Rosarius Delamot, der lange kleinwüchsig bleibt und summt statt spricht, nimmt die Dinge anders wahr als gewöhnliche Menschen. Er wächst bei seiner Mutter in der Eifel auf, seinen Vater lernt er nie kennen. In Peeh findet Rosarius jene Frau, die er ein Leben lang lieben wird. Als alter Mann trifft er auf die Pflegerin Annie, in der er Peeh wiederzuerkennen glaubt. Ihr erzählt er die sonderbare und außergewöhnliche Geschichte seines Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2012Alle Wege führen von Rom weg
Klein Zaches und Oskar Matzerath lassen grüßen: Norbert Scheuers neuer Roman "Peehs Liebe" verlässt die angestammte Region der Eifel, verdammt aber zugleich die Ferne.
Norbert Scheuer ist ein literarischer Chronist der Eifel, wie diese von Schicksal wie Künstlern oft benachteiligte Region keinen Zweiten gefunden hat. Also muss es Aufsehen erregen - und das über die Eifel hinaus, denn auch Scheuers Rang ist längst über den eines Lokalautors hinaus -, wenn in seinem neuen Roman "Peehs Liebe" die aus den früheren Büchern vertraute Gegend verlassen wird. Wobei dieser Versuch die Träume der Protagonisten befeuert, aber dann doch im Fiasko endet.
Auf drei ständig abwechselnden Ebenen wird hier erzählt (auch das ist neu): Zunächst gibt es einen Ich-Erzähler, Rosarius Delamot. Der französisch klingende Nachname weist ihn als Mann des Wortes aus, doch das ist ein Hohn, denn Rosarius, 1938 geboren, kommt erst als Erwachsener zur Sprache, als ihm im Gefängnis nach der Lektüre von 941 Büchern der Kopf zu schwirren beginnt. Zuvor war er einer jener durchs Leiden an der Wirklichkeit wachstumsgestörten deutschen Knaben, wie man sie seit der "Blechtrommel" von Günter Grass kennt. Mit der Sprache setzt bei Rosarius dann aber auch das Wachstum ein. Das ist ein etwas gesuchtes Loblied des wortmächtigen Autors Norbert Scheuer auf die eigene Profession.
Die zweite Ebene berichtet aus der Sicht eines auktorialen Erzählers von Annie, einer jungen Altenpflegerin, die sich von 2002 an um den als gestört ins Heim eingelieferten Rosarius während dessen letzten Lebensjahren kümmert. Die Kraft der Worte nutzt der früh Vergreiste nun zur Rekapitulation seiner Erlebnisse - "vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt", sinniert Rosarius zu Beginn des Buchs. Annie nimmt alsbald in seinen Tagträumen die Rolle der ehedem geliebten Petra ein, genannt Peeh, die aus dem Heimatort in der Eifel weggegangen ist. Ihretwegen trieb es auch Rosarius in die Ferne.
Doch nicht nur deshalb. Denn da ist noch die dritte Ebene, die aus den Notaten eines in der nahöstlichen Wüste verschollenen Archäologen besteht, der dort eine alte unter dem Sand verborgene Römerstraße suchte. Dieser Mann soll der Vater von Rosarius gewesen sein, und sein ganzes Interesse galt der Erschließung der antiken Welt durch ein Straßensystem, dessen Ausgangspunkt in Rom lag. So konnte man gefahrlos in die Ferne schweifen, denn das gute Nahe blieb erreichbar. Als zweitausend Jahre später diese Wege der Alten verloren sind, findet auch der Archäologe nicht mehr zurück in die Heimat. Dessen rastloses Erbteil gibt dem Sohn den Rest des Antriebs, seinerseits über die Eifel hinauszusehen.
Und es gibt noch eine vierte Ebene, die sich durch alle anderen drei zieht wie ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum: Hölderlins "Hyperion". Als Rosarius in der Nachkriegszeit mit dem von seinen eigenen Untaten im Krieg traumatisierten Vincentini, der den Bewohnern der Eifel ein technisches Wunderheilgerät namens "Perseus" andrehen will, durch die Umgebung fährt, rezitiert dieser pausenlos aus dem "Hyperion", den er als Soldat im Tornister trug. So entsteht auch beim Spätentwickler eine Faszination für das Großgedicht, das von der kräftigenden Liebe zu Diotima erzählt und vom Rückzug des Helden nach deren Tod in die Einsamkeit der bergigen Peleponnes. Ein Schelm, der Ähnlichkeiten zum Geschick von Rosarius entdeckt.
