Paul Gerhardt (1607-1676), Pfarrer und Lieddichter, hat auch nach 400 Jahren große Bedeutung für den Glauben und das Leben zahlreicher Menschen. Seine Dichtungen sind Teil des Weltkulturerbes. Die Autoren des vorliegenden Bandes untersuchen mit historischen, kunstwissenschaftlichen und theologischen Fragestellungen, Paul Gerhardts Verankerung im Denken und Leben der Barockzeit, seine Rezeption in verschiedenen Jahrhunderten und seine Bedeutung für spirituelles Leben in der Gegenwart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2007Ich singe mit, wenn alles singt
Der Geist hat viele Formen: Zum 400. Geburtstag des lutherischen Lieddichters Paul Gerhardt, der weit weg ist und ganz nah
So klingt es doch ganz einfach, das Leben: „Summa, bete fleißig, studiere was Ehrliches, lebe friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich und seliglich. Amen.”
Mehr als ein Buchstabe im Nachnamen trennte den Dichter Robert Gernhardt vom Verfasser dieses Lebensrezepts, als ihm, dem Krebskranken, das willige, fröhliche und seligliche Sterben gerade nicht so einfach gelingen mochte. In seinem letzten Gedichtband hat Gernhardt, der im vergangenen Jahr starb, sich eines der berühmtesten Lieder des wirkungsvollsten aller deutschen geistlichen Dichter vorgenommen. Unter der Überschrift „Geh aus mein Herz, oder: Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie” findet sich eine Umdichtung, von der wir drei Strophen anführen:
Geh aus mein Herz und suche Leid
in dieser lieben Sommerszeit
an deines Gottes Gaben.
Schau an der schönen Gifte Zier
und siehe, wie sie hier und mir
sich aufgereihet haben.
Die Lerche schwingt sich in die Luft.
Der Kranke bleibt in seiner Kluft
und zählt die dunklen Stunden.
Die hochbezahlte Medizin
tropft aus der Flasch’ und rinnt in ihn.
Im Licht gehn die Gesunden.
Ich selber möchte nichts als ruhn.
Des großen Gottes großes Tun
ist für mich schlicht Getue.
Ich schweige still, wo alles singt
und lasse ihn, da Zorn nichts bringt,
nun meinerseits in Ruhe.
Der Elende hat alles Recht, anstelle der „Gärten” und der „hochbegabten Nachtigall” des Originals nur „Gifte” zu sehen und nicht mitzusingen, „wenn alles singt”. Aber im Hadern mit der Gemeinheit der Krankheit ist Robert Gernhardt auch ein bisschen gemein zu Paul Gerhardt gewesen. Ist dieser doch weit davon entfernt zu behaupten, das Leben sei nichts als ein erhebender Spaziergang durch die Natur. Im Gegenteil, Gerhardts 139 erhaltene deutsche Gedichte sind notorisch voll von Vergegenwärtigungen des menschlichen Jammertals, das sich zwar, so die Mahnung, durch Glaubenskraft und geduldige Annahme mit einiger Zuversicht durchlaufen lässt, aus dem man aber vor allem erlöst werden will.
Ganz fremd ist Paul Gerhardt ein ruheloses, schwärmendes Aufweisen des Wundervollen in der Welt, das dann der, dem es schlecht geht, wie einen Hohn empfinden müsste. So heißt es in einem Passionslied gerade: „So find ich bei dir meine Ruh / Als auf dem Bett ein Kranker.” Und gar trotzig dichtet Gerhardt in dem Lied „Ich hab oft bei mir selbst gedacht”:
Nun, es ist wahr, es steht uns hier
Die Trübsal täglich vor der Tür,
Und findt ein jeder überall
Des Kreuzes Not und bittre Gall.
Sollt aber drum der Christen Licht
Ganz nichts mehr sein? Das glaub ich nicht.
Es versteht sich, dass allen Heutigen, denen jenes Christenlicht tatsächlich nichts mehr ist, all der gute göttliche Sinn des Üblen in unserem Dasein nicht mehr einleuchtet. Für Robert Gernhardt ist der Tod der Sieger, er wird, wie es an anderer Stelle heißt, „durch nichts erweicht” – für Paul Gerhardt jedoch ist Christus „des Todes Tod”. Die beiden Positionen sind nicht versöhnbar. Indes, bei so viel Kreuz und Galle, wovon zu singen dem Dichter zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges seine Glaubenshaltung und seine Lebenserfahrung sonst aufgeben, sollte man doch für sein Sommerlied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud” eher dankbar sein: dankbar, dass es hier einmal anders gewendet ist.
Denn während oft, selbst in Liedern des frohen Gotteslobs, die Ewigkeitshoffnung den schlimmen Ärger im Leben tröstend überwinden soll, geht in den fünfzehn Strophen dieses Liedes das Argument so: Wenn es hier im Leben schon so schön ist – so schön, wie es in der Epoche des Erwachens der deutschsprachigen Dichtung von Paul Gerhardt besungen werden kann –, wie soll es denn dann erst im Himmel werden? Und selbst wem diese Dichtung reine Fiktion ist, der wird, ob lesend oder singend, von der Anmut ihrer Gestalt erfasst.
Als der Lieddichter und Pfarrer Paul Gerhardt im Jahre 1676 selber starb, teilte der Rat der Stadt Lübben im Spreewald, wo er seine letzte Pfarrstelle innehatte, der Öffentlichkeit mit, dass „Gott der Allerhöchste unsern lieben Archidiakonum Paul Gerhardten vor 14 Tagen von dieser mühseligen Welt selig abgefordert und in sein himmlisches Freudenreich transferieret habe”. So einfach jedenfalls, wie es in der „Summa” des eingangs zitierten sogenannten Testaments für seinen Sohn klingt, und so einfach, wie sich die Lerche in die Luft schwingt, war das Leben nicht, in das Paul Gerhardt vor 400 Jahren, am 12. März 1607, hineingeboren wurde.
