt oder ängstigt (ganz klar ist das nicht), nur sagt, er höre, jener Ort sei "unnennbar".
Der kluge Übersetzer Michael Hamburger gibt das mit "I hear, the place is not nameable" wieder, aber im Englischen ist das Adjektiv "unnameable" noch nicht zu einem ununterscheidbaren Ineinander zweier Qualitäten verblasst, nämlich a.) derjenigen von etwas, das keinen Namen hat, und b.) derjenigen, bei der man von etwas nicht reden kann, weder mit Namen noch mit Verben, Adjektiven, Ausrufen - "unnennbarer Schmerz" heißt ja auch nicht platt, dass es für eine Qual noch keinen medizinischen Fachausdruck gibt oder man ihn vergessen hat, sondern dass man einen Tatbestand aus Celans werkbeherrschenden Stoff- und Themenkomplex ansprechen will. Dessen immer mitgedichtete Leseanweisung heißt: "Ich sage dir, dass man das, was ich dir sage, nicht sagen kann." Das Magnetfeld dieser paradoxen Behauptung ist so stark, dass es in der neuen (und gerade in solchen Effekten unübertrefflich guten) Gesamtausgabe sogar das editorische Material affiziert: Nüchterne Rubrikennamen wie "nicht aufgenommene Gedichte" oder "verstreute Gedichte" wirken auf einmal wie originäre Formulierungen Celans, obwohl sie nur über den philologischen Textstatus Auskunft geben wollen.
Celan hat nicht nur Kunst, sondern auch Kitsch geschrieben. Nicht immer, nicht oft, aber wohl unvermeidlicherweise: Kitsch war hier Kollateralschaden der Unmöglichkeit, den angestrebten hohen Ton zu treffen, der nötig ist, um das magische Denken der Vorzeit ins poetische Spiel der Neuzeit zu retten, wenn das denn in einer Sprache geschehen soll, die man zuerst aus ihrem Alltag lösen muss, weil in diesem das, was die Neuzeit von der Vorzeit unterscheiden soll, die Vernunft, geschändet wurde wie in keiner anderen: In dieser Sprache hat man Verbrechen gerechtfertigt, befohlen, koordiniert, die jeden Gedanken von Vernunftgeschichte, von Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, der Wahrheitsfindung und Kunsterziehung in ihren blutigen Dreck treten.
Kitsch entsteht in den Künsten immer dann, wenn ein Kunstwerk ein grundsätzliches ästhetisches Problem hat, es aber nicht lösen kann oder will. Kitsch ist die Sahne, die Leute ins Essen schütten, die nicht kochen können, aber glauben, sie könnten den Geschmack mit Hilfe der Sahne darüber betrügen. Celans Kitsch geschieht ihm, wo er Angst hat, die Worte könnten ihm anbrennen, wo sie den größten vorstellbaren Horror sagen sollen. Damit ist Celans Kitsch ein neuer, kein traditioneller. Denn im traditionellen Kitsch wird Stimmung gemacht oder eine pathetische Rechtgläubigkeit beschworen, es gibt in diesem Bannkreis künstlerischer Dummheit sentimentalen, patriotischen, religiösen Kitsch und so fort. Sie alle rühren einen Affekt in die Kunst, der von einer Armut, einem ungelösten Verhältnis zwischen Stoff, Thema und Form ablenken soll. Bei Celan ist der Kitsch aber weder Stimmung noch Gesinnung, sondern eine Qual, die sich der Lyriker nicht ersparen kann, weil er zu klug ist, zu glauben, was der Modernismus vor Hitler geglaubt hatte: dass das Hermetische und Esoterische an sich eine unfehlbare Versicherung der Kunst gegen Kitsch sei.
