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Autorenporträt
Werner Schüßler, geb. 1955, Dr. phil. habil., Dr. theol., seit 1991 Privatdozent für Philosophie an der Universität Trier und seit 1995 gleichzeitig Akademischer Rat für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier. 1987 Gastprofessor für Systematische Theologie an der Laval Universität in Quebec, Canada.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2007

Wie man das Chaos bändigt
Die Peitsche und der religiöse Sozialismus des Paul Tillich
Kein Geringerer als Theodor W. Adorno hat Paul Tillich, seinen Frankfurter Mentor, als „ein wandelndes System von Antennen” charakterisiert, begabt mit „fast grenzenloser Impressionabilität” und einer „selbstvergessenen Fähigkeit, andere Menschen auch auf sich einwirken zu lassen”. Dolf Sternberger sprach vom „Rausch des teilnehmenden Denkens”, den er in den Seminaren des charismatischen Menschenfängers erlebt habe. Carl Heinz Ratschow, der Doyen der deutschsprachigen Tillich-Deutungsgemeinde, machte die innere Einheit des extrem zersplitterten literarischen Werks denn auch an der „alles zusammenhaltenden Wirksamkeit der Person” fest: „Die Wirkung des Charismas Paul Tillichs blieb das Entscheidende und Verbindende in der Vielfältigkeit der Stoffe und Systemansätze”.
Stärker als bei anderen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts kommt biographischer Forschung deshalb eine konstitutive Funktion für die Werkdeutung zu. Desto mehr überrascht es, dass die Mehrheit der Tillichforscher die Mühen detektivischer lebensgeschichtlicher Spurensicherung scheut. Auch der neueste Versuch, „Leben” und „Lehre”, „Mensch” und „Denker” in eins zu sehen, stimmt in dieser Hinsicht eher depressiv. Der Münsteraner protestantische Theologe Erdmann Sturm und der römisch-katholische Religionsphilosoph Werner Schüßler haben in den letzten Jahren zwar grundlegende Editionen unpublizierter Vorlesungen, Vorträge und Essays ihres Helden vorgelegt. In der verständlichen Sorge, den Hausheiligen bloßzustellen, neigen sie jedoch zu Schönfärberei und spießbürgerlicher Banalisierung. Tillichs eitle Posen immer neuer Selbststilisierung werden affirmativ nachgestellt.
Christliche Theologen zählen gern bis drei. So ist die neue Einführung in erstens „Leben”, zweitens „Werk” und drittens „Wirkung” gegliedert. Für das „Leben” sind 22 Seiten vorgesehen, für das „Werk” hingegen 180, für die Rezeptionsgeschichte 45. Den Anspruch, dem neuesten Stand der internationalen Tillich-Forschung gerecht zu werden, lösen die Autoren insbesondere in den biographischen Passagen sowie in den allzu übersichtlich gearbeiteten rezeptionsgeschichtlichen Skizzen nicht ein. Die diskursiven Kontexte, die Tillichs hektische Sinnsuche bestimmten, treten hinter ausführliche Paraphrasen der wichtigsten Veröffentlichungen zurück. Sehr klar und übersichtlich werden jeweils die Leitbegriffe erläutert und die Gedankenführung nachgezeichnet. Tillichs theologische Genialität lag darin, den christlichen Glauben und überhaupt religiöses Bewusstsein nicht mehr in traditionellen dogmatischen Begrifflichkeiten zu erläutern, sondern eigene Formeln zu prägen, die starke Suggestivkraft entfalteten.
Sprachen andere Theologen von Gott, beschwor Tillich „das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht”. Dem „Verlust der Tiefe”, den er, gern pauschal, „der modernen westlichen Kultur” attestierte, setzte er den „Mut zum Sein” entgegen. Konstrukte wie „theonome Einheitskultur”, „heilige Leere”, „ultimate reality” und „Gott über jedem Gott” blieben so vieldeutig, dass sie von unterschiedlichen religiösen Gruppen und politischen Akteuren in Anspruch genommen werden konnten. Um die außerordentliche Wirkmächtigkeit dieser Pathosparolen zu demonstrieren, lässt Sturm häufig Tillich selbst sprechen. In seinen verlässlichen Referaten wird auch deutlich, warum Karl Barth seinem kulturtheologischen Antipoden „so großzügig geübtes Generalisieren” vorwarf.