Er war mit 14 Jahren Vollwaise; seine Heimatstadt Gräfenheinichen in der Nähe von Wittenberg wurde 1637 von den Schweden ausgeplündert und von der Pest heimgesucht, an der sein Bruder Christian starb; als Vater verlor er vier von fünf Kindern; und gerade in der Zeit des Amtsverzichts, zu dem er aus Gewissensgründen von seinem Kurfürsten genötigt war, starb auch seine Ehefrau Anna Maria. Er, der so viele über die Jahrhunderte mit der scheinbar kunstlosen Tiefe seiner Verse getröstet hat, wusste, wovon er dichtete:
Noch dennoch musst du drum nicht ganz
In Traurigkeit versinken,
Gott wird des süßen Trostes Glanz
Schon wieder lassen blinken.
Und doch stand dieser Paul Gerhardt unter seinen Zeitgenossen kaum da als ein exzeptionell vom Unglück geschlagener. Es waren ja für alle harte Zeiten. Immerhin konnte der Sohn ehrbarer Bürger aus Gräfenheinichen das lutherisch-humanistisch geprägte Internat in Grimma als Selbstzahler besuchen, neben St. Afra und Schulpforta eine der sächsischen Fürstenschulen, die in der Reformationszeit gegründet worden waren. Aber es war insgesamt eine kleine, unannehmliche Welt, durch die der fromme, elternlose Mann seine weiteren Schritte lenkte. Krieg, Krankheit, Armut, Entvölkerung bildeten die Szenerie; als Gerhardt nach dem Studium in Wittenberg aus Sachsen als Hauslehrer in die Doppelstadt Berlin und Cölln kam, in die brandenburgische Residenzstadt, war diese auf unter 10 000 Bewohner dezimiert. Erst Friedrich Wilhelm, später der „Große Kurfürst” genannt – er kam zufällig gleichzeitig mit Gerhardt im Jahr 1643 wieder nach Berlin – brachte langsam einen gewissen Aufschwung für das künftige Zentrum preußischer Größe.
In den folgenden Jahren hat Paul Gerhardt Kontakte geknüpft und sich einen gewissen Namen gemacht; 1647 druckte der Kantor an der Nikolaikirche Johann Crüger in seinem Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica” erstmals achtzehn Lieder Gerhardts, mit Melodien, die Crüger zugeordnet oder selbst komponiert hatte. Darunter waren bereits spätere Klassiker wie das Abendlied „Nun ruhen alle Wälder”. Zum Ende des Dreißigjährigen Krieges schrieb Gerhardt in hohem Ton sein „Danklied für die Verkündigung des Friedens”. Als er jedoch 1751, mit 44 Jahren, dem lutherischen Bekenntnis seine Treue gelobte und seine erste Pfarrstelle antrat, gelangte er von Berlin als Propst nach Mittenwalde, in ein mitgenommenes Provinznest mit allenfalls 700 oder 800 Seelen.
Wahrhaft ärmlich also war das Äußere dieser kursächsischen und brandenburgischen Welt. Dahinter aber brodelte seit einigen Jahrzehnten ein geistiger Erfindungsreichtum und Enthusiasmus, der Theologie und weltliche Künste gleichermaßen erfasste. Dies war eine Bewegung, welche maßgeblich die bekannte, von Heinz Schlaffer vor einigen Jahren zugespitzt vergegenwärtigte Verquickung von deutscher Dichtung und Protestantismus beflügelt hat. Ein scholastisch gewordenes, „orthodoxes” Luthertum erfuhr zu dieser Zeit teils von innen, teils von außen Impulse hin zu einer intensivierten, lebensnäheren, stärker innerlichen Frömmigkeit. In diese Richtung wirkte der Theologe Johann Arndt, der Anfang des 17. Jahrhunderts mit seinen „Vier Büchern vom wahren Christentum” und seinem „Paradiesgärtlein” echte religiöse Bestseller produzierte, die auch Paul Gerhardt stark beeinflussten.
Das war ein „Pietismus” im weiteren Sinne – Pietismus als Aufruf zu individueller, auch mystisch vertiefter Glaubenserfahrung, aber noch ohne die Hoffnung auf ein Reich Gottes auf Erden und die gesteigerte Glaubensgemeinschaft, welche die Bewegung dieses Namens später kennzeichnete, und noch ohne das sozialreformerische Ausgreifen der Pietisten um August Hermann Francke, welches sich später der preußische Staat dienstbar machen sollte.
Mit diesem geistlichen Erbauungs- und Erneuerungsstreben traf sich die eifrige Nachholaktion der deutschen Literatur im Wettstreit mit den fortgeschrittenen Nationalliteraturen im Süden und Westen Europas. Als Paul Gerhardt sich 1628 an der Wittenberger Universität einschrieb, war dort, im Zentrum der lutherischen Orthodoxie, beides da. Der Poetiklehrer August Buchner setzte sich für die Lehren seines Freundes Martin Opitz ein, der mit seinem „Buch von der deutschen Poeterey” von 1624 eine Initialzündung für die Dichtung in deutscher Sprache gegeben hatte.