Nach dem Zusammenbruch aller abendländischen Zivilisationsvereinbarungen zeigte sich, dass der Bruch mit den Selbstverständlichkeiten der Kommunikation, den der Modernismus so schätzte, nicht nur die Selbstberuhigung der an Unrecht oder Blödheit angepassten Sentimentalen oder anders Gedankenarmen stören kann, sondern leider seinerseits zu solcher Selbstberuhigung taugt: "Man kann die Welt nicht verstehen" ist als mieser Stoßseufzer sozialer Indolenz, die sich nicht ändern will, ebenso geeignet wie als Anklage dieser Indolenz. (Wenn zwei Pfeifenraucher sich darüber streiten, wem von ihnen eine angeblich gestohlene Pfeife gehört, kann der Hermetikspießer mit seinem Missverständnis des berühmtesten Bildes von Magritte als lachender Dritter die Parteinahme verweigern: "Das ist vielleicht gar keine Pfeife, niemand kann sagen, was eine Pfeife ist, bla bla bla . . .")
Wer nicht versteht, dass Fremdartigkeit in der Kunst eine Kritik allzu schmal geratener Weltauffassung ist, also ihrerseits weder ausgestellter Erfahrungsinhalt noch ästhetisierte Weltanschauung, genießt an fremdartiger Kunst nur den ewigen Erfahrungszweifel der Denkfaulen. Dem jedoch hat gerade Celan ebenso sehr misstraut wie dem Gequatsche des Kunstnormalverbrauchers von Erbauung und Kontemplation - so sehr wie dem Bericht, dem Protokoll, der Nachricht und sogar dem Gedicht, wenn es nicht von ihm war: Seine Antwort an Brecht, der mahnte, man müsse auf das Totgeschwiegene achten, war eine geniale Erinnerung daran, dass ein banales Gespräch das Wichtige nicht nur aussparen, sondern auch totlabern kann ("weil es soviel Gesagtes / mit einschließt").
Ein paar Verse aus dem "Schneepart"-Werkkreis wenden solches Misstrauen gegen die gegebene Sprache in puren Sprachwitz: "Lila Luft mit gelben Fensterflecken, / der Jakobsstab überm Anhalter Trumm, / Kokelstunde, noch nichts / Interkurrierendes, / von der / Stehkneipe zur / Schneekneipe." Der Schlussreim ist lustig, aber kein Robert-Gernhardt-Scherz, weil's das Wort "Schneekneipe" nur in diesem Gedicht gibt, nicht im Normdeutsch. Viele tolle Stellen bei Celan sind so: für unfreiwillige Komik zu offensichtlich ausgefuchst, für direkte Komik zu gravitätisch, für Kitsch zu analytisch, vor allem aber nicht kokett genug für alle drei, denn Kitsch und Komik (auch unfreiwillige) wollen immer irgendwem gefallen. Celan dagegen wendet sich denen, die er anredet oder andichtet, gerade nicht zu, sondern dreht sich (manchmal linkisch, manchmal beleidigt, manchmal verzweifelt) umständlich weg. Die berühmten Briefe an Ingeborg Bachmann sollte einmal jemand unter diesem Gesichtspunkt mit denen an die Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange vergleichen: Einerseits sind die Mühen sehr verschieden, andererseits ist jedes Werben um jemanden für Celan eine Mühe, der man das Mitleid nur versagen kann, wenn man noch nie um wen hat werben müssen.
Die Herausgeberin und Kommentatorin der neuen Gedichtgesamtausgabe, Barbara Wiedemann, war vor zehn Jahren auch an der Edition der Bachmannbriefe beteiligt, hat vor siebzehn Jahren die Gisèle-Lestrange-Celan-Briefe ediert und vor achtzehn Jahren die Dokumentation der schlimmsten Kränkung und größten Katastrophe im Werkleben des Dichters publiziert, "Paul Celan - Die Goll-Affäre." Wiedemanns tiefe Kenntnis der wechselseitigen Störungen und Nährkreisläufe zwischen Biographie und Schaffen bettet beide jetzt in einen Zusammenhang, der zugleich dichtungsgeschichtlich allgemeinbedeutend und einzigartig ist, in Schwerverständlichkeit, Kunst, Schönheit, Kitsch, Kraft und Hilflosigkeit einer Sammlung seltsamer Texte, die wissen, dass man weder mit dem Natürlichen (dem Regen, der Sonne oder der Weltraumkälte, denen wir egal sind) noch mit dem Übernatürlichen reden kann, sondern nur mit anderen Redenden.
