Rosarius Delamot weiß nicht, wer sein leiblicher Vater ist, vielleicht ein Archäologe, der das Straßennetz des antiken Römischen Reiches kartographiert hat und in Nordafrika verschollen blieb. Rosarius hat nur seine Mutter Kathy, er ist in seiner Jugend kleinwüchsig und spricht die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens kein Wort. Aber er sieht die Dinge anders als gewöhnliche Menschen, sein Gehirn scheint ein unendlicher Speicher von kleinsten Wahrnehmungen und Erinnerungen zu sein. Als Kind hat er sich in Petra verliebt, die er nur "Peeh" nennen kann. Später, als normalgroßer Erwachsener, der Sprechen gelernt hat, wird eine Liebesgeschichte daraus. In seinen Träumen und in der Wirklichkeit lebt Rosarius sein eigenes Leben, in dem er die ganze Welt bereist und die Eifel, in der er mit Vincentini ein elektrisches Akupunkturgerät verkauft, das gegen jede Krankheit helfen soll. Als alter Mann im Heim wird er von Annie liebevoll gepflegt, ihm ist, als wäre seine Peeh endlich wieder da, als würde er ihr jetzt im Alter die abenteuerliche Geschichte seines Lebens erzählen, eine Geschichte über die Liebe, das Altern und das Vergessen. In seinem neuen, bewegenden, melancholisch-lichten Roman zeigt sich Norbert Scheuer wieder als ein großer, poetischer Erzähler.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2012Alle Wege führen von Rom weg
Klein Zaches und Oskar Matzerath lassen grüßen: Norbert Scheuers neuer Roman "Peehs Liebe" verlässt die angestammte Region der Eifel, verdammt aber zugleich die Ferne.
Norbert Scheuer ist ein literarischer Chronist der Eifel, wie diese von Schicksal wie Künstlern oft benachteiligte Region keinen Zweiten gefunden hat. Also muss es Aufsehen erregen - und das über die Eifel hinaus, denn auch Scheuers Rang ist längst über den eines Lokalautors hinaus -, wenn in seinem neuen Roman "Peehs Liebe" die aus den früheren Büchern vertraute Gegend verlassen wird. Wobei dieser Versuch die Träume der Protagonisten befeuert, aber dann doch im Fiasko endet.
Auf drei ständig abwechselnden Ebenen wird hier erzählt (auch das ist neu): Zunächst gibt es einen Ich-Erzähler, Rosarius Delamot. Der französisch klingende Nachname weist ihn als Mann des Wortes aus, doch das ist ein Hohn, denn Rosarius, 1938 geboren, kommt erst als Erwachsener zur Sprache, als ihm im Gefängnis nach der Lektüre von 941 Büchern der Kopf zu schwirren beginnt. Zuvor war er einer jener durchs Leiden an der Wirklichkeit wachstumsgestörten deutschen Knaben, wie man sie seit der "Blechtrommel" von Günter Grass kennt. Mit der Sprache setzt bei Rosarius dann aber auch das Wachstum ein. Das ist ein etwas gesuchtes Loblied des wortmächtigen Autors Norbert Scheuer auf die eigene Profession.
Die zweite Ebene berichtet aus der Sicht eines auktorialen Erzählers von Annie, einer jungen Altenpflegerin, die sich von 2002 an um den als gestört ins Heim eingelieferten Rosarius während dessen letzten Lebensjahren kümmert. Die Kraft der Worte nutzt der früh Vergreiste nun zur Rekapitulation seiner Erlebnisse - "vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt", sinniert Rosarius zu Beginn des Buchs. Annie nimmt alsbald in seinen Tagträumen die Rolle der ehedem geliebten Petra ein, genannt Peeh, die aus dem Heimatort in der Eifel weggegangen ist. Ihretwegen trieb es auch Rosarius in die Ferne.
