Produktdetails
- Verlag: Rowohlt Verlag
- ISBN-13: 9783499400230
- Artikelnr.: 24913470
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2009Man muss erst tot sein, um barmherzig zu werden
Sein Werk ist schmal, aber mit „Pedro Páramo” gelang dem Mexikaner Juan Rulfo ein Meisterwerk
Schwer zu sagen, wie viele Blätter mit literarischen Texten Juan Rulfo während seiner 68 Lebensjahre wirklich zu Papier gebracht hat. Das veröffentlichte Werk jedenfalls umfasst nur rund 300 Seiten. Die verteilen sich im Wesentlichen auf zwei schmale Bücher, den Erzählungsband „Der Llano in Flammen” und den Roman „Pedro Páramo”, die beide innerhalb weniger Jahre, zwischen 1953 und 1955, in Mexiko erschienen sind. Einen früheren Roman hat Rulfo vernichtet, einen weiteren ereilte später vermutlich das gleiche Schicksal. Zwischen 1956 und 1986, seinem Todesjahr, brachte er so gut wie gar nichts mehr heraus. Er erlebte allerdings noch den zunächst schleppenden, später rasanten Aufstieg von „Pedro Páramo”. Rulfos einziger Roman gilt heute als Klassiker der modernen lateinamerikanischen Literatur und einsamer, kühn montierter Vorläufer des magischen Realismus. Er wurde von Borges ebenso gefeiert wie von Onetti oder Fuentes, und für García Márquez, der ihn fast auswendig kannte, bedeutete „Pedro Páramo” zehn Jahre nach dem Lesen von Kafkas „Verwandlung” das zweite epiphanische Lektüreerlebnis einer jungen Schriftstellerexistenz.
„Bis heute weiß ich nicht, woher die Intuitionen kamen, denen ich ,Pedro Páramo‘ verdanke”, schrieb Rulfo 1985 in einem kurzen Text zum 30. Jubiläum der Romanveröffentlichung: „Als ich an ,Pedro Páramo‘ arbeitete, wollte ich mich nur von einer großen Angst freischreiben. Um zu schreiben, muss man wirklich leiden.” Rulfos Erinnerung steht nun neben jener von Garcia Márquez am Ende einer Neuausgabe, die der Hanser Verlag dem Buch widmet. Schon vor 50 Jahren, nur drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, brachte Hanser den damals noch ruhmlosen Roman erstmals heraus, seinerzeit übersetzt von Mariana Frenk. Jetzt hat Dagmar Ploetz Rulfos Meisterwerk neu übertragen, auf Grundlage einer aktuellen, kritischen Originalausgabe und in einem zeitgemäßeren Gestus. Das heißt: noch knapper, mit mehr Gespür für das kunstvolle Nebeneinander von archaisch-poetischer und umgangssprachlicher Form, vor allem aber: noch knochentrockener.
Der Sohn der Trostlosigkeit
Fast ausgezehrt wirkt der Stil von Anfang an. Und von Anfang an versuchte Rulfo, mit dieser Kargheit einen Kontrapunkt zu setzen zum großen Leid, dem das Buch entsprungen war und dem es irgendwie auch weiterhin zu entsprechen hatte. Es war das Leid des ländlichen, armen Mexiko, das von Gott und irdischer Gerechtigkeit gleichermaßen im Stich gelassen worden war. Rulfo kannte es von Kindesbeinen an, und nicht nur sein Vater fiel früh – hinterrücks erschossen – den archaischen Gewaltverhältnissen auf dem Land zum Opfer. Als Vollwaise kam Rulfo mit 14 Jahren nach Mexiko-Stadt, und sein erstes, abgebrochenes Romanprojekt trug später bezeichnenderweise den Titel „Der Sohn der Trostlosigkeit”. Zur Zeit von „Pedro Páramo” hätte er sich einen so dramatischen Titel nicht mehr durchgehen lassen. Stattdessen bestand seine Hauptarbeit nun darin, das erste 300-Seiten-Manuskript immer weiter zu kürzen, bis schließlich nur das Nötigste übrigblieb, der harte Kern, das furchtbare Skelett gewissermaßen.