Opitz forderte unter anderem das Zusammengehen der Betonungen im Vers mit den natürlichen Betonungen der Wörter, und er schrieb, man solle „nicht vermeinen, dass unser Land unter einer so rauen und ungeschlachten Luft liege, dass es nicht eben dergleichen zu der Poesie tüchtige Ingenia könne tragen als irgend ein anderer Ort unter der Sonnen.”
Das Motiv, das Deutsche zu einer geschmeidigen Dichtersprache zu formen, taucht selbstreflexiv immer wieder in der aufblühenden Barockdichtung auf; jener August Buchner in Wittenberg, Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft” zur Förderung der deutschen Poesie, lobte einen Dichterkollegen, der Biblisches in deutsche Gedichte gebracht hatte, mit den Worten: „Der Leser lobt’s und spricht : Wohl dir, geschickte Hand, / Du ehrest Gott zugleich / und zierst dein Vaterland .” Und auch bei Gerhardt findet sich dieser nationalpoetische Gedanke, etwa in seinem Friedenslied:
Wohlauf und nimm nun wieder
Dein Saitenspiel hervor,
O Deutschland, und sing Lieder
Im hohen vollen Chor.
Oder in dem vierstrophigen Gedicht „David sang in seiner Sprachen”, dessen zweite Strophe so lautet:
Wir, die wir in Deutschland wohnen,
Singen David fröhlich nach,
Ehren Gott mit unsrer Sprach’
Auf des Psalters schönsten Tönen.
Hierzu weckt Gott manchen Mann –
jeder macht’s, so gut er kann.
Während von Leuten wie August Buchner eine immer vielfältigere, expressive, experimentier- und metaphernfreudige Verskunst angestoßen wurde, gingen nebenan in der theologischen Fakultät Gelehrsamkeit und Bibelfrömmigkeit umgekehrt ihren Bund mit der Sprach- und Liedkunst ein. Zu Gerhardts Wittenberger Zeit lehrte, predigte und dichtete der Professor Paul Röber, und er leitete die Vielfalt sprachlicher Kunstformen aus der Bibel selbst ab: Zeigte sich ihm darin doch, dass „der Heilige Geist jene Mysterien nicht immer in derselben Form vorgetragen hat, sondern bald in der Form eines Briefes, bald in der eines Liedes, bald in einer Parabel oder Allegorie, bald in Geschichten oder Gesetzen, bald in Prosa oder Poesie”.
Aus dieser doppelten Schule der Formen und der Verkündigung schöpften die Dichter des barocken Kirchengesangs, unter denen Paul Gerhardt durch seine Popularität hervorsticht, ihre reichen, oft langen Lieder für die private Andacht und den Gemeindegottesdienst. Sie trugen zur Bildung eines zwar bildstarken, aber zugleich echten, innigen Tones der deutschen Poesie bei – und zwar dadurch, dass sie die überbordenden Girlanden der profanen Dichtung mit ihren adelsmäßigen Galanterien oder kryptischen Verschrobenheiten im Lied für den gewöhnlichen Gläubigen vermeiden mussten. Gerhardt ist ein Meister dieses klaren, direkten, unprätentiösen Sprachklangs, der bei der weltlichen Dichtung in seinem Königsberger Zeitgenossen Simon Dach einen Verwandten hat.
Die Literaturforschung hat mit Recht darauf hingewiesen, dass dieser zuweilen geradezu kindliche Gerhardt-Ton nicht einfach frommer Inspiration entspringt, sondern auch einem formalen Bewusstsein und der Lehre der Zeit, wonach sich das Kirchenlied allzu üppiger rhetorischer Ausschmückung zu enthalten hatte. Aber man kann es mit dieser Sichtweise auch übertreiben: Wenn früher, in ergriffener Rezeption, zu viel von Eingebung und ungekünstelter Volkstümlichkeit die Rede war, so sollte man Paul Gerhardt heute nicht zum reinen Exekutor einer barocken Regelpoetik des schlichten Tons machen. Dafür zeigen schon die bekannteren, kanonischen Lieder von „Ich singe dir mit Herz und Mund” bis „Ich steh an deiner Krippen hier” – 27 Gerhardt-Texte stehen heute noch im evangelischen Gesangbuch –, dafür zeigt erst recht sein Gesamtschaffen eine viel zu große formale Bandbreite; und dafür war Gerhardt ein viel zu frommer Prediger, der fühlte, was er sagte. Und keineswegs schrieb Gerhardt nur „schlicht” und „rein”, während anderswo barocker „Schwulst” und „Drastik” herrschten. Er konnte so dichten:
Menschliches Wesen,
Was ist’s? Gewesen.
In einer Stunde
Geht es zu Grunde,
Sobald das Lüftlein des Todes drein bläst.
Alles in allem
Muss brechen und fallen,
Himmel und Erden,
Die müssen das werden,
Was sie vor ihrer Erschöpfung gewest.
Aber es konnte auch so klingen:
Sprich deinen milden Segen
Zu allen unsern Wegen,
Lass Großen und auch Kleinen
Die Gnadensonne scheinen.
Und es finden sich bei Gerhardt auch drastische Stellen, etwa wenn er „Eiter, Striemen, Kot und Stank” unseres Lebens besingt; interessant ist auch der Blick in den vollständigen, siebenteiligen Zyklus, in dem das bekannte, durch Bach verewigte „O Haupt voll Blut und Wunden” nur den letzten, siebten Teil bildet. Hier werden, einem mittelalterlichen Vorbild folgend, die verschiedenen Körperteile des gekreuzigten Christus meditativ besungen, und das vierte Lied, der seitlichen Wunde des Heilands gewidmet, ist voll von der krassesten Blut- und Jesus-Mystik, die man sich nur denken kann: Der Gläubige will in die Wunde hineinkriechen und zugleich das austretende „Blut und Wasser” aufnehmen: „Eröffne dich, du liebe Wund, / Und lass mein Herze trinken!” Und der göttliche Körpersaft wird dann zu „lauter Zucker”. Das ist nicht der Paul Gerhardt, der mit „Breit aus die Flügel beide” Eingang in die bürgerlichen Kinderzimmer fand.
