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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2008

Werktag für Werktag, Enttäuschung für Enttäuschung
Paula Spencer kämpft sich durch ihr Leben: Roddy Doyle erzählt vom Welt-Alltag einer Dubliner Putzfrau
Lange Jahre hat das Irland Roddy Doyles gleich nebenan gelegen. Angefangen mit seinem Debüt, dem späteren Kinoerfolg „Die Commitments”, ließen seine Romane sich immer auch als Vergegenwärtigung europäischer Wirklichkeit lesen. Doyle versenkte sich so liebevoll nuanciert in den bitter-rauen Alltag der irischen Arbeiterklasse, dass die Reihe seiner Veröffentlichungen bis Ende der neunziger Jahre eine Art Chronik zu bilden schien – eine Chronik jenes Teils der europäischen Bevölkerung nämlich, der Bücher wie die des Booker-Preisträgers Doyle schwerlich in die Hände bekommt und auch das Geld für einen Fernseher nicht immer ohne weiteres aufbringen kann.
Paula Spencer, die versehrte Heldin von Doyles neuem Roman, besitzt zwar einen Fernseher und Bücher. Aber ihr Fernseher ist Ausschussware, weitergegeben von der besserverdienenden ältesten Tochter. Und ihre paar Bücher hat Paula in Papierkörben gefunden, bei ihrem Job als Putzkraft in Großbüros, und das schon vor vielen Jahren. Sie kämpft sich nicht erst seit heute durch ein Jammerleben ohne Zukunftsperspektive. Bereits 1997 hat Roddy Doyle ihr einen Roman gewidmet, der Werktag für Werktag und Enttäuschung für Enttäuschung das trostlose Dublin einer vom Ehemann geprügelten armutsverwahrlosten Alkoholikermutter auferstehen ließ.
Paulas anfangs beschönigender, später zunehmend klirrend verzweifelter Elendsmonolog „Die Frau, die gegen Türen rannte” bildete vielleicht den bisherigen Höhepunkt von Doyles Werk, nie zuvor war er einer seiner Figuren so schonungslos zärtlich zu Leibe gerückt. Gut zehn Jahre und zwei schwächere historische Romankapriolen rund um „Henry, der Held” später ist Paula nun also zurück, jedoch beileibe nicht die Alte. Wo nämlich die vormalige Mittdreißigerin geplagt und geschunden direkt aus ihrem Leben heraus zu sprechen schien, ist Paula jetzt, im Alter von 48 Jahren, vollends zerschunden, fast schon selbst Ausschuss und Abfall wie ihr alter Fernseher und die Bücher aus den Papierkörben der Büros.
Aber es gibt sie noch, sie ist noch am Leben. Eines Abends etwa sitzt sie nach ausgestandener Arbeit vor dem Fernseher, hat den Ton ausgestellt, schaltet interesselos von Programm zu Programm. Sie döst ein, wird von ihrem jüngsten Sohn geweckt, geht sich die Zähne putzen. Sie liegt in der Mitte ihres alten Ehebetts, kämpft mit dem Schlaf, lauscht in das Haus hinein auf Geräusche ihrer Kinder: „Sie horcht. Wie lange hat sie geschlafen? Sie sieht auf die Uhr. Himmel, braucht sie jetzt noch eine Brille? Sie geht näher ran. Eine Stunde. Etwas über eine Stunde. Eine Brille. Himmel noch mal. Sie horcht.” Aus derart schleppenden Abläufen, derart verzweiflungswürdig zehrenden Alltäglichkeiten besteht „Paula Spencer” von der ersten bis zur letzten Seite. Zeit vergeht, nicht viel geschieht, aber Paula ist am Leben und bereits das grenzt an ein Wunder.
Bis zum letzten Schluck
Denn Paula war und ist Alkoholikerin. Ungebildet, von ihrem Ehemann bis zu dessen Rauswurf und nachherigem Tod wieder und wieder misshandelt und vergewaltigt, ein Kind nach dem anderen in die Welt setzend, hat sie sich über Jahrzehnte hinweg in die Bewusstlosigkeit fortgetrunken. Zu Beginn des Romans trennen sie bloß vier Monate und fünf Tage von ihrem letzten Schluck, am Ende wird ein ganzes weiteres Jahr dazugekommen sein. Betäubt stakst sie durch die Überreste ihrer Existenz, kann bisweilen kaum fassen, dass sie wieder sie selbst ist. „Eine leise Stimme in ihr sagt: Das bin ich, wie ich eine gute Tasse Kaffee trinke.”
So beobachtet Paula sich selbst, beargwöhnt und liebkost noch ihre einfachsten Regungen und Gedanken. Diese Distanz zu sich selbst aber macht „Paula Spencer” zu weit mehr als nur zu einer Fortsetzung von „Die Frau, die gegen Türen rannte”. Wo Doyle seine Protagonistin früher ihr akutes Leid in der ersten Person Singular verströmen und verplappern ließ, hat er nun mit dem beobachtenderen Stilmittel der erlebten Rede eine Perspektive gewählt, die die ganze Dumpfheit des mühsamen Weiterlebens einfängt. Noch jeder Gang in den Supermarkt, noch jeder drohende Rückfall in die Sucht und jeder Hierarchiekonflikt in der Putzkolonne wird mit derart banger Intensität wiedergegeben, dass aus der Meisterung des Alltags Würde entspringt: Würde Paulas, Würde eines oft übergangenen Sozialmilieus, Würde der Alltäglichkeit überhaupt. Paula will die Dinge wieder in die Hand nehmen. Sie führt erste zaghafte Familiengespräche über die vielen im Suff verlorenen Jahre. Sie spart sich Geld vom Mund ab, um davon Wiedergutmachungsgeschenke zu kaufen. Sie lernt schließlich sogar einen Mann kennen, der zwar ebenfalls allein, aber nicht gar so sehr aus der Bahn geschleudert ist.
Zur Akteurin ihrer Geschichte wird sie dennoch nicht, ihrem Leben bleibt sie auf scheinbar allgemeingültige Weise ausgeliefert: Menschen im schieren Kampf um Meisterung ihrer Tage und Wochen gibt es ja viele, eigentlich sind wohl alle so, und immer gäbe es wohl auch jemand anderen, der mehr Staat machen, von dem ein Roman eher handeln müsste. Als Paulas jüngster Sohn ihr seinen Computer präsentiert, gibt er schließlich – „sie wäre am liebsten weggelaufen, weil sie sich so genierte” – auch ihren Namen in das Google-Suchfeld ein. „Paula Spencer” kommt zwar auf 575 000 Treffer. Diese aber, der Leser kann es nachprüfen, gelten einer gleichnamigen anderen Frau, einem rosafarbenen Paula-Zerrbild, das ausgerechnet mit Leitfäden für glückliche Familien und gute Mutterschaft hervorgetreten ist.
In all seiner Grauheit, in seinem Mut zur unspektakulären Stumpferzählung, ist „Paula Spencer” so weit mehr als einfach nur eine europäische Milieustudie. Die Tsunami-Katastrophe, der Todeskampf des Papstes, die Brustkrebsdiagnose bei Kylie Minogue: Nicht bloß jene grell illuminierten Nachrichten des Jahres 2005 haben sich überall sedimentiert. Auch Paula selbst erscheint nach Lektüre dieses großartig unpapiernen Romans fast schon beängstigend nah und vertraut. FLORIAN KESSLER
RODDY DOYLE: Paula Spencer. Roman. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Hanser Verlag, München 2008. 303 Seiten, 21,50 Euro.
Mit dem Schlaf kämpfend: Abend in Dublin Foto: imago/Liedle
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