Der Tod – darin ist Rulfo zweifellos sehr mexikanisch – agiert als zentrale Kraft, als großer Katalysator des Buches. Schon auf der ersten Seite stirbt die Mutter des Ich-Erzählers Juan Preciado. Ihr hat der Sohn noch in die bereits sich versteifende Hand hinein versprochen, nun seinen Vater Pedro Páramo suchen zu gehen. So kommt er nach Comala, ins alte Heimatdorf der Mutter. Was diese ihm wie ein Idyll beschrieben hatte, „weiß liegt es da und beleuchtet die Erde bei Nacht”, entpuppt sich bald als Geisterdorf. In dem verlassenen Flecken stößt Juan nur tröpfchenweise auf Einwohner. Und alle, stellt sich nach und nach heraus, sind längst tot und geistern bloß noch als unerlöste Seelen durch die staubigen Ruinen. Diese gespenstische Einsicht wird schon bald darauf noch einmal zugespitzt. Denn es erweist sich, dass auch Juan Preciado längst im Grab liegt. Was zunächst wie eine ordentliche Erzählung aussah, ist tatsächlich nur Teil eines losen Zwiegesprächs zwischen dem verstorbenen Sohn und einer verstorbenen Frau aus der Grube nebenan.
Mal geistern die unruhigen Seelen herum, mal wälzen sie sich nur im Grab. Stück für Stück kann man aus den Fetzen ihrer Rede die elende Geschichte des Dorfes Comala zusammensetzen, das lange Zeit beherrscht wurde vom grausamen Großgrundbesitzer Pedro Páramo. Aus dem Gemurmel erfährt man von ruchlosen Handlangern, willfährigen Mägden, gebrochenen Männern, geschändeten Frauen und einem schwachen, ewig mit der Hölle drohenden Priester.
Wie Rulfo mit scheinbar leichter Hand nicht nur große Effekte setzt, sondern überhaupt seine Figuren und Episoden entwickelt, ständig den Fokus und die Ebenen wechselnd, stets nur mit den dürrsten Andeutungen arbeitend und trotzdem sein Drama stetig über alle Fragmente hinweg verdichtend, das ist phantastisch zu verfolgen und gleichzeitig erschütternd in seiner tiefempfundenen Hoffnungslosigkeit. Auch das gehört zu den Wundern dieses kurzen Werkes: die hochmoderne Struktur, die sich über ein Netz aus vormodernen Handlungsmustern wirft und diese im bruchstückhaften Nachvollzug entblößt und zerreißt. Bei allem Mitgefühl, das Rulfo für seine geknechteten Gestalten provoziert, gestattet er keiner Figur, als tragisches Individuum so etwas wie ein individuelles Schicksal zu erleiden. Im Gegenteil geht das Dorf an einer Art Kollektiv-schicksal zugrunde. Denn niemand begehrt auf gegen das eigene Minimalleben, gegen die scheinbar unverrückbare Ordnung der Dinge, gegen das Recht des Stärkeren. Alle haben sich im Grunde schon dumpf gefügt in den Untergang des Ortes, noch bevor der Tyrann Pedro Páramo ihn überhaupt heraufbeschwört.
Voller Bitterkeit ist aller Los, und voller bitterer Ironie sind zudem die Wendungen, die Rulfo für seine Gebeutelten bereithält. Auch Páramo trifft es hart. Seine Liebste aus Kindertagen heiratet jemand anderen, und als sie, verwitwet, nach dreißig Jahren ins Dorf zurückkehrt, ist sie verrückt geworden. Páramo bringt kurzerhand ihren greisen Vater um, damit sie endlich ihm gehört, und pflegt sie dann rührend bis zu ihrem Tod, nach dem auch sein Lebenswille langsam erlischt. Am Ende ist der herzlose Herrscher der Einzige, der sich neben allem anderen auch noch ein schwaches, überfließendes Herz leisten kann. Der Pfarrer dagegen, der doch eigentlich ein ganzes Himmelreich zu versprechen hat, gibt den armen Gläubigen so wenig wie sie ihm. Vor lauter Seelengeiz teilt er keine Gnade aus. Und ohne Absolution spuken die Toten erst recht durchs leere Dorf und finden nun Zeit für jene barmherzigen Gedanken, die ihnen womöglich zu Lebzeiten nicht gekommen wären.
Und noch ein Gespenst sucht Comala heim: das der mexikanischen Revolution. Eigentlich hat sie längst gesiegt zu jener Zeit, von der „Pedro Páramo” erzählt, in den zwanziger und dreißiger Jahren. Doch bis zum Dorf ist sie offenbar nie vorgedrungen. Jetzt reichen ihre späten Scharmützel ins Buch hinein wie ein fernes Wetterleuchten von jenseits der sieben Berge. Die Motive und Interessen der streitenden Parteien bleiben dunkel, das Landvolk leidet unbeteiligt weiter.