"Peehs Liebe" ist vielfach durchgeformt und überformt, ein Schachtelkunststück, das erst nach und nach den Blick aufs ganze Geschehen erlaubt und zentrale Ereignisse der Handlung wie die Sterilisierung von Rosarius' Mutter im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms oder deren späteren Suizid nur andeutet, aus der poetisch verzauberten Sicht des Sohnes erzählt. So wird sein Leben erträglich, und die neue Liebe für Annie setzt die späten Jahre in ein noch milderes Licht. Ganz am Schluss löst Rosarius so sein kindliches Grundverlangen ein: "Ich suchte ständig nach Krümeln, Steinchen, Knöchelchen von Mäusen und Maulwürfen, legte sie zusammen, betrachtete alles, sortierte wieder neu, weil ich etwas suchte, bei dem alles zusammenpasste." Der hier sichtbare Liebhaber alles Kleinen, der selbst so lange kleinwüchsig blieb, wird schließlich mit der Erschaffung eines neuen Kleinen sein Leben abrunden und seine Bestimmung erfüllen.
Das aber ist nah am biologischen wie emotionalen Kitsch gebaut, obwohl man Scheuers Figuren die Liebe ihres Autors jederzeit ablesen kann. Rundweg enttäuschend aber ist die für ihn neue Komponente der Ferne. Schon die Zahl der Tagebuchaufzeichnungen des Archäologen ist auffallend gering - als hätte sich Scheuer nicht getraut, den Reiz des Exotischen wirken zu lassen. Und was dann auch den anderen Akteuren widerfährt, wenn sie sich jemals über den Bannkreis des Eifelstädtchens hinauswagen, das setzt den Stoff, aus dem "Peehs Liebe" ist, in erstaunliche Nähe zu einer bodenverliebten Heimatliteratur, an die man nicht gern erinnert wird, auch wenn deren Wurzeln in der Romantik zu suchen sind (Klein Zaches von E. T. A. Hoffmann lässt auch grüßen).
Die "Muster und Symmetrien" - um eine Kategorie aus dem Roman selbst zu entnehmen - fordern den Vergleich mit solchen Vorläufern heraus: der Blutzoll, den die Heimat kostet, die latente Bosheit der Fremde, der Eskapismus in die eigene Traumwelt. Ausgerechnet Rosarius, der Sonderling, wird provoziert durch Disharmonie: "Wenn ich keine Ähnlichkeiten mehr zwischen den Dingen sah, schrie und kreischte ich wie ein Irrer." Das ist ein emphatisches Plädoyer für die Wiederholung auch der schlimmen Dinge - ein fatalistisches Konzept, das sich hinter dem Anschein erzählerischer Vielfalt verbirgt. Wer wie Scheuer derart viele Wege nach Rom absteckt, der muss auch sehen, dass sie alle zugleich von Rom wegführen.
ANDREAS PLATTHAUS
Norbert Scheuer: "Peehs Liebe". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 223 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klein Zaches und Oskar Matzerath lassen grüßen: Norbert Scheuers neuer Roman "Peehs Liebe" verlässt die angestammte Region der Eifel, verdammt aber zugleich die Ferne.
Norbert Scheuer ist ein literarischer Chronist der Eifel, wie diese von Schicksal wie Künstlern oft benachteiligte Region keinen Zweiten gefunden hat. Also muss es Aufsehen erregen - und das über die Eifel hinaus, denn auch Scheuers Rang ist längst über den eines Lokalautors hinaus -, wenn in seinem neuen Roman "Peehs Liebe" die aus den früheren Büchern vertraute Gegend verlassen wird. Wobei dieser Versuch die Träume der Protagonisten befeuert, aber dann doch im Fiasko endet.
Auf drei ständig abwechselnden Ebenen wird hier erzählt (auch das ist neu): Zunächst gibt es einen Ich-Erzähler, Rosarius Delamot. Der französisch klingende Nachname weist ihn als Mann des Wortes aus, doch das ist ein Hohn, denn Rosarius, 1938 geboren, kommt erst als Erwachsener zur Sprache, als ihm im Gefängnis nach der Lektüre von 941 Büchern der Kopf zu schwirren beginnt. Zuvor war er einer jener durchs Leiden an der Wirklichkeit wachstumsgestörten deutschen Knaben, wie man sie seit der "Blechtrommel" von Günter Grass kennt. Mit der Sprache setzt bei Rosarius dann aber auch das Wachstum ein. Das ist ein etwas gesuchtes Loblied des wortmächtigen Autors Norbert Scheuer auf die eigene Profession.