So bereitwillig Paul Gerhardt aber solche mystischen Elemente aufnahm und die „Synthese von Frömmigkeitsbewegung und Orthodoxie” (Martin Brecht) leistete, so klar waren für ihn doch die kirchlichen, konfessionellen Bekenntnisgrundlagen. Es war diese Standfestigkeit, die ihm im Berliner Kirchenstreit mit dem Großen Kurfürsten von 1664 an für einige Jahre eine oppositionelle Prominenz in einem ansonsten unspektakulären äußeren Leben verschaffte.
Das Herrscherhaus der Hohenzollern hatte sich, anders als seine lutherischen Untertanen, 1613 zum calvinistischen, „reformierten” Glauben bekannt. Durch Verpflichtungen und Unterschriften wollte dann Friedrich Wilhelm der lutherischen Geistlichkeit ein Stillhalten gegenüber seiner Bevorzugung der Reformierten in Kirche und Verwaltung aufzwingen. Man hat von einem „Maulkorberlass” gesprochen; der Kurfürst, der aus ökonomischen Gründen calvinistische Einwanderer anlocken wollte, nannte es „Toleranz”.
Gerhardt, inzwischen Pfarrer an der Berliner Hauptkirche St. Nikolai, hielt dies für unvereinbar mit seinem abgelegten Bekenntnis und sah sich gezwungen, sein Amt aufzugeben, obgleich das Berliner Bürgertum mit dem Magistrat gegen den absolutistischen Kurfürsten auf seiner Seite war. Zur selben Zeit publizierte Johann Georg Ebeling, der Nachfolger Johann Crügers als Nikolai-Kantor, die erste Einzelausgabe von Liedern Gerhardts, die „Geistlichen Andachten”. Als Pfarrer ist Gerhardt dann auf eine Stelle in Lübben ausgewichen, das damals nicht brandenburgisch, sondern kursächsisch war, also lutherisch regiert.
Paul Gerhardt, der sein Dichten gewiss nie als Beitrag zur „Literatur” verstand, hat es geschafft, jahrhundertelang über alle Stationen des Kirchenjahres hin gesungen zu werden, vom Advent („Wie soll ich dich empfangen?”) bis zum Totensonntag. So hat er eine bemerkenswerte kulturelle Langzeitwirkung entfaltet, bis hin zu einem Auftritt als Romanfigur bei Günter Grass. Gerhardts Texte sitzen vielerorts noch ganz tief, auch wenn der Glaube und die einst für die einzelne Seele alles entscheidenden Gegensätze des konfessionellen Zeitalters ihre Inbrunst verloren haben; die Melodien seiner Lieder summen mit im musikalischen Gedächtnis, auch wenn in Deutschland nur wenige noch Lieder singen.
Als Senator Thomas Buddenbrook bei Thomas Mann auf dem Totenbett liegt, da stimmt seine Schwester Tony die letzte Strophe von Gerhardts „Befiehl du deine Wege” an. Aber nach vier Versen fällt ihr der restliche Text nicht mehr ein. Das ist die Situation im Gedenken an den 400. Geburtstag: Gerhardt ist präsent, auch als Gestalter unserer Sprache, aber die Moderne hat der kultischen Vertrautheit ihre Selbstverständlichkeit genommen. Paul Gerhardt ist weit weg, und dann ist er wieder ganz nah. Allerspätestens dann: „Wenn ich einmal soll scheiden”. JOHAN SCHLOEMANN
Ausgewählte Literatur
PAUL GERHARDT: Wach auf, mein Herz und singe. Vollständige Ausgabe seiner Lieder und Gedichte. Hrsg. von Eberhard von Cranach-Sichart. 3. Auflage. R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 2007. 429 S., 16,95 Euro.
WINFRIED BÖTTLER (Hrsg.): Paul Gerhardt. Erinnerung und Gegenwart. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Frank und Timme Verlag, Berlin 2006. 179 Seiten, 24,80 Euro.
CHRISTIAN BUNNERS: Paul Gerhardt. Weg, Werk, Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007 (Neuauflage). 320 Seiten, 29,90 Euro.
ELKE AXMACHER: Johann Arndt und Paul Gerhardt. A. Francke Verlag, Tübingen 2001. 353 Seiten, 43 Euro.
Einige Texte und weiteres Material finden sich im Internet unter der Adresse www.paul-gerhardt-jahr.de – dort sind auch die zahlreichen Veranstaltungen zum Gerhardt-Jubiläumsjahr 2007 aufgeführt.
Die erste Einzelausgabe der „Geistlichen Andachten” (1667) Foto: oh
Im brandenburgischen Mittenwalde hatte Paul Gerhardt (1607-1676), der Dichter von „O Haupt voll Blut und Wunden”, seine erste Pfarrstelle. In der St. Moritz-Kirche von Mittenwalde hängt dieses Porträt aus dem Jahre 1829. Die Malerin Emma Matthieu hat es dem älteren Bildnis aus dem 17. Jahrhundert nachempfunden, das in der heute nach Paul Gerhardt benannten Kirche in dem Spreewaldstädtchen Lübben hängt. Dort, in Lübben, hatte Gerhardt seine letzte Wirkungsstätte. Zuvor war er wegen konfessioneller Streitigkeiten vom Großen Kurfürsten zum Verzicht auf seine Stelle an der Nikolaikirche in Berlin genötigt worden. Foto: Vandenhoeck & Ruprecht
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Der Geist hat viele Formen: Zum 400. Geburtstag des lutherischen Lieddichters Paul Gerhardt, der weit weg ist und ganz nah
So klingt es doch ganz einfach, das Leben: „Summa, bete fleißig, studiere was Ehrliches, lebe friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich und seliglich. Amen.”