Nur für einen hatte das Leiden offenbar ein Ende, für den Autor. Nachdem sich Rulfo den Albdruck früherer (und frühester) Sorgen einmal von der Seele geschrieben hatte, wollte oder musste offenbar kein weiteres literarisches Werk mehr wirklich aus ihm heraus. „Pedro Páramo” blieb ein Solitär, dessen Neuerungen später von anderen Autoren aufgegriffen wurden. Jener Freund, der Gabriel García Márquez das Buch zutrug, sagte: „Lies diesen Mist, zum Teufel, damit du was lernst!” Und so geschah es. MERTEN WORTHMANN
JUAN RULFO: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Hanser Verlag, München 2008. 175 Seiten, 17,90 Euro.
Zwar hätte der Pfarrer in Juan Rulfos Klassiker „Pedro Páramo” ein ganzes Himmelreich zu versprechen, doch gibt er seinen armen Gläubigen so wenig wie sie ihm. – Der Autor im Jahr 1985. Fotos: H. Armstrong Roberts/Retrofile/Getty Images; Anita Schiffer-Fuchs
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Sein Werk ist schmal, aber mit „Pedro Páramo” gelang dem Mexikaner Juan Rulfo ein Meisterwerk
Schwer zu sagen, wie viele Blätter mit literarischen Texten Juan Rulfo während seiner 68 Lebensjahre wirklich zu Papier gebracht hat. Das veröffentlichte Werk jedenfalls umfasst nur rund 300 Seiten. Die verteilen sich im Wesentlichen auf zwei schmale Bücher, den Erzählungsband „Der Llano in Flammen” und den Roman „Pedro Páramo”, die beide innerhalb weniger Jahre, zwischen 1953 und 1955, in Mexiko erschienen sind. Einen früheren Roman hat Rulfo vernichtet, einen weiteren ereilte später vermutlich das gleiche Schicksal. Zwischen 1956 und 1986, seinem Todesjahr, brachte er so gut wie gar nichts mehr heraus. Er erlebte allerdings noch den zunächst schleppenden, später rasanten Aufstieg von „Pedro Páramo”. Rulfos einziger Roman gilt heute als Klassiker der modernen lateinamerikanischen Literatur und einsamer, kühn montierter Vorläufer des magischen Realismus. Er wurde von Borges ebenso gefeiert wie von Onetti oder Fuentes, und für García Márquez, der ihn fast auswendig kannte, bedeutete „Pedro Páramo” zehn Jahre nach dem Lesen von Kafkas „Verwandlung” das zweite epiphanische Lektüreerlebnis einer jungen Schriftstellerexistenz.
„Bis heute weiß ich nicht, woher die Intuitionen kamen, denen ich ,Pedro Páramo‘ verdanke”, schrieb Rulfo 1985 in einem kurzen Text zum 30. Jubiläum der Romanveröffentlichung: „Als ich an ,Pedro Páramo‘ arbeitete, wollte ich mich nur von einer großen Angst freischreiben. Um zu schreiben, muss man wirklich leiden.” Rulfos Erinnerung steht nun neben jener von Garcia Márquez am Ende einer Neuausgabe, die der Hanser Verlag dem Buch widmet. Schon vor 50 Jahren, nur drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, brachte Hanser den damals noch ruhmlosen Roman erstmals heraus, seinerzeit übersetzt von Mariana Frenk. Jetzt hat Dagmar Ploetz Rulfos Meisterwerk neu übertragen, auf Grundlage einer aktuellen, kritischen Originalausgabe und in einem zeitgemäßeren Gestus. Das heißt: noch knapper, mit mehr Gespür für das kunstvolle Nebeneinander von archaisch-poetischer und umgangssprachlicher Form, vor allem aber: noch knochentrockener.
Der Sohn der Trostlosigkeit
Fast ausgezehrt wirkt der Stil von Anfang an. Und von Anfang an versuchte Rulfo, mit dieser Kargheit einen Kontrapunkt zu setzen zum großen Leid, dem das Buch entsprungen war und dem es irgendwie auch weiterhin zu entsprechen hatte. Es war das Leid des ländlichen, armen Mexiko, das von Gott und irdischer Gerechtigkeit gleichermaßen im Stich gelassen worden war. Rulfo kannte es von Kindesbeinen an, und nicht nur sein Vater fiel früh – hinterrücks erschossen – den archaischen Gewaltverhältnissen auf dem Land zum Opfer. Als Vollwaise kam Rulfo mit 14 Jahren nach Mexiko-Stadt, und sein erstes, abgebrochenes Romanprojekt trug später bezeichnenderweise den Titel „Der Sohn der Trostlosigkeit”. Zur Zeit von „Pedro Páramo” hätte er sich einen so dramatischen Titel nicht mehr durchgehen lassen. Stattdessen bestand seine Hauptarbeit nun darin, das erste 300-Seiten-Manuskript immer weiter zu kürzen, bis schließlich nur das Nötigste übrigblieb, der harte Kern, das furchtbare Skelett gewissermaßen.