Die zweite Ebene berichtet aus der Sicht eines auktorialen Erzählers von Annie, einer jungen Altenpflegerin, die sich von 2002 an um den als gestört ins Heim eingelieferten Rosarius während dessen letzten Lebensjahren kümmert. Die Kraft der Worte nutzt der früh Vergreiste nun zur Rekapitulation seiner Erlebnisse - "vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt", sinniert Rosarius zu Beginn des Buchs. Annie nimmt alsbald in seinen Tagträumen die Rolle der ehedem geliebten Petra ein, genannt Peeh, die aus dem Heimatort in der Eifel weggegangen ist. Ihretwegen trieb es auch Rosarius in die Ferne.
Doch nicht nur deshalb. Denn da ist noch die dritte Ebene, die aus den Notaten eines in der nahöstlichen Wüste verschollenen Archäologen besteht, der dort eine alte unter dem Sand verborgene Römerstraße suchte. Dieser Mann soll der Vater von Rosarius gewesen sein, und sein ganzes Interesse galt der Erschließung der antiken Welt durch ein Straßensystem, dessen Ausgangspunkt in Rom lag. So konnte man gefahrlos in die Ferne schweifen, denn das gute Nahe blieb erreichbar. Als zweitausend Jahre später diese Wege der Alten verloren sind, findet auch der Archäologe nicht mehr zurück in die Heimat. Dessen rastloses Erbteil gibt dem Sohn den Rest des Antriebs, seinerseits über die Eifel hinauszusehen.
Und es gibt noch eine vierte Ebene, die sich durch alle anderen drei zieht wie ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum: Hölderlins "Hyperion". Als Rosarius in der Nachkriegszeit mit dem von seinen eigenen Untaten im Krieg traumatisierten Vincentini, der den Bewohnern der Eifel ein technisches Wunderheilgerät namens "Perseus" andrehen will, durch die Umgebung fährt, rezitiert dieser pausenlos aus dem "Hyperion", den er als Soldat im Tornister trug. So entsteht auch beim Spätentwickler eine Faszination für das Großgedicht, das von der kräftigenden Liebe zu Diotima erzählt und vom Rückzug des Helden nach deren Tod in die Einsamkeit der bergigen Peleponnes. Ein Schelm, der Ähnlichkeiten zum Geschick von Rosarius entdeckt.
"Peehs Liebe" ist vielfach durchgeformt und überformt, ein Schachtelkunststück, das erst nach und nach den Blick aufs ganze Geschehen erlaubt und zentrale Ereignisse der Handlung wie die Sterilisierung von Rosarius' Mutter im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms oder deren späteren Suizid nur andeutet, aus der poetisch verzauberten Sicht des Sohnes erzählt. So wird sein Leben erträglich, und die neue Liebe für Annie setzt die späten Jahre in ein noch milderes Licht. Ganz am Schluss löst Rosarius so sein kindliches Grundverlangen ein: "Ich suchte ständig nach Krümeln, Steinchen, Knöchelchen von Mäusen und Maulwürfen, legte sie zusammen, betrachtete alles, sortierte wieder neu, weil ich etwas suchte, bei dem alles zusammenpasste." Der hier sichtbare Liebhaber alles Kleinen, der selbst so lange kleinwüchsig blieb, wird schließlich mit der Erschaffung eines neuen Kleinen sein Leben abrunden und seine Bestimmung erfüllen.
Das aber ist nah am biologischen wie emotionalen Kitsch gebaut, obwohl man Scheuers Figuren die Liebe ihres Autors jederzeit ablesen kann. Rundweg enttäuschend aber ist die für ihn neue Komponente der Ferne. Schon die Zahl der Tagebuchaufzeichnungen des Archäologen ist auffallend gering - als hätte sich Scheuer nicht getraut, den Reiz des Exotischen wirken zu lassen. Und was dann auch den anderen Akteuren widerfährt, wenn sie sich jemals über den Bannkreis des Eifelstädtchens hinauswagen, das setzt den Stoff, aus dem "Peehs Liebe" ist, in erstaunliche Nähe zu einer bodenverliebten Heimatliteratur, an die man nicht gern erinnert wird, auch wenn deren Wurzeln in der Romantik zu suchen sind (Klein Zaches von E. T. A. Hoffmann lässt auch grüßen).