Mehr als ein Buchstabe im Nachnamen trennte den Dichter Robert Gernhardt vom Verfasser dieses Lebensrezepts, als ihm, dem Krebskranken, das willige, fröhliche und seligliche Sterben gerade nicht so einfach gelingen mochte. In seinem letzten Gedichtband hat Gernhardt, der im vergangenen Jahr starb, sich eines der berühmtesten Lieder des wirkungsvollsten aller deutschen geistlichen Dichter vorgenommen. Unter der Überschrift „Geh aus mein Herz, oder: Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie” findet sich eine Umdichtung, von der wir drei Strophen anführen:
Geh aus mein Herz und suche Leid
in dieser lieben Sommerszeit
an deines Gottes Gaben.
Schau an der schönen Gifte Zier
und siehe, wie sie hier und mir
sich aufgereihet haben.
Die Lerche schwingt sich in die Luft.
Der Kranke bleibt in seiner Kluft
und zählt die dunklen Stunden.
Die hochbezahlte Medizin
tropft aus der Flasch’ und rinnt in ihn.
Im Licht gehn die Gesunden.
Ich selber möchte nichts als ruhn.
Des großen Gottes großes Tun
ist für mich schlicht Getue.
Ich schweige still, wo alles singt
und lasse ihn, da Zorn nichts bringt,
nun meinerseits in Ruhe.
Der Elende hat alles Recht, anstelle der „Gärten” und der „hochbegabten Nachtigall” des Originals nur „Gifte” zu sehen und nicht mitzusingen, „wenn alles singt”. Aber im Hadern mit der Gemeinheit der Krankheit ist Robert Gernhardt auch ein bisschen gemein zu Paul Gerhardt gewesen. Ist dieser doch weit davon entfernt zu behaupten, das Leben sei nichts als ein erhebender Spaziergang durch die Natur. Im Gegenteil, Gerhardts 139 erhaltene deutsche Gedichte sind notorisch voll von Vergegenwärtigungen des menschlichen Jammertals, das sich zwar, so die Mahnung, durch Glaubenskraft und geduldige Annahme mit einiger Zuversicht durchlaufen lässt, aus dem man aber vor allem erlöst werden will.
Ganz fremd ist Paul Gerhardt ein ruheloses, schwärmendes Aufweisen des Wundervollen in der Welt, das dann der, dem es schlecht geht, wie einen Hohn empfinden müsste. So heißt es in einem Passionslied gerade: „So find ich bei dir meine Ruh / Als auf dem Bett ein Kranker.” Und gar trotzig dichtet Gerhardt in dem Lied „Ich hab oft bei mir selbst gedacht”:
Nun, es ist wahr, es steht uns hier
Die Trübsal täglich vor der Tür,
Und findt ein jeder überall
Des Kreuzes Not und bittre Gall.
Sollt aber drum der Christen Licht
Ganz nichts mehr sein? Das glaub ich nicht.
Es versteht sich, dass allen Heutigen, denen jenes Christenlicht tatsächlich nichts mehr ist, all der gute göttliche Sinn des Üblen in unserem Dasein nicht mehr einleuchtet. Für Robert Gernhardt ist der Tod der Sieger, er wird, wie es an anderer Stelle heißt, „durch nichts erweicht” – für Paul Gerhardt jedoch ist Christus „des Todes Tod”. Die beiden Positionen sind nicht versöhnbar. Indes, bei so viel Kreuz und Galle, wovon zu singen dem Dichter zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges seine Glaubenshaltung und seine Lebenserfahrung sonst aufgeben, sollte man doch für sein Sommerlied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud” eher dankbar sein: dankbar, dass es hier einmal anders gewendet ist.
Denn während oft, selbst in Liedern des frohen Gotteslobs, die Ewigkeitshoffnung den schlimmen Ärger im Leben tröstend überwinden soll, geht in den fünfzehn Strophen dieses Liedes das Argument so: Wenn es hier im Leben schon so schön ist – so schön, wie es in der Epoche des Erwachens der deutschsprachigen Dichtung von Paul Gerhardt besungen werden kann –, wie soll es denn dann erst im Himmel werden? Und selbst wem diese Dichtung reine Fiktion ist, der wird, ob lesend oder singend, von der Anmut ihrer Gestalt erfasst.
Als der Lieddichter und Pfarrer Paul Gerhardt im Jahre 1676 selber starb, teilte der Rat der Stadt Lübben im Spreewald, wo er seine letzte Pfarrstelle innehatte, der Öffentlichkeit mit, dass „Gott der Allerhöchste unsern lieben Archidiakonum Paul Gerhardten vor 14 Tagen von dieser mühseligen Welt selig abgefordert und in sein himmlisches Freudenreich transferieret habe”. So einfach jedenfalls, wie es in der „Summa” des eingangs zitierten sogenannten Testaments für seinen Sohn klingt, und so einfach, wie sich die Lerche in die Luft schwingt, war das Leben nicht, in das Paul Gerhardt vor 400 Jahren, am 12. März 1607, hineingeboren wurde.