Doch nicht nur deshalb. Denn da ist noch die dritte Ebene, die aus den Notaten eines in der nahöstlichen Wüste verschollenen Archäologen besteht, der dort eine alte unter dem Sand verborgene Römerstraße suchte. Dieser Mann soll der Vater von Rosarius gewesen sein, und sein ganzes Interesse galt der Erschließung der antiken Welt durch ein Straßensystem, dessen Ausgangspunkt in Rom lag. So konnte man gefahrlos in die Ferne schweifen, denn das gute Nahe blieb erreichbar. Als zweitausend Jahre später diese Wege der Alten verloren sind, findet auch der Archäologe nicht mehr zurück in die Heimat. Dessen rastloses Erbteil gibt dem Sohn den Rest des Antriebs, seinerseits über die Eifel hinauszusehen.
Und es gibt noch eine vierte Ebene, die sich durch alle anderen drei zieht wie ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum: Hölderlins "Hyperion". Als Rosarius in der Nachkriegszeit mit dem von seinen eigenen Untaten im Krieg traumatisierten Vincentini, der den Bewohnern der Eifel ein technisches Wunderheilgerät namens "Perseus" andrehen will, durch die Umgebung fährt, rezitiert dieser pausenlos aus dem "Hyperion", den er als Soldat im Tornister trug. So entsteht auch beim Spätentwickler eine Faszination für das Großgedicht, das von der kräftigenden Liebe zu Diotima erzählt und vom Rückzug des Helden nach deren Tod in die Einsamkeit der bergigen Peleponnes. Ein Schelm, der Ähnlichkeiten zum Geschick von Rosarius entdeckt.
"Peehs Liebe" ist vielfach durchgeformt und überformt, ein Schachtelkunststück, das erst nach und nach den Blick aufs ganze Geschehen erlaubt und zentrale Ereignisse der Handlung wie die Sterilisierung von Rosarius' Mutter im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms oder deren späteren Suizid nur andeutet, aus der poetisch verzauberten Sicht des Sohnes erzählt. So wird sein Leben erträglich, und die neue Liebe für Annie setzt die späten Jahre in ein noch milderes Licht. Ganz am Schluss löst Rosarius so sein kindliches Grundverlangen ein: "Ich suchte ständig nach Krümeln, Steinchen, Knöchelchen von Mäusen und Maulwürfen, legte sie zusammen, betrachtete alles, sortierte wieder neu, weil ich etwas suchte, bei dem alles zusammenpasste." Der hier sichtbare Liebhaber alles Kleinen, der selbst so lange kleinwüchsig blieb, wird schließlich mit der Erschaffung eines neuen Kleinen sein Leben abrunden und seine Bestimmung erfüllen.
Das aber ist nah am biologischen wie emotionalen Kitsch gebaut, obwohl man Scheuers Figuren die Liebe ihres Autors jederzeit ablesen kann. Rundweg enttäuschend aber ist die für ihn neue Komponente der Ferne. Schon die Zahl der Tagebuchaufzeichnungen des Archäologen ist auffallend gering - als hätte sich Scheuer nicht getraut, den Reiz des Exotischen wirken zu lassen. Und was dann auch den anderen Akteuren widerfährt, wenn sie sich jemals über den Bannkreis des Eifelstädtchens hinauswagen, das setzt den Stoff, aus dem "Peehs Liebe" ist, in erstaunliche Nähe zu einer bodenverliebten Heimatliteratur, an die man nicht gern erinnert wird, auch wenn deren Wurzeln in der Romantik zu suchen sind (Klein Zaches von E. T. A. Hoffmann lässt auch grüßen).
Die "Muster und Symmetrien" - um eine Kategorie aus dem Roman selbst zu entnehmen - fordern den Vergleich mit solchen Vorläufern heraus: der Blutzoll, den die Heimat kostet, die latente Bosheit der Fremde, der Eskapismus in die eigene Traumwelt. Ausgerechnet Rosarius, der Sonderling, wird provoziert durch Disharmonie: "Wenn ich keine Ähnlichkeiten mehr zwischen den Dingen sah, schrie und kreischte ich wie ein Irrer." Das ist ein emphatisches Plädoyer für die Wiederholung auch der schlimmen Dinge - ein fatalistisches Konzept, das sich hinter dem Anschein erzählerischer Vielfalt verbirgt. Wer wie Scheuer derart viele Wege nach Rom absteckt, der muss auch sehen, dass sie alle zugleich von Rom wegführen.