Wer Tillichs Kulturanalysen deuten will, darf den Blick in Abgründe nicht scheuen. Mit anderen antiliberalen Theologenintellektuellen der Zwischenkriegszeit führte Tillich wortmächtig einen Entscheidungskampf gegen „den Geist der bürgerlichen Gesellschaft”, den er für den Siegeszug von „Relativismus” und „Skeptizismus”, für „Sinnverlust” und überhaupt „Anomie” verantwortlich machte. Der autoritär erzogene Pfarrerssohn spielte in den 20er Jahren die Rolle des Antibürgers auch in Erlösungskämpfen, zu deren Schauplatz zahllose Bars und Bordelle avancierten.
Nach einer ersten gescheiterten Ehe heiratete er Hannah Werner, die sich einerseits bald als lesbisch erkannte, andererseits aber eifersüchtig auf die schönen jungen Männer und wilden Tänzerinnen war, mit denen der allbetörende Paulus Entfremdung, Sinnleere und Angst zu überwinden suchte. Keineswegs nur in den frühen golden twenties, wie die Autoren suggerieren, sondern auch später noch gelang es dem weichen, einfühlsamen Paulus immer wieder, jüngere Frauen für sich zu gewinnen, die keineswegs bloß an seinen Lippen hingen.
Als hochgeachteter Professor des Union Theological Seminary in New York legte er sich mit einer seelennahen Vertrauten eine Sammlung von hard core-Pornographie an. Um deren Erregungskraft zu steigern, ließ der Großmeister des Doppellebens seine Partnerin, eine enge Freundin Hannah Arendts, dann zur schwarzen Peitsche greifen. Mit außerordentlich hoher Ambiguitätstoleranz begabt, wirkte der zutiefst Gespaltene auf seine Freunde und Freundinnen wie ein chamäleongleiches Genie immer neuer Verstellung. Man muss die Dramen dieses Lebens sehen, um die starke religiöse Sehnsucht nach letztem Halt und allumfassendem Sinn verstehen zu können. Der drogenabhängige, gewalttätige Sohn, ein ichschwacher Playboy mit zahllosen gescheiterten Beziehungen, fällt „in einem Moment von Betrunkenheit” nächtens über die eigene Mutter her. Ideenhistoriker wissen in aller Regel nicht zu sagen, ob und wie Theorieproduktion und Lebenserfahrung zusammenhängen. Aber im Falle Tillichs darf man vermuten, dass die appellative Rhetorik, das Sein sei gewichtiger als das Nichts, das Ja komme vor dem Nein oder in allen Gegensätzen sei letzte Synthese, Einheit erfahrbar, entscheidend durch existentielle Traumata stimuliert wurde. Tillich war ein Denker inständig herbeibeschworener Versöhnung.
Von den Achtundsechzigern ist Paul Tillich als Oberprophet eines „progressiven” religiösen Sozialismus gefeiert worden. Auch betonte man seine Nähe zur Frankfurter Schule. Schüßler und Sturm bieten nun zahlreiche Belege für Tillichs Distanz zur Weimarer parlamentarischen Parteiendemokratie. Dem sexuellen Chaos entsprach viel politische Irrlichterei. Der Religiöse Sozialist konnte sich nach dem Krieg zunächst für Gustav Landauers anarchischen Föderalismus begeistern, träumte 1919 aber auch von einem Bündnis der Linksparteien mit der völkischen Rechten, das eine neue religiöse Volksgemeinschaft heraufführen sollte. Die Weimarer Trennung von Staat und Kirchen lehnte er ebenso ab wie die „abstrakte Wahltechnik” des Mehrheitsprinzips. Die Demokratie sei bloß eine „Übergangserscheinung” und der parlamentarisch-demokratische Staat nur eine „Nützlichkeitsmaschine”.