Er war mit 14 Jahren Vollwaise; seine Heimatstadt Gräfenheinichen in der Nähe von Wittenberg wurde 1637 von den Schweden ausgeplündert und von der Pest heimgesucht, an der sein Bruder Christian starb; als Vater verlor er vier von fünf Kindern; und gerade in der Zeit des Amtsverzichts, zu dem er aus Gewissensgründen von seinem Kurfürsten genötigt war, starb auch seine Ehefrau Anna Maria. Er, der so viele über die Jahrhunderte mit der scheinbar kunstlosen Tiefe seiner Verse getröstet hat, wusste, wovon er dichtete:
Noch dennoch musst du drum nicht ganz
In Traurigkeit versinken,
Gott wird des süßen Trostes Glanz
Schon wieder lassen blinken.
Und doch stand dieser Paul Gerhardt unter seinen Zeitgenossen kaum da als ein exzeptionell vom Unglück geschlagener. Es waren ja für alle harte Zeiten. Immerhin konnte der Sohn ehrbarer Bürger aus Gräfenheinichen das lutherisch-humanistisch geprägte Internat in Grimma als Selbstzahler besuchen, neben St. Afra und Schulpforta eine der sächsischen Fürstenschulen, die in der Reformationszeit gegründet worden waren. Aber es war insgesamt eine kleine, unannehmliche Welt, durch die der fromme, elternlose Mann seine weiteren Schritte lenkte. Krieg, Krankheit, Armut, Entvölkerung bildeten die Szenerie; als Gerhardt nach dem Studium in Wittenberg aus Sachsen als Hauslehrer in die Doppelstadt Berlin und Cölln kam, in die brandenburgische Residenzstadt, war diese auf unter 10 000 Bewohner dezimiert. Erst Friedrich Wilhelm, später der „Große Kurfürst” genannt – er kam zufällig gleichzeitig mit Gerhardt im Jahr 1643 wieder nach Berlin – brachte langsam einen gewissen Aufschwung für das künftige Zentrum preußischer Größe.
In den folgenden Jahren hat Paul Gerhardt Kontakte geknüpft und sich einen gewissen Namen gemacht; 1647 druckte der Kantor an der Nikolaikirche Johann Crüger in seinem Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica” erstmals achtzehn Lieder Gerhardts, mit Melodien, die Crüger zugeordnet oder selbst komponiert hatte. Darunter waren bereits spätere Klassiker wie das Abendlied „Nun ruhen alle Wälder”. Zum Ende des Dreißigjährigen Krieges schrieb Gerhardt in hohem Ton sein „Danklied für die Verkündigung des Friedens”. Als er jedoch 1751, mit 44 Jahren, dem lutherischen Bekenntnis seine Treue gelobte und seine erste Pfarrstelle antrat, gelangte er von Berlin als Propst nach Mittenwalde, in ein mitgenommenes Provinznest mit allenfalls 700 oder 800 Seelen.
Wahrhaft ärmlich also war das Äußere dieser kursächsischen und brandenburgischen Welt. Dahinter aber brodelte seit einigen Jahrzehnten ein geistiger Erfindungsreichtum und Enthusiasmus, der Theologie und weltliche Künste gleichermaßen erfasste. Dies war eine Bewegung, welche maßgeblich die bekannte, von Heinz Schlaffer vor einigen Jahren zugespitzt vergegenwärtigte Verquickung von deutscher Dichtung und Protestantismus beflügelt hat. Ein scholastisch gewordenes, „orthodoxes” Luthertum erfuhr zu dieser Zeit teils von innen, teils von außen Impulse hin zu einer intensivierten, lebensnäheren, stärker innerlichen Frömmigkeit. In diese Richtung wirkte der Theologe Johann Arndt, der Anfang des 17. Jahrhunderts mit seinen „Vier Büchern vom wahren Christentum” und seinem „Paradiesgärtlein” echte religiöse Bestseller produzierte, die auch Paul Gerhardt stark beeinflussten.
Das war ein „Pietismus” im weiteren Sinne – Pietismus als Aufruf zu individueller, auch mystisch vertiefter Glaubenserfahrung, aber noch ohne die Hoffnung auf ein Reich Gottes auf Erden und die gesteigerte Glaubensgemeinschaft, welche die Bewegung dieses Namens später kennzeichnete, und noch ohne das sozialreformerische Ausgreifen der Pietisten um August Hermann Francke, welches sich später der preußische Staat dienstbar machen sollte.
Mit diesem geistlichen Erbauungs- und Erneuerungsstreben traf sich die eifrige Nachholaktion der deutschen Literatur im Wettstreit mit den fortgeschrittenen Nationalliteraturen im Süden und Westen Europas. Als Paul Gerhardt sich 1628 an der Wittenberger Universität einschrieb, war dort, im Zentrum der lutherischen Orthodoxie, beides da. Der Poetiklehrer August Buchner setzte sich für die Lehren seines Freundes Martin Opitz ein, der mit seinem „Buch von der deutschen Poeterey” von 1624 eine Initialzündung für die Dichtung in deutscher Sprache gegeben hatte.
Opitz forderte unter anderem das Zusammengehen der Betonungen im Vers mit den natürlichen Betonungen der Wörter, und er schrieb, man solle „nicht vermeinen, dass unser Land unter einer so rauen und ungeschlachten Luft liege, dass es nicht eben dergleichen zu der Poesie tüchtige Ingenia könne tragen als irgend ein anderer Ort unter der Sonnen.”