ANDREAS PLATTHAUS
Norbert Scheuer: "Peehs Liebe". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 223 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klein Zaches und Oskar Matzerath lassen grüßen: Norbert Scheuers neuer Roman "Peehs Liebe" verlässt die angestammte Region der Eifel, verdammt aber zugleich die Ferne.
Norbert Scheuer ist ein literarischer Chronist der Eifel, wie diese von Schicksal wie Künstlern oft benachteiligte Region keinen Zweiten gefunden hat. Also muss es Aufsehen erregen - und das über die Eifel hinaus, denn auch Scheuers Rang ist längst über den eines Lokalautors hinaus -, wenn in seinem neuen Roman "Peehs Liebe" die aus den früheren Büchern vertraute Gegend verlassen wird. Wobei dieser Versuch die Träume der Protagonisten befeuert, aber dann doch im Fiasko endet.
Auf drei ständig abwechselnden Ebenen wird hier erzählt (auch das ist neu): Zunächst gibt es einen Ich-Erzähler, Rosarius Delamot. Der französisch klingende Nachname weist ihn als Mann des Wortes aus, doch das ist ein Hohn, denn Rosarius, 1938 geboren, kommt erst als Erwachsener zur Sprache, als ihm im Gefängnis nach der Lektüre von 941 Büchern der Kopf zu schwirren beginnt. Zuvor war er einer jener durchs Leiden an der Wirklichkeit wachstumsgestörten deutschen Knaben, wie man sie seit der "Blechtrommel" von Günter Grass kennt. Mit der Sprache setzt bei Rosarius dann aber auch das Wachstum ein. Das ist ein etwas gesuchtes Loblied des wortmächtigen Autors Norbert Scheuer auf die eigene Profession.
Die zweite Ebene berichtet aus der Sicht eines auktorialen Erzählers von Annie, einer jungen Altenpflegerin, die sich von 2002 an um den als gestört ins Heim eingelieferten Rosarius während dessen letzten Lebensjahren kümmert. Die Kraft der Worte nutzt der früh Vergreiste nun zur Rekapitulation seiner Erlebnisse - "vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt", sinniert Rosarius zu Beginn des Buchs. Annie nimmt alsbald in seinen Tagträumen die Rolle der ehedem geliebten Petra ein, genannt Peeh, die aus dem Heimatort in der Eifel weggegangen ist. Ihretwegen trieb es auch Rosarius in die Ferne.
Doch nicht nur deshalb. Denn da ist noch die dritte Ebene, die aus den Notaten eines in der nahöstlichen Wüste verschollenen Archäologen besteht, der dort eine alte unter dem Sand verborgene Römerstraße suchte. Dieser Mann soll der Vater von Rosarius gewesen sein, und sein ganzes Interesse galt der Erschließung der antiken Welt durch ein Straßensystem, dessen Ausgangspunkt in Rom lag. So konnte man gefahrlos in die Ferne schweifen, denn das gute Nahe blieb erreichbar. Als zweitausend Jahre später diese Wege der Alten verloren sind, findet auch der Archäologe nicht mehr zurück in die Heimat. Dessen rastloses Erbteil gibt dem Sohn den Rest des Antriebs, seinerseits über die Eifel hinauszusehen.
Und es gibt noch eine vierte Ebene, die sich durch alle anderen drei zieht wie ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum: Hölderlins "Hyperion". Als Rosarius in der Nachkriegszeit mit dem von seinen eigenen Untaten im Krieg traumatisierten Vincentini, der den Bewohnern der Eifel ein technisches Wunderheilgerät namens "Perseus" andrehen will, durch die Umgebung fährt, rezitiert dieser pausenlos aus dem "Hyperion", den er als Soldat im Tornister trug. So entsteht auch beim Spätentwickler eine Faszination für das Großgedicht, das von der kräftigenden Liebe zu Diotima erzählt und vom Rückzug des Helden nach deren Tod in die Einsamkeit der bergigen Peleponnes. Ein Schelm, der Ähnlichkeiten zum Geschick von Rosarius entdeckt.