Die "Muster und Symmetrien" - um eine Kategorie aus dem Roman selbst zu entnehmen - fordern den Vergleich mit solchen Vorläufern heraus: der Blutzoll, den die Heimat kostet, die latente Bosheit der Fremde, der Eskapismus in die eigene Traumwelt. Ausgerechnet Rosarius, der Sonderling, wird provoziert durch Disharmonie: "Wenn ich keine Ähnlichkeiten mehr zwischen den Dingen sah, schrie und kreischte ich wie ein Irrer." Das ist ein emphatisches Plädoyer für die Wiederholung auch der schlimmen Dinge - ein fatalistisches Konzept, das sich hinter dem Anschein erzählerischer Vielfalt verbirgt. Wer wie Scheuer derart viele Wege nach Rom absteckt, der muss auch sehen, dass sie alle zugleich von Rom wegführen.
ANDREAS PLATTHAUS
Norbert Scheuer: "Peehs Liebe". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 223 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit großer Begeisterung hat Rezensentin Andrea Lüthi Norbert Scheuers neuen Roman "Peehs Liebe" gelesen, der sie einmal mehr in die "rau-melancholische" Umgebung des kleinen Dorfes Kall in der Eifel führt. Sie begegnet hier dem meist verwirrten Rosarius, der, wenn er nicht gerade Straßennamen aufschreibt, der Hilfspflegerin Annie Geschichten aus seinem Leben und seiner großen Liebe zu Peeh, die er im Alter von dreizehn Jahren nur einmal traf, erzählt. Aber auch die anderen liebevoll beschriebenen, eigensinnigen Figuren, die alle auf ihre Weise mit Hölderlins "Hyperion" in Verbindung stehen - etwa der alte Karl Höger, der sein Leben mit Steinlastern zwischen Zementwerk und Kalksteinbruch verbrachte, aber dennoch Geschichten von fremden Ländern zu berichten weiß - haben die Kritikerin für sich eingenommen. Sie lobt Scheuers charmanten Roman nicht nur als feinfühlige Studie über das Altern und die Liebe, sondern auch als glänzendes Buch über die "Ungewissheit des Lebens".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2012Im Wegenetz gefangen
Auch der neue Roman von Norbert Scheuer spielt in seiner Heimat, der Eifel:
Aber in „Peehs Liebe“ führen geheime Verbindungswege zu den Straßen der Römer in Afrika
VON EVA MACKENSEN
Vorab gesagt: Eine Liebesgeschichte ist dies nicht. Jedenfalls nicht die Geschichte einer erfüllten Liebe, die Norbert Scheuer unter dem Titel „Peehs Liebe“ erzählt. Es geht in diesem Roman um den Sonderling Rosarius Delamot, der ein ganzes Leben lang von seiner Liebe zu Peeh – man möchte fast sagen – beseelt ist. Viel erfährt man nicht von Peeh. Sie hat blonde Locken und viele Sommersprossen, und sie ist für Rosarius, der ein in sich gekehrtes Kind ist, das stundenlang auf dem Waldboden sitzt und Fichtennadeln zu wundersamen Mustern zusammenlegt, für lange Zeit die einzige Spielgefährtin.
Scheuer erzählt von dieser Liebe nicht wie von einem Ereignis, sondern wie von einem Zustand. Das Wiedersehen zwischen Rosarius und Peeh, als beide erwachsen sind, sagt viel über die Art und Weise, wie Scheuer Geschichten erzählt. Es findet statt, als Rosarius gerade aus seinem Dorf nach Köln gezogen ist, um dort ein bekannter Fußballer zu werden. Scheuer aber interessiert die märchenhafte Sportkarriere überhaupt nicht. Man könnte meinen, er habe seinen Protagonisten nur deshalb nach Köln versetzt, um dort das Wiedersehen mit Peeh inszenieren zu können. Ein paar Mal lieben sie sich, dann ist Peeh wieder verschwunden. Kurz darauf hat Rosarius einen Unfall, der ihn spielunfähig macht, und kehrt zurück in die Provinz.