Das Motiv, das Deutsche zu einer geschmeidigen Dichtersprache zu formen, taucht selbstreflexiv immer wieder in der aufblühenden Barockdichtung auf; jener August Buchner in Wittenberg, Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft” zur Förderung der deutschen Poesie, lobte einen Dichterkollegen, der Biblisches in deutsche Gedichte gebracht hatte, mit den Worten: „Der Leser lobt’s und spricht : Wohl dir, geschickte Hand, / Du ehrest Gott zugleich / und zierst dein Vaterland .” Und auch bei Gerhardt findet sich dieser nationalpoetische Gedanke, etwa in seinem Friedenslied:
Wohlauf und nimm nun wieder
Dein Saitenspiel hervor,
O Deutschland, und sing Lieder
Im hohen vollen Chor.
Oder in dem vierstrophigen Gedicht „David sang in seiner Sprachen”, dessen zweite Strophe so lautet:
Wir, die wir in Deutschland wohnen,
Singen David fröhlich nach,
Ehren Gott mit unsrer Sprach’
Auf des Psalters schönsten Tönen.
Hierzu weckt Gott manchen Mann –
jeder macht’s, so gut er kann.
Während von Leuten wie August Buchner eine immer vielfältigere, expressive, experimentier- und metaphernfreudige Verskunst angestoßen wurde, gingen nebenan in der theologischen Fakultät Gelehrsamkeit und Bibelfrömmigkeit umgekehrt ihren Bund mit der Sprach- und Liedkunst ein. Zu Gerhardts Wittenberger Zeit lehrte, predigte und dichtete der Professor Paul Röber, und er leitete die Vielfalt sprachlicher Kunstformen aus der Bibel selbst ab: Zeigte sich ihm darin doch, dass „der Heilige Geist jene Mysterien nicht immer in derselben Form vorgetragen hat, sondern bald in der Form eines Briefes, bald in der eines Liedes, bald in einer Parabel oder Allegorie, bald in Geschichten oder Gesetzen, bald in Prosa oder Poesie”.
Aus dieser doppelten Schule der Formen und der Verkündigung schöpften die Dichter des barocken Kirchengesangs, unter denen Paul Gerhardt durch seine Popularität hervorsticht, ihre reichen, oft langen Lieder für die private Andacht und den Gemeindegottesdienst. Sie trugen zur Bildung eines zwar bildstarken, aber zugleich echten, innigen Tones der deutschen Poesie bei – und zwar dadurch, dass sie die überbordenden Girlanden der profanen Dichtung mit ihren adelsmäßigen Galanterien oder kryptischen Verschrobenheiten im Lied für den gewöhnlichen Gläubigen vermeiden mussten. Gerhardt ist ein Meister dieses klaren, direkten, unprätentiösen Sprachklangs, der bei der weltlichen Dichtung in seinem Königsberger Zeitgenossen Simon Dach einen Verwandten hat.
Die Literaturforschung hat mit Recht darauf hingewiesen, dass dieser zuweilen geradezu kindliche Gerhardt-Ton nicht einfach frommer Inspiration entspringt, sondern auch einem formalen Bewusstsein und der Lehre der Zeit, wonach sich das Kirchenlied allzu üppiger rhetorischer Ausschmückung zu enthalten hatte. Aber man kann es mit dieser Sichtweise auch übertreiben: Wenn früher, in ergriffener Rezeption, zu viel von Eingebung und ungekünstelter Volkstümlichkeit die Rede war, so sollte man Paul Gerhardt heute nicht zum reinen Exekutor einer barocken Regelpoetik des schlichten Tons machen. Dafür zeigen schon die bekannteren, kanonischen Lieder von „Ich singe dir mit Herz und Mund” bis „Ich steh an deiner Krippen hier” – 27 Gerhardt-Texte stehen heute noch im evangelischen Gesangbuch –, dafür zeigt erst recht sein Gesamtschaffen eine viel zu große formale Bandbreite; und dafür war Gerhardt ein viel zu frommer Prediger, der fühlte, was er sagte. Und keineswegs schrieb Gerhardt nur „schlicht” und „rein”, während anderswo barocker „Schwulst” und „Drastik” herrschten. Er konnte so dichten:
Menschliches Wesen,
Was ist’s? Gewesen.
In einer Stunde
Geht es zu Grunde,
Sobald das Lüftlein des Todes drein bläst.
Alles in allem
Muss brechen und fallen,
Himmel und Erden,
Die müssen das werden,
Was sie vor ihrer Erschöpfung gewest.
Aber es konnte auch so klingen:
Sprich deinen milden Segen
Zu allen unsern Wegen,
Lass Großen und auch Kleinen
Die Gnadensonne scheinen.
Und es finden sich bei Gerhardt auch drastische Stellen, etwa wenn er „Eiter, Striemen, Kot und Stank” unseres Lebens besingt; interessant ist auch der Blick in den vollständigen, siebenteiligen Zyklus, in dem das bekannte, durch Bach verewigte „O Haupt voll Blut und Wunden” nur den letzten, siebten Teil bildet. Hier werden, einem mittelalterlichen Vorbild folgend, die verschiedenen Körperteile des gekreuzigten Christus meditativ besungen, und das vierte Lied, der seitlichen Wunde des Heilands gewidmet, ist voll von der krassesten Blut- und Jesus-Mystik, die man sich nur denken kann: Der Gläubige will in die Wunde hineinkriechen und zugleich das austretende „Blut und Wasser” aufnehmen: „Eröffne dich, du liebe Wund, / Und lass mein Herze trinken!” Und der göttliche Körpersaft wird dann zu „lauter Zucker”. Das ist nicht der Paul Gerhardt, der mit „Breit aus die Flügel beide” Eingang in die bürgerlichen Kinderzimmer fand.