"Peehs Liebe" ist vielfach durchgeformt und überformt, ein Schachtelkunststück, das erst nach und nach den Blick aufs ganze Geschehen erlaubt und zentrale Ereignisse der Handlung wie die Sterilisierung von Rosarius' Mutter im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms oder deren späteren Suizid nur andeutet, aus der poetisch verzauberten Sicht des Sohnes erzählt. So wird sein Leben erträglich, und die neue Liebe für Annie setzt die späten Jahre in ein noch milderes Licht. Ganz am Schluss löst Rosarius so sein kindliches Grundverlangen ein: "Ich suchte ständig nach Krümeln, Steinchen, Knöchelchen von Mäusen und Maulwürfen, legte sie zusammen, betrachtete alles, sortierte wieder neu, weil ich etwas suchte, bei dem alles zusammenpasste." Der hier sichtbare Liebhaber alles Kleinen, der selbst so lange kleinwüchsig blieb, wird schließlich mit der Erschaffung eines neuen Kleinen sein Leben abrunden und seine Bestimmung erfüllen.
Das aber ist nah am biologischen wie emotionalen Kitsch gebaut, obwohl man Scheuers Figuren die Liebe ihres Autors jederzeit ablesen kann. Rundweg enttäuschend aber ist die für ihn neue Komponente der Ferne. Schon die Zahl der Tagebuchaufzeichnungen des Archäologen ist auffallend gering - als hätte sich Scheuer nicht getraut, den Reiz des Exotischen wirken zu lassen. Und was dann auch den anderen Akteuren widerfährt, wenn sie sich jemals über den Bannkreis des Eifelstädtchens hinauswagen, das setzt den Stoff, aus dem "Peehs Liebe" ist, in erstaunliche Nähe zu einer bodenverliebten Heimatliteratur, an die man nicht gern erinnert wird, auch wenn deren Wurzeln in der Romantik zu suchen sind (Klein Zaches von E. T. A. Hoffmann lässt auch grüßen).
Die "Muster und Symmetrien" - um eine Kategorie aus dem Roman selbst zu entnehmen - fordern den Vergleich mit solchen Vorläufern heraus: der Blutzoll, den die Heimat kostet, die latente Bosheit der Fremde, der Eskapismus in die eigene Traumwelt. Ausgerechnet Rosarius, der Sonderling, wird provoziert durch Disharmonie: "Wenn ich keine Ähnlichkeiten mehr zwischen den Dingen sah, schrie und kreischte ich wie ein Irrer." Das ist ein emphatisches Plädoyer für die Wiederholung auch der schlimmen Dinge - ein fatalistisches Konzept, das sich hinter dem Anschein erzählerischer Vielfalt verbirgt. Wer wie Scheuer derart viele Wege nach Rom absteckt, der muss auch sehen, dass sie alle zugleich von Rom wegführen.
ANDREAS PLATTHAUS
Norbert Scheuer: "Peehs Liebe". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 223 S., geb., 17,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit großer Begeisterung hat Rezensentin Andrea Lüthi Norbert Scheuers neuen Roman "Peehs Liebe" gelesen, der sie einmal mehr in die "rau-melancholische" Umgebung des kleinen Dorfes Kall in der Eifel führt. Sie begegnet hier dem meist verwirrten Rosarius, der, wenn er nicht gerade Straßennamen aufschreibt, der Hilfspflegerin Annie Geschichten aus seinem Leben und seiner großen Liebe zu Peeh, die er im Alter von dreizehn Jahren nur einmal traf, erzählt. Aber auch die anderen liebevoll beschriebenen, eigensinnigen Figuren, die alle auf ihre Weise mit Hölderlins "Hyperion" in Verbindung stehen - etwa der alte Karl Höger, der sein Leben mit Steinlastern zwischen Zementwerk und Kalksteinbruch verbrachte, aber dennoch Geschichten von fremden Ländern zu berichten weiß - haben die Kritikerin für sich eingenommen. Sie lobt Scheuers charmanten Roman nicht nur als feinfühlige Studie über das Altern und die Liebe, sondern auch als glänzendes Buch über die "Ungewissheit des Lebens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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