Der Tod – darin ist Rulfo zweifellos sehr mexikanisch – agiert als zentrale Kraft, als großer Katalysator des Buches. Schon auf der ersten Seite stirbt die Mutter des Ich-Erzählers Juan Preciado. Ihr hat der Sohn noch in die bereits sich versteifende Hand hinein versprochen, nun seinen Vater Pedro Páramo suchen zu gehen. So kommt er nach Comala, ins alte Heimatdorf der Mutter. Was diese ihm wie ein Idyll beschrieben hatte, „weiß liegt es da und beleuchtet die Erde bei Nacht”, entpuppt sich bald als Geisterdorf. In dem verlassenen Flecken stößt Juan nur tröpfchenweise auf Einwohner. Und alle, stellt sich nach und nach heraus, sind längst tot und geistern bloß noch als unerlöste Seelen durch die staubigen Ruinen. Diese gespenstische Einsicht wird schon bald darauf noch einmal zugespitzt. Denn es erweist sich, dass auch Juan Preciado längst im Grab liegt. Was zunächst wie eine ordentliche Erzählung aussah, ist tatsächlich nur Teil eines losen Zwiegesprächs zwischen dem verstorbenen Sohn und einer verstorbenen Frau aus der Grube nebenan.
Mal geistern die unruhigen Seelen herum, mal wälzen sie sich nur im Grab. Stück für Stück kann man aus den Fetzen ihrer Rede die elende Geschichte des Dorfes Comala zusammensetzen, das lange Zeit beherrscht wurde vom grausamen Großgrundbesitzer Pedro Páramo. Aus dem Gemurmel erfährt man von ruchlosen Handlangern, willfährigen Mägden, gebrochenen Männern, geschändeten Frauen und einem schwachen, ewig mit der Hölle drohenden Priester.
Wie Rulfo mit scheinbar leichter Hand nicht nur große Effekte setzt, sondern überhaupt seine Figuren und Episoden entwickelt, ständig den Fokus und die Ebenen wechselnd, stets nur mit den dürrsten Andeutungen arbeitend und trotzdem sein Drama stetig über alle Fragmente hinweg verdichtend, das ist phantastisch zu verfolgen und gleichzeitig erschütternd in seiner tiefempfundenen Hoffnungslosigkeit. Auch das gehört zu den Wundern dieses kurzen Werkes: die hochmoderne Struktur, die sich über ein Netz aus vormodernen Handlungsmustern wirft und diese im bruchstückhaften Nachvollzug entblößt und zerreißt. Bei allem Mitgefühl, das Rulfo für seine geknechteten Gestalten provoziert, gestattet er keiner Figur, als tragisches Individuum so etwas wie ein individuelles Schicksal zu erleiden. Im Gegenteil geht das Dorf an einer Art Kollektiv-schicksal zugrunde. Denn niemand begehrt auf gegen das eigene Minimalleben, gegen die scheinbar unverrückbare Ordnung der Dinge, gegen das Recht des Stärkeren. Alle haben sich im Grunde schon dumpf gefügt in den Untergang des Ortes, noch bevor der Tyrann Pedro Páramo ihn überhaupt heraufbeschwört.
Voller Bitterkeit ist aller Los, und voller bitterer Ironie sind zudem die Wendungen, die Rulfo für seine Gebeutelten bereithält. Auch Páramo trifft es hart. Seine Liebste aus Kindertagen heiratet jemand anderen, und als sie, verwitwet, nach dreißig Jahren ins Dorf zurückkehrt, ist sie verrückt geworden. Páramo bringt kurzerhand ihren greisen Vater um, damit sie endlich ihm gehört, und pflegt sie dann rührend bis zu ihrem Tod, nach dem auch sein Lebenswille langsam erlischt. Am Ende ist der herzlose Herrscher der Einzige, der sich neben allem anderen auch noch ein schwaches, überfließendes Herz leisten kann. Der Pfarrer dagegen, der doch eigentlich ein ganzes Himmelreich zu versprechen hat, gibt den armen Gläubigen so wenig wie sie ihm. Vor lauter Seelengeiz teilt er keine Gnade aus. Und ohne Absolution spuken die Toten erst recht durchs leere Dorf und finden nun Zeit für jene barmherzigen Gedanken, die ihnen womöglich zu Lebzeiten nicht gekommen wären.