Schon 1922 ruft Tillich nach einem Führer, der die vielen atomistisch isolierten einzelnen im corpus mysticum der Masse mit der Gewissheit erfüllen soll, bald vom Sinnganzen durchdrungen zu sein. „Der Führer, der Erlöser fehlt; und man fühlt: Er kann nicht von oben kommen. Er muß aus der Tiefe der Massensehnsucht geboren werden.” 1931 und 1932 tritt er als SPD-Mitglied vor SA-Führern auf, und in „Die sozialistische Entscheidung” wirbt er für eine große Koalition der Linksparteien mit den Nationalsozialisten. Selbst nach der Beurlaubung durch die neuen Machthaber im April 1933 und der zunächst vorläufigen Übernahme einer Gastprofessur in New York hegt er noch monatelang die Hoffnung, in der Berliner Theologischen Fakultät dem neuen Deutschland mit theologischem Orientierungswissen dienen zu können. Im Kampf um seine Rückkehr auf einen deutschen Lehrstuhl schreibt er am 20. Januar 1934 an den zuständigen NS-Minister in Berlin: „Ich wurde Mitbegründer des deutschen religiösen Sozialismus, allein aufgrund meiner Erfahrungen in Schützengräben und Verbandplätzen mit Mannschaften und Offizieren; habe als Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt und habe auf diese Weise den nationalsozialistischen Theoretikern einen Teil ihrer Begriffe geliefert”.
Erst in den USA öffnet sich Tillich allmählich der liberalen Demokratie, träumt zum Entsetzen Thomas Manns aber weiter von korporatistischer Gemeinwirtschaft und theonomer Durchdringung aller Kultursphären mit dem Geist heiliger Unbedingtheit.
Trotz aller Analysen von Dämonie und Abgrund, Sinnleere und Entfremdung findet sich im Spätwerk viel seichte Allversöhnungsrhetorik. In kruder Naturtheologie werden hohe alte Bäume am Starnberger See zu Offenbarungszeugen verklärt. Auch hier fassen Schüßler und Sturm prägnant die einschlägigen Texte zusammen; insbesondere der Überblick über die große dreibändige „Systematische Theologie” lässt gut erkennen, wie Tillich sprachlich originell uralte religiöse Symbole lebensdienlich, zugunsten fragiler Subjektivität auszulegen versucht. Bei den Bildunterschriften sind leider einige Verwechslungen nicht bemerkt worden. Aber das passt durchaus zu Tillich. In exzessiver Hingabeintensität erzeugte er unablässig viel Lebenschaos, das er durch religiöse Tiefenschau und theologische Gewissheitsproduktion dann zu bändigen suchte. FRIEDRICH WILHELM GRAF
WERNER SCHÜSSLER, ERDMANN STURM: Paul Tillich. Leben, Werk, Wirkung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007. 278 Seiten, 39,90 Euro.
Erlösungskämpfe tobten auch in Bars und Bordellen.
Exzessiv gab er sich dem Leben und der Tiefenschau hin.
Er war ein Denker inständig beschworener Versöhnung.
Der deutsch-amerikanische Theologe und Philosoph Paul Tillich Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Chaos des protestantischen Theologen Paul Tillich scheint nicht zu bändigen zu sein, auch nicht durch diesen Band. Anschaulich geschildert wird es durch den Theologen Friedrich Wilhelm Graf in der Kritik dieses Bandes: Es ist ein sexuelles, ein politisches, ein begriffliches und allgemeines Lebenschaos, das sich zugleich mit Charisma verband. Auch Drogen hat er genommen, Pornos gesammelt und sich von einer engen Freundin Hannah Arendts unter ständiger Prägung theologischer Grundbegriffe auspeitschen lassen. Wieviel dabei vom Theologen übrig bleibt, der von den Nazis aus den Ämtern gedrängt wurde, diese aber anflehte, weiter in Deutschland lehren zu dürfen, wird aus der Kritik Grafs nicht ganz klar. Ist das Leben Tillichs vielleicht interessanter als das Werk? Aber dem Leben Tillichs werden laut Graf im vorliegenden Band nur 22 Seiten gewidmet!

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