Wenn diese anderen glauben, sie wären vernünftig, es aber gar nicht sind, wird das Gespräch so anstrengend wie das Gedicht. Aber was soll man sonst versuchen als Gespräche und Gedichte, wenn man die Menschen nun mal nicht aufgeben will?
DIETMAR DATH
Paul Celan: "Die Gedichte". Neue kommentierte Gesamtausgabe.
Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1262 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die neue Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans verbindet den Epochenzusammenhang mit der Werkwelt
Bevor die Menschen vernünftig wurden, war das Gedicht noch Gebet oder Zauberspruch: Das ist einer von den frommen Sätzen, mit denen die Neuzeit so tut, als könnte sie das, was ihre Vorzeit glauben musste, jetzt sorglos aufgeklärt als Kunst genießen. Wohin aber, wenn nicht in eine okkulte Liturgie, gehören Wendungen wie "durchs Schüttelsieb schick ich den Traum" oder "der Tod ist eine Blume, die blüht ein einzig Mal"? Im Ritenraum der Logenbruderschaft mag man so etwas sagen, in der Kirche auch, im Tempel. Der Widerwille gegen jeden von funktionalen Mitteilungskonventionen allzu weit abgerückten ästhetischen Modernismus (nicht nur der politisch motivierte wie beim bekannten Nazi-Affekt gegen "entartete Kunst") macht es sich da bekanntlich einfach: Solche Sätze, findet er, gehören ins Irrenhaus. Gehören sie aber, wenn man so ungnädig und phantasielos wie dieser Widerwille denn doch nicht sein will, stattdessen in den Literaturkanon?
Der ausgezeichnete Kommentar einer neuen Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans macht über einige Texte mit Titeln wie "Redewände", "Verwaist" oder "Kleide die Worthöhlen aus" traurige Angaben: "Entstehung: Paris, Psychiatrische Universitätsklinik, 2. 5. 1967." An manchen Tagen waren es gleich mehrere Gedichte, die an diesem Ort entstanden.
Gemüts- und Geisteskrankheiten sind in der Neuzeit nicht untypisch für Lyrikschaffende: Ezra Pound, Antipode Celans in vielerlei Dimensionen, sperrte man ins Sanatorium für beschädigte Seelen, weil man den Amerikaner sonst als Hetzer gegen den Westen und die Juden hätte wegen Hoch- und Landesverrat hinrichten müssen. Friedrich Hölderlin wütete im Wahn gegen die "Kamalattasprache" der modernen Freiheit zum Klartext. Das Genie der Unica Zürn floh vor der Künstlerinnenrolle in die Klinik und vor der Klinik in die Künstlerinnenrolle, bis sie ihr Leben selbst beendete. Es gibt offenbar gar nicht so selten obsessiv sprachnahe Naturen, die nicht mitreden wollen oder können, wenn die Gegenwart sich selbstgefällig Vernunft bescheinigt.
Wer diese Menschen mit Foucault, Deleuze und Guattari aus der medizinischen Verwaltung befreien will, treibt, weil sie auch außerhalb der strengen Institutionen leiden, Wunschdenken auf einem Niveau, das tief unter ihrer Not liegt: Verständnis und Wohlwollen nützen ihnen gar nichts, denn ihre Arbeit und ihre Existenz handeln von etwas tatsächlich schwer Verständlichem, das subjektives Wohl und Wehe gleichermaßen übersteigt. Aufs Versprechen der Befreiung (etwa aus einer Anstalt) und die Frage, wo sie wohl lieber wären, müssten sie antworten wie Celan, wenn der im Gedicht "Ich höre, die Axt hat geblüht" über einen Ort, der ihn lockt oder ängstigt (ganz klar ist das nicht), nur sagt, er höre, jener Ort sei "unnennbar".