Und noch ein Gespenst sucht Comala heim: das der mexikanischen Revolution. Eigentlich hat sie längst gesiegt zu jener Zeit, von der „Pedro Páramo” erzählt, in den zwanziger und dreißiger Jahren. Doch bis zum Dorf ist sie offenbar nie vorgedrungen. Jetzt reichen ihre späten Scharmützel ins Buch hinein wie ein fernes Wetterleuchten von jenseits der sieben Berge. Die Motive und Interessen der streitenden Parteien bleiben dunkel, das Landvolk leidet unbeteiligt weiter.
Nur für einen hatte das Leiden offenbar ein Ende, für den Autor. Nachdem sich Rulfo den Albdruck früherer (und frühester) Sorgen einmal von der Seele geschrieben hatte, wollte oder musste offenbar kein weiteres literarisches Werk mehr wirklich aus ihm heraus. „Pedro Páramo” blieb ein Solitär, dessen Neuerungen später von anderen Autoren aufgegriffen wurden. Jener Freund, der Gabriel García Márquez das Buch zutrug, sagte: „Lies diesen Mist, zum Teufel, damit du was lernst!” Und so geschah es. MERTEN WORTHMANN
JUAN RULFO: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Hanser Verlag, München 2008. 175 Seiten, 17,90 Euro.
Zwar hätte der Pfarrer in Juan Rulfos Klassiker „Pedro Páramo” ein ganzes Himmelreich zu versprechen, doch gibt er seinen armen Gläubigen so wenig wie sie ihm. – Der Autor im Jahr 1985. Fotos: H. Armstrong Roberts/Retrofile/Getty Images; Anita Schiffer-Fuchs
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008Sensenmänner, Totenkult und Todesmystik
Juan Rulfo in neuer Übersetzung / Von Paul Ingendaay
Der Titel des einzigen Romans von Juan Rulfo (1917 bis 1986) bezeichnet den Boss, den Kaziken. Pedro Páramo ist ein mexikanischer Großgrundbesitzer, der lebt und stirbt in einem öden Dorf namens Comala. Dort hat er skrupellos seinen Reichtum gemehrt, mit verschiedenen Frauen Kinder gezeugt und den Vater seiner zweiten Frau ermorden lassen. Dort ist er den Mädchen nachgestiegen, solange er konnte, hat Guerrilleros manipuliert, damit sie seine Besitzungen verschonen, und seine Frau Susana sterben sehen. Das geschieht gegen Ende dieses schmalen Romans; der Leser begreift, dass der Tyrann nicht nur alles Böse dieser Geschichte repräsentiert, sondern durch seinen privaten Wahn auch den einzigen Lichtstrahl der Liebe. Alle anderen Figuren - der Pfarrer, der Aufseher, die schwatzenden alten Frauen - sind Gaffer und Chor für den Herrenmenschen.
Wäre der so skizzierte Plot das Wesentliche daran, Rulfos Roman hätte vielleicht respektabel sein können, aber nicht das weltberühmte Buch, das er ist. Denn "Pedro Páramo" aufzuschlagen bedeutet, in eine andere Wirklichkeit einzutreten als die, in der unsere Straßenlaternen und Wohnzimmersessel stehen. Es fängt mit täuschender Einfachheit an. Der Ich-Erzähler zieht aus, um seinen Vater zu finden, einen "gewissen" Pedro Páramo. Seine sterbende Mutter hat ihn losgeschickt. "Bettle ihn ja nicht an", trägt sie ihm auf. "Fordere, was uns zusteht. Lass ihn teuer bezahlen, dass er uns im Stich gelassen hat, mein Sohn." Doch Juan Preciado, der gehorsame Nachfahre auf der Suche nach den Ursprüngen, betritt mit dem Dorf Comala ein Geisterreich, in dem sich nur noch die Toten unterhalten. Die Erkenntnis wird uns zuteil, wie man hinter einen Spiegel schlüpft oder durch eine Falltür stürzt. Plötzlich ergreift etwas Neues vom Bewusstsein des Lesers Besitz. Die Toten reden wie Menschen, sind neugierig, sehnsuchtsvoll und klatschhaft wie sie. Ihre Geschichten allerdings sind schon lange vergangen, ihre Gebeine verwest. Sie sind zu Echoräumen geworden, durch die kollektives Gemurmel weht wie der Wind durch die Mauerritzen.