Norbert Scheuers Roman folgt einer eigenen Dynamik von Bewegung und Stillstand. Der abgelegene Ort Kall in der Eifel ist das unverrückbare Zentrum all seiner Werke. Dort läuft die Zeit scheinbar anders, denn alles geschieht verlangsamt, wie unter dem Vergrößerungsglas betrachtet. Nach der Lektüre kennt man in Kall beinah jeden Zentimeter, so wiederholt folgt man Scheuers Figuren auf ihren immer gleichen Wegen, so vertraut fügt sich alles zusammen. Es gibt ein paar Fixpunkte in dieser kleinen Welt: eine enge Mansardenwohnung, eine griechische Kneipe. Eine Wäscherei, in der Rosarius’ Mutter manchmal mit Lastwagenfahrern im Bügelzimmer verschwindet.
In Kall wird Rosarius Delamot im Jahr 1938 geboren. Sein Geburtsjahr muss man sich durch spätere Hinweise erschließen, am Anfang dieses Lebens herrscht schwebende Zeitlosigkeit. Scheuer hat sie in einem Bild verdichtet, in dem sich Kleinbürgerliches und Mythisches durchdringen: Haare, die durch ein Loch im Boden der örtlichen Friseurstube in einen dunklen Keller hinabfallen, und sich dort aufeinanderlegen. Schicht um Schicht.
„Peehs Liebe“ ist ein leiser Roman, in dem große Sonderbarkeiten sehr sorgfältig eingerichtet sind. Er besteht aus einzelnen, relativ kurzen Sequenzen, die sich wie Momentaufnahmen aneinanderreihen. Sie erzählen die Geschichte des Rosarius Delamot aus verschiedenen Perspektiven, und auf unterschiedlichen Zeitebenen. Die Montage fügt ein fragiles, brüchiges Bild eines Lebens zusammen. Die Handlung setzt ein, als es schon fast vorbei ist: Ein auktorialer Erzähler stellt den bettlägrigen Rosarius in einem Altersheim vor. Annie, eine junge Pflegerin, empfindet eine besondere Zuneigung zu ihm. Stundenlang sitzt sie an seinem Bett, während seine Finger behutsam über die Raufasertapete tasten, und lauscht seinen mit Hölderlin-Zitaten durchwebten, segmentierten Erinnerungen. Rosarius, der Annie für seine alte Liebe Peeh hält, lässt sie an seinen Geschichten teilhaben.
Auf einer zweiten Ebene berichtet er selbst in der Ich-Perspektive. Mit diesem Rosarius Delamot hat Norbert Scheuer eine literarische Figur geschaffen, an der manches an Oskar Matzerath aus Günter Grass’ „Blechtrommel“ erinnert. Vor allem die Sprachlosigkeit und das Kleinwüchsige, verbunden mit einem plötzlichen Wachstumsschub im jungen Erwachsenenalter, hat Rosarius mit Oskar gemeinsam.
Doch anders als Oskar, der sich oft durch Zufall dort wiederfindet, wo Geschichte geschrieben wird, bleibt Rosarius dem Provinziellen, dem Weltabgewandten verhaftet: Als ein Schelm vom Lande, ein Chronist eines ganz und gar unbedeutenden, geschichtsvergessenen Dorfes und seiner Bewohner. Und wenn Oskar Matzerath unter dem Tisch sitzt und den Nationalsozialisten mit seiner Trommel den Takt einbläut, liegt Rosarius Delamot stundenlang reglos unter einem Berg ungewaschener Wäsche verborgen.
Provinzieller Mief bestimmt dieses Dasein, das merkwürdig unerfüllt bleibt, und doch nicht tragisch ist. Das liegt an der Art und Weise, wie Rosarius die Welt sieht: unschuldig und naiv wie ein Kind, und außergewöhnlich empfindsam für alles Banale, das ihm groß und bedeutsam erscheint. Es ist klar, dass hier einer die Dinge mit besonderem, vielleicht autistischem Blick aufnimmt. In ein paar eindrücklichen, vielleicht seinen besten Passagen macht der Roman das deutlich. Beim Versuch, von der Nordsee in die Eifel zurückzufinden, schickt Scheuer seinen Protagonisten auf eine monatelange, taumelnde Irrfahrt durch das ganze Land. Unwillkürlich gewinnt man den Eindruck, dass sich dabei Rosarius’ Welt umso schneller dreht, je weiter er sich von ihrem Zentrum entfernt.