So bereitwillig Paul Gerhardt aber solche mystischen Elemente aufnahm und die „Synthese von Frömmigkeitsbewegung und Orthodoxie” (Martin Brecht) leistete, so klar waren für ihn doch die kirchlichen, konfessionellen Bekenntnisgrundlagen. Es war diese Standfestigkeit, die ihm im Berliner Kirchenstreit mit dem Großen Kurfürsten von 1664 an für einige Jahre eine oppositionelle Prominenz in einem ansonsten unspektakulären äußeren Leben verschaffte.
Das Herrscherhaus der Hohenzollern hatte sich, anders als seine lutherischen Untertanen, 1613 zum calvinistischen, „reformierten” Glauben bekannt. Durch Verpflichtungen und Unterschriften wollte dann Friedrich Wilhelm der lutherischen Geistlichkeit ein Stillhalten gegenüber seiner Bevorzugung der Reformierten in Kirche und Verwaltung aufzwingen. Man hat von einem „Maulkorberlass” gesprochen; der Kurfürst, der aus ökonomischen Gründen calvinistische Einwanderer anlocken wollte, nannte es „Toleranz”.
Gerhardt, inzwischen Pfarrer an der Berliner Hauptkirche St. Nikolai, hielt dies für unvereinbar mit seinem abgelegten Bekenntnis und sah sich gezwungen, sein Amt aufzugeben, obgleich das Berliner Bürgertum mit dem Magistrat gegen den absolutistischen Kurfürsten auf seiner Seite war. Zur selben Zeit publizierte Johann Georg Ebeling, der Nachfolger Johann Crügers als Nikolai-Kantor, die erste Einzelausgabe von Liedern Gerhardts, die „Geistlichen Andachten”. Als Pfarrer ist Gerhardt dann auf eine Stelle in Lübben ausgewichen, das damals nicht brandenburgisch, sondern kursächsisch war, also lutherisch regiert.
Paul Gerhardt, der sein Dichten gewiss nie als Beitrag zur „Literatur” verstand, hat es geschafft, jahrhundertelang über alle Stationen des Kirchenjahres hin gesungen zu werden, vom Advent („Wie soll ich dich empfangen?”) bis zum Totensonntag. So hat er eine bemerkenswerte kulturelle Langzeitwirkung entfaltet, bis hin zu einem Auftritt als Romanfigur bei Günter Grass. Gerhardts Texte sitzen vielerorts noch ganz tief, auch wenn der Glaube und die einst für die einzelne Seele alles entscheidenden Gegensätze des konfessionellen Zeitalters ihre Inbrunst verloren haben; die Melodien seiner Lieder summen mit im musikalischen Gedächtnis, auch wenn in Deutschland nur wenige noch Lieder singen.
Als Senator Thomas Buddenbrook bei Thomas Mann auf dem Totenbett liegt, da stimmt seine Schwester Tony die letzte Strophe von Gerhardts „Befiehl du deine Wege” an. Aber nach vier Versen fällt ihr der restliche Text nicht mehr ein. Das ist die Situation im Gedenken an den 400. Geburtstag: Gerhardt ist präsent, auch als Gestalter unserer Sprache, aber die Moderne hat der kultischen Vertrautheit ihre Selbstverständlichkeit genommen. Paul Gerhardt ist weit weg, und dann ist er wieder ganz nah. Allerspätestens dann: „Wenn ich einmal soll scheiden”. JOHAN SCHLOEMANN
Ausgewählte Literatur
PAUL GERHARDT: Wach auf, mein Herz und singe. Vollständige Ausgabe seiner Lieder und Gedichte. Hrsg. von Eberhard von Cranach-Sichart. 3. Auflage. R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 2007. 429 S., 16,95 Euro.
WINFRIED BÖTTLER (Hrsg.): Paul Gerhardt. Erinnerung und Gegenwart. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Frank und Timme Verlag, Berlin 2006. 179 Seiten, 24,80 Euro.
CHRISTIAN BUNNERS: Paul Gerhardt. Weg, Werk, Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007 (Neuauflage). 320 Seiten, 29,90 Euro.
ELKE AXMACHER: Johann Arndt und Paul Gerhardt. A. Francke Verlag, Tübingen 2001. 353 Seiten, 43 Euro.
Einige Texte und weiteres Material finden sich im Internet unter der Adresse www.paul-gerhardt-jahr.de – dort sind auch die zahlreichen Veranstaltungen zum Gerhardt-Jubiläumsjahr 2007 aufgeführt.
Die erste Einzelausgabe der „Geistlichen Andachten” (1667) Foto: oh
Im brandenburgischen Mittenwalde hatte Paul Gerhardt (1607-1676), der Dichter von „O Haupt voll Blut und Wunden”, seine erste Pfarrstelle. In der St. Moritz-Kirche von Mittenwalde hängt dieses Porträt aus dem Jahre 1829. Die Malerin Emma Matthieu hat es dem älteren Bildnis aus dem 17. Jahrhundert nachempfunden, das in der heute nach Paul Gerhardt benannten Kirche in dem Spreewaldstädtchen Lübben hängt. Dort, in Lübben, hatte Gerhardt seine letzte Wirkungsstätte. Zuvor war er wegen konfessioneller Streitigkeiten vom Großen Kurfürsten zum Verzicht auf seine Stelle an der Nikolaikirche in Berlin genötigt worden. Foto: Vandenhoeck & Ruprecht
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