Comala, der Name des Ortes, gilt heute als Topos der lateinamerikanischen Literatur. Rulfo taucht die einsam klagenden Stimmen in eine Atmosphäre von Nebel und strömendem Regen, lauscht dem Raspeln des Holzwurms oder dem Rauschen der Stille. Er wisse nicht, woher die Eingebungen kamen, denen er seinen Roman verdanke, schrieb er dreißig Jahre später. Das reicht, man braucht nicht daran zu rühren. Aus den Schicksalen seiner Figuren baut sich das Porträt einer brutal ausgebeuteten Gegend auf, das den geborenen Skeptiker verrät.
Doch wer verkündet uns das alles, wenn auch Juan Preciado, in dem wir zunächst den Stellvertreter des Lesers vermuten, längst im Grab liegt? Rulfo besitzt so etwas wie das allgegenwärtige Gehör, ein Sensorium für die unterirdischen Regungen des Bewusstseins. Von einer Zeile auf die andere wechselt er zwischen Zeitebenen und Perspektiven, doch es wirkt nie wie der Klimmzug der Avantgarde, sondern bleibt leicht und spontan wie ein Kinderreim. "Pater Rentería sollte sich viele Jahre später an die Nacht erinnern, in der sein hartes Bett ihn wach hielt und dann ins Freie trieb": Der beschwörende Charakter dieser Sprache versetzte den jungen Gabriel García Márquez in solche Erregung, dass er Rulfos Roman so oft las, bis er ihn auswendig kannte. Nicht ganz zufällig ließ er dann seinen eigenen Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" mit der Wendung "Viele Jahre später" beginnen. Natürlich konnte ein Buch wie "Pedro Páramo" nur aus einer Gesellschaft wie der mexikanischen hervorgehen, wo Sensenmänner, Totenkult und Todesmystik zur besessenen Feier der Lebenden gehören. Auch der Autor hatte prägende Begegnungen mit dem Tod. Seine Kindheit verbrachte Rulfo in einer kargen, armen Gegend des Bundesstaats Jalisco. Als er sechs Jahre alt ist, erschießt ein Landarbeiter hinterrücks seinen Vater, vier Jahre darauf stirbt seine Mutter. Zusammen mit seinem älteren Bruder verlebt Juan vier Jahre im Waisenhaus.
Rulfos schriftstellerische Existenz grenzt an Selbstauslöschung. Was er schreibt, wandert zunächst in die Schublade; hier und da können Freunde ihm ein paar Seiten entwinden. Gelegentlich publiziert er in Zeitschriften, und aus dem Briefwechsel mit seiner Frau wissen wir, dass manche Texte im Radio gesendet wurden. In der literarischen Form seines Werks - der Erzählband "Der Llano in Flammen" (1953), "Pedro Páramo" (1955) sowie Skizzen und Drehbuchentwürfe - wiederholt sich die Geste des Sichkleinmachens, diesmal mit überwältigender ästhetischer Wirkung. Rulfos knappe, schlackenfreie Sätze klingen wie helle Hammerschläge in menschenleerer Szenerie. Wie Borges, wenn auch ohne jede Geste der Intellektualität, arbeitet Rulfo an einer spanischen Literatursprache, die nicht ihre Rhetorik ausstellt, sondern durch Klarheit und Schlichtheit schon im Augenblick ihres Entstehens klassisch wird.
Dagmar Ploetz, die erfahrene Übersetzerin von García Márquez, hat für Rulfos Lakonie und den poetischen Glanz seines Stils eine überzeugende Entsprechung gefunden. Damit nimmt man Marina Frenk, die vor fünfzig Jahren die erste Übersetzung des Buches in eine Fremdsprache vorlegte und 2004 im Alter von 106 Jahren in Mexiko-Stadt starb, nichts von ihrem Verdienst. Doch Übertragungen altern, und ein halbes Jahrhundert ist mehr, als den meisten von ihnen guttut.
Das Epochale an "Pedro Páramo" liegt auch in der sprachlichen Dichte, die der Autor durch beherzte Streichungen erzielt hatte. Mit diesem Roman hielt der "magische Realismus" in die lateinamerikanische Literatur Einzug und schuf eine mythische Literaturlandschaft auf der Höhe William Faulkners. Es ist nicht ohne Ironie, dass Rulfos erste Leser, darunter auch Kollegen, seinen Roman als "zu faulknerianisch" ablehnten, obwohl der Mexikaner seinen zwanzig Jahre älteren Kollegen aus den Südstaaten damals noch gar nicht gelesen hatte. Eine künstlerische Wesensverwandtschaft dürfte am Werk gewesen sein, mehr nicht. Beide erfanden durch Gründung eines Ortes, das Benennen der Sippe und die Beschreibung der Landschaft ein modellhaftes literarisches Universum.