Der kluge Übersetzer Michael Hamburger gibt das mit "I hear, the place is not nameable" wieder, aber im Englischen ist das Adjektiv "unnameable" noch nicht zu einem ununterscheidbaren Ineinander zweier Qualitäten verblasst, nämlich a.) derjenigen von etwas, das keinen Namen hat, und b.) derjenigen, bei der man von etwas nicht reden kann, weder mit Namen noch mit Verben, Adjektiven, Ausrufen - "unnennbarer Schmerz" heißt ja auch nicht platt, dass es für eine Qual noch keinen medizinischen Fachausdruck gibt oder man ihn vergessen hat, sondern dass man einen Tatbestand aus Celans werkbeherrschenden Stoff- und Themenkomplex ansprechen will. Dessen immer mitgedichtete Leseanweisung heißt: "Ich sage dir, dass man das, was ich dir sage, nicht sagen kann." Das Magnetfeld dieser paradoxen Behauptung ist so stark, dass es in der neuen (und gerade in solchen Effekten unübertrefflich guten) Gesamtausgabe sogar das editorische Material affiziert: Nüchterne Rubrikennamen wie "nicht aufgenommene Gedichte" oder "verstreute Gedichte" wirken auf einmal wie originäre Formulierungen Celans, obwohl sie nur über den philologischen Textstatus Auskunft geben wollen.
Celan hat nicht nur Kunst, sondern auch Kitsch geschrieben. Nicht immer, nicht oft, aber wohl unvermeidlicherweise: Kitsch war hier Kollateralschaden der Unmöglichkeit, den angestrebten hohen Ton zu treffen, der nötig ist, um das magische Denken der Vorzeit ins poetische Spiel der Neuzeit zu retten, wenn das denn in einer Sprache geschehen soll, die man zuerst aus ihrem Alltag lösen muss, weil in diesem das, was die Neuzeit von der Vorzeit unterscheiden soll, die Vernunft, geschändet wurde wie in keiner anderen: In dieser Sprache hat man Verbrechen gerechtfertigt, befohlen, koordiniert, die jeden Gedanken von Vernunftgeschichte, von Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, der Wahrheitsfindung und Kunsterziehung in ihren blutigen Dreck treten.
Kitsch entsteht in den Künsten immer dann, wenn ein Kunstwerk ein grundsätzliches ästhetisches Problem hat, es aber nicht lösen kann oder will. Kitsch ist die Sahne, die Leute ins Essen schütten, die nicht kochen können, aber glauben, sie könnten den Geschmack mit Hilfe der Sahne darüber betrügen. Celans Kitsch geschieht ihm, wo er Angst hat, die Worte könnten ihm anbrennen, wo sie den größten vorstellbaren Horror sagen sollen. Damit ist Celans Kitsch ein neuer, kein traditioneller. Denn im traditionellen Kitsch wird Stimmung gemacht oder eine pathetische Rechtgläubigkeit beschworen, es gibt in diesem Bannkreis künstlerischer Dummheit sentimentalen, patriotischen, religiösen Kitsch und so fort. Sie alle rühren einen Affekt in die Kunst, der von einer Armut, einem ungelösten Verhältnis zwischen Stoff, Thema und Form ablenken soll. Bei Celan ist der Kitsch aber weder Stimmung noch Gesinnung, sondern eine Qual, die sich der Lyriker nicht ersparen kann, weil er zu klug ist, zu glauben, was der Modernismus vor Hitler geglaubt hatte: dass das Hermetische und Esoterische an sich eine unfehlbare Versicherung der Kunst gegen Kitsch sei.
Nach dem Zusammenbruch aller abendländischen Zivilisationsvereinbarungen zeigte sich, dass der Bruch mit den Selbstverständlichkeiten der Kommunikation, den der Modernismus so schätzte, nicht nur die Selbstberuhigung der an Unrecht oder Blödheit angepassten Sentimentalen oder anders Gedankenarmen stören kann, sondern leider seinerseits zu solcher Selbstberuhigung taugt: "Man kann die Welt nicht verstehen" ist als mieser Stoßseufzer sozialer Indolenz, die sich nicht ändern will, ebenso geeignet wie als Anklage dieser Indolenz. (Wenn zwei Pfeifenraucher sich darüber streiten, wem von ihnen eine angeblich gestohlene Pfeife gehört, kann der Hermetikspießer mit seinem Missverständnis des berühmtesten Bildes von Magritte als lachender Dritter die Parteinahme verweigern: "Das ist vielleicht gar keine Pfeife, niemand kann sagen, was eine Pfeife ist, bla bla bla . . .")