"Pedro Páramo" ist mehreres in einem, eine poetische Reflexion über Erinnerung, eine Beschwörung der eigenen Vergangenheit als Gespensterkabinett, eine Metapher für die latente Gewaltbereitschaft eines Kontinents - und das Abbild einer Gesellschaft, in der die armen Seelen nicht einmal nach dem Tod Ruhe finden. Damit die erste Auflage wegging, musste Juan Rulfo übrigens viele Exemplare verschenken. Ein paar Jahre später wurde der Roman zum Bestseller und ist es bis heute geblieben.
Juan Rulfo: "Pedro Páramo". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Mit einer Nachbemerkung des Autors und einem Nachwort von Gabriel García Márquez. Carl Hanser Verlag, München 2008. 175 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Juan Rulfo in neuer Übersetzung / Von Paul Ingendaay
Der Titel des einzigen Romans von Juan Rulfo (1917 bis 1986) bezeichnet den Boss, den Kaziken. Pedro Páramo ist ein mexikanischer Großgrundbesitzer, der lebt und stirbt in einem öden Dorf namens Comala. Dort hat er skrupellos seinen Reichtum gemehrt, mit verschiedenen Frauen Kinder gezeugt und den Vater seiner zweiten Frau ermorden lassen. Dort ist er den Mädchen nachgestiegen, solange er konnte, hat Guerrilleros manipuliert, damit sie seine Besitzungen verschonen, und seine Frau Susana sterben sehen. Das geschieht gegen Ende dieses schmalen Romans; der Leser begreift, dass der Tyrann nicht nur alles Böse dieser Geschichte repräsentiert, sondern durch seinen privaten Wahn auch den einzigen Lichtstrahl der Liebe. Alle anderen Figuren - der Pfarrer, der Aufseher, die schwatzenden alten Frauen - sind Gaffer und Chor für den Herrenmenschen.
Wäre der so skizzierte Plot das Wesentliche daran, Rulfos Roman hätte vielleicht respektabel sein können, aber nicht das weltberühmte Buch, das er ist. Denn "Pedro Páramo" aufzuschlagen bedeutet, in eine andere Wirklichkeit einzutreten als die, in der unsere Straßenlaternen und Wohnzimmersessel stehen. Es fängt mit täuschender Einfachheit an. Der Ich-Erzähler zieht aus, um seinen Vater zu finden, einen "gewissen" Pedro Páramo. Seine sterbende Mutter hat ihn losgeschickt. "Bettle ihn ja nicht an", trägt sie ihm auf. "Fordere, was uns zusteht. Lass ihn teuer bezahlen, dass er uns im Stich gelassen hat, mein Sohn." Doch Juan Preciado, der gehorsame Nachfahre auf der Suche nach den Ursprüngen, betritt mit dem Dorf Comala ein Geisterreich, in dem sich nur noch die Toten unterhalten. Die Erkenntnis wird uns zuteil, wie man hinter einen Spiegel schlüpft oder durch eine Falltür stürzt. Plötzlich ergreift etwas Neues vom Bewusstsein des Lesers Besitz. Die Toten reden wie Menschen, sind neugierig, sehnsuchtsvoll und klatschhaft wie sie. Ihre Geschichten allerdings sind schon lange vergangen, ihre Gebeine verwest. Sie sind zu Echoräumen geworden, durch die kollektives Gemurmel weht wie der Wind durch die Mauerritzen.
Comala, der Name des Ortes, gilt heute als Topos der lateinamerikanischen Literatur. Rulfo taucht die einsam klagenden Stimmen in eine Atmosphäre von Nebel und strömendem Regen, lauscht dem Raspeln des Holzwurms oder dem Rauschen der Stille. Er wisse nicht, woher die Eingebungen kamen, denen er seinen Roman verdanke, schrieb er dreißig Jahre später. Das reicht, man braucht nicht daran zu rühren. Aus den Schicksalen seiner Figuren baut sich das Porträt einer brutal ausgebeuteten Gegend auf, das den geborenen Skeptiker verrät.