Wer nicht versteht, dass Fremdartigkeit in der Kunst eine Kritik allzu schmal geratener Weltauffassung ist, also ihrerseits weder ausgestellter Erfahrungsinhalt noch ästhetisierte Weltanschauung, genießt an fremdartiger Kunst nur den ewigen Erfahrungszweifel der Denkfaulen. Dem jedoch hat gerade Celan ebenso sehr misstraut wie dem Gequatsche des Kunstnormalverbrauchers von Erbauung und Kontemplation - so sehr wie dem Bericht, dem Protokoll, der Nachricht und sogar dem Gedicht, wenn es nicht von ihm war: Seine Antwort an Brecht, der mahnte, man müsse auf das Totgeschwiegene achten, war eine geniale Erinnerung daran, dass ein banales Gespräch das Wichtige nicht nur aussparen, sondern auch totlabern kann ("weil es soviel Gesagtes / mit einschließt").
Ein paar Verse aus dem "Schneepart"-Werkkreis wenden solches Misstrauen gegen die gegebene Sprache in puren Sprachwitz: "Lila Luft mit gelben Fensterflecken, / der Jakobsstab überm Anhalter Trumm, / Kokelstunde, noch nichts / Interkurrierendes, / von der / Stehkneipe zur / Schneekneipe." Der Schlussreim ist lustig, aber kein Robert-Gernhardt-Scherz, weil's das Wort "Schneekneipe" nur in diesem Gedicht gibt, nicht im Normdeutsch. Viele tolle Stellen bei Celan sind so: für unfreiwillige Komik zu offensichtlich ausgefuchst, für direkte Komik zu gravitätisch, für Kitsch zu analytisch, vor allem aber nicht kokett genug für alle drei, denn Kitsch und Komik (auch unfreiwillige) wollen immer irgendwem gefallen. Celan dagegen wendet sich denen, die er anredet oder andichtet, gerade nicht zu, sondern dreht sich (manchmal linkisch, manchmal beleidigt, manchmal verzweifelt) umständlich weg. Die berühmten Briefe an Ingeborg Bachmann sollte einmal jemand unter diesem Gesichtspunkt mit denen an die Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange vergleichen: Einerseits sind die Mühen sehr verschieden, andererseits ist jedes Werben um jemanden für Celan eine Mühe, der man das Mitleid nur versagen kann, wenn man noch nie um wen hat werben müssen.
Die Herausgeberin und Kommentatorin der neuen Gedichtgesamtausgabe, Barbara Wiedemann, war vor zehn Jahren auch an der Edition der Bachmannbriefe beteiligt, hat vor siebzehn Jahren die Gisèle-Lestrange-Celan-Briefe ediert und vor achtzehn Jahren die Dokumentation der schlimmsten Kränkung und größten Katastrophe im Werkleben des Dichters publiziert, "Paul Celan - Die Goll-Affäre." Wiedemanns tiefe Kenntnis der wechselseitigen Störungen und Nährkreisläufe zwischen Biographie und Schaffen bettet beide jetzt in einen Zusammenhang, der zugleich dichtungsgeschichtlich allgemeinbedeutend und einzigartig ist, in Schwerverständlichkeit, Kunst, Schönheit, Kitsch, Kraft und Hilflosigkeit einer Sammlung seltsamer Texte, die wissen, dass man weder mit dem Natürlichen (dem Regen, der Sonne oder der Weltraumkälte, denen wir egal sind) noch mit dem Übernatürlichen reden kann, sondern nur mit anderen Redenden.
Wenn diese anderen glauben, sie wären vernünftig, es aber gar nicht sind, wird das Gespräch so anstrengend wie das Gedicht. Aber was soll man sonst versuchen als Gespräche und Gedichte, wenn man die Menschen nun mal nicht aufgeben will?
DIETMAR DATH
Paul Celan: "Die Gedichte". Neue kommentierte Gesamtausgabe.
Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1262 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main