Doch wer verkündet uns das alles, wenn auch Juan Preciado, in dem wir zunächst den Stellvertreter des Lesers vermuten, längst im Grab liegt? Rulfo besitzt so etwas wie das allgegenwärtige Gehör, ein Sensorium für die unterirdischen Regungen des Bewusstseins. Von einer Zeile auf die andere wechselt er zwischen Zeitebenen und Perspektiven, doch es wirkt nie wie der Klimmzug der Avantgarde, sondern bleibt leicht und spontan wie ein Kinderreim. "Pater Rentería sollte sich viele Jahre später an die Nacht erinnern, in der sein hartes Bett ihn wach hielt und dann ins Freie trieb": Der beschwörende Charakter dieser Sprache versetzte den jungen Gabriel García Márquez in solche Erregung, dass er Rulfos Roman so oft las, bis er ihn auswendig kannte. Nicht ganz zufällig ließ er dann seinen eigenen Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" mit der Wendung "Viele Jahre später" beginnen. Natürlich konnte ein Buch wie "Pedro Páramo" nur aus einer Gesellschaft wie der mexikanischen hervorgehen, wo Sensenmänner, Totenkult und Todesmystik zur besessenen Feier der Lebenden gehören. Auch der Autor hatte prägende Begegnungen mit dem Tod. Seine Kindheit verbrachte Rulfo in einer kargen, armen Gegend des Bundesstaats Jalisco. Als er sechs Jahre alt ist, erschießt ein Landarbeiter hinterrücks seinen Vater, vier Jahre darauf stirbt seine Mutter. Zusammen mit seinem älteren Bruder verlebt Juan vier Jahre im Waisenhaus.
Rulfos schriftstellerische Existenz grenzt an Selbstauslöschung. Was er schreibt, wandert zunächst in die Schublade; hier und da können Freunde ihm ein paar Seiten entwinden. Gelegentlich publiziert er in Zeitschriften, und aus dem Briefwechsel mit seiner Frau wissen wir, dass manche Texte im Radio gesendet wurden. In der literarischen Form seines Werks - der Erzählband "Der Llano in Flammen" (1953), "Pedro Páramo" (1955) sowie Skizzen und Drehbuchentwürfe - wiederholt sich die Geste des Sichkleinmachens, diesmal mit überwältigender ästhetischer Wirkung. Rulfos knappe, schlackenfreie Sätze klingen wie helle Hammerschläge in menschenleerer Szenerie. Wie Borges, wenn auch ohne jede Geste der Intellektualität, arbeitet Rulfo an einer spanischen Literatursprache, die nicht ihre Rhetorik ausstellt, sondern durch Klarheit und Schlichtheit schon im Augenblick ihres Entstehens klassisch wird.
Dagmar Ploetz, die erfahrene Übersetzerin von García Márquez, hat für Rulfos Lakonie und den poetischen Glanz seines Stils eine überzeugende Entsprechung gefunden. Damit nimmt man Marina Frenk, die vor fünfzig Jahren die erste Übersetzung des Buches in eine Fremdsprache vorlegte und 2004 im Alter von 106 Jahren in Mexiko-Stadt starb, nichts von ihrem Verdienst. Doch Übertragungen altern, und ein halbes Jahrhundert ist mehr, als den meisten von ihnen guttut.
Das Epochale an "Pedro Páramo" liegt auch in der sprachlichen Dichte, die der Autor durch beherzte Streichungen erzielt hatte. Mit diesem Roman hielt der "magische Realismus" in die lateinamerikanische Literatur Einzug und schuf eine mythische Literaturlandschaft auf der Höhe William Faulkners. Es ist nicht ohne Ironie, dass Rulfos erste Leser, darunter auch Kollegen, seinen Roman als "zu faulknerianisch" ablehnten, obwohl der Mexikaner seinen zwanzig Jahre älteren Kollegen aus den Südstaaten damals noch gar nicht gelesen hatte. Eine künstlerische Wesensverwandtschaft dürfte am Werk gewesen sein, mehr nicht. Beide erfanden durch Gründung eines Ortes, das Benennen der Sippe und die Beschreibung der Landschaft ein modellhaftes literarisches Universum.
"Pedro Páramo" ist mehreres in einem, eine poetische Reflexion über Erinnerung, eine Beschwörung der eigenen Vergangenheit als Gespensterkabinett, eine Metapher für die latente Gewaltbereitschaft eines Kontinents - und das Abbild einer Gesellschaft, in der die armen Seelen nicht einmal nach dem Tod Ruhe finden. Damit die erste Auflage wegging, musste Juan Rulfo übrigens viele Exemplare verschenken. Ein paar Jahre später wurde der Roman zum Bestseller und ist es bis heute geblieben.
Juan Rulfo: "Pedro Páramo". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Mit einer Nachbemerkung des Autors und einem Nachwort von Gabriel García Márquez. Carl Hanser Verlag, München 2008. 175 S., geb., 17,90 [Euro].
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