„Peehs Liebe“ lässt, erstmals in Scheuers literarischem Werk, den Blick weit über die Eifel hinaus schweifen. Eine Landschaftstotale vom Eifelgebirge über das Mittelmeer bis an die Ränder Afrikas tut sich auf. Während nämlich Rosarius in Kall aufwächst, reist sein Vater, ein Archäologe, auf der Suche nach alten Römerstraßen quer durch die nordafrikanische Wüste. Der kartografische Eifer des Vaters findet in den tastenden Versuchen des alten Rosarius, sich Wege durch die Erinnerung zu bahnen, seine späte Entsprechung. Mit der Metaphorik von Spuren, Wegen, verwehtem Sand und nagender Zeit möchte Scheuers Roman etwas über die Wiederkehr des ewig Gleichen erzählen. Am besten gelingt ihm das, wenn er von dem berichtet, das fast vergessen daneben liegt.
Dies ist ein leiser Roman,
in dem große Sonderbarkeiten
sehr sorgfältig eingerichtet sind
Alle Wege führen nach Rom, auch die aus der Eifel. Aber eben deshalb führen auch viele Wege von Rom weg. In Norbert Scheuers Roman will der Vater des Helden eine Kartografie des römischen Wegenetzes erstellen. Hier ein Auszug aus der „Tabula Peutingeriana“, die das im 16. Jahrhundert schon einmal versucht hat.
FOTO: BPK / SBB
Norbert Scheuer: Peehs Liebe. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2012. 223 Seiten, 17,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Auch der neue Roman von Norbert Scheuer spielt in seiner Heimat, der Eifel:
Aber in „Peehs Liebe“ führen geheime Verbindungswege zu den Straßen der Römer in Afrika
VON EVA MACKENSEN
Vorab gesagt: Eine Liebesgeschichte ist dies nicht. Jedenfalls nicht die Geschichte einer erfüllten Liebe, die Norbert Scheuer unter dem Titel „Peehs Liebe“ erzählt. Es geht in diesem Roman um den Sonderling Rosarius Delamot, der ein ganzes Leben lang von seiner Liebe zu Peeh – man möchte fast sagen – beseelt ist. Viel erfährt man nicht von Peeh. Sie hat blonde Locken und viele Sommersprossen, und sie ist für Rosarius, der ein in sich gekehrtes Kind ist, das stundenlang auf dem Waldboden sitzt und Fichtennadeln zu wundersamen Mustern zusammenlegt, für lange Zeit die einzige Spielgefährtin.
Scheuer erzählt von dieser Liebe nicht wie von einem Ereignis, sondern wie von einem Zustand. Das Wiedersehen zwischen Rosarius und Peeh, als beide erwachsen sind, sagt viel über die Art und Weise, wie Scheuer Geschichten erzählt. Es findet statt, als Rosarius gerade aus seinem Dorf nach Köln gezogen ist, um dort ein bekannter Fußballer zu werden. Scheuer aber interessiert die märchenhafte Sportkarriere überhaupt nicht. Man könnte meinen, er habe seinen Protagonisten nur deshalb nach Köln versetzt, um dort das Wiedersehen mit Peeh inszenieren zu können. Ein paar Mal lieben sie sich, dann ist Peeh wieder verschwunden. Kurz darauf hat Rosarius einen Unfall, der ihn spielunfähig macht, und kehrt zurück in die Provinz.
Norbert Scheuers Roman folgt einer eigenen Dynamik von Bewegung und Stillstand. Der abgelegene Ort Kall in der Eifel ist das unverrückbare Zentrum all seiner Werke. Dort läuft die Zeit scheinbar anders, denn alles geschieht verlangsamt, wie unter dem Vergrößerungsglas betrachtet. Nach der Lektüre kennt man in Kall beinah jeden Zentimeter, so wiederholt folgt man Scheuers Figuren auf ihren immer gleichen Wegen, so vertraut fügt sich alles zusammen. Es gibt ein paar Fixpunkte in dieser kleinen Welt: eine enge Mansardenwohnung, eine griechische Kneipe. Eine Wäscherei, in der Rosarius’ Mutter manchmal mit Lastwagenfahrern im Bügelzimmer verschwindet.
In Kall wird Rosarius Delamot im Jahr 1938 geboren. Sein Geburtsjahr muss man sich durch spätere Hinweise erschließen, am Anfang dieses Lebens herrscht schwebende Zeitlosigkeit. Scheuer hat sie in einem Bild verdichtet, in dem sich Kleinbürgerliches und Mythisches durchdringen: Haare, die durch ein Loch im Boden der örtlichen Friseurstube in einen dunklen Keller hinabfallen, und sich dort aufeinanderlegen. Schicht um Schicht.
„Peehs Liebe“ ist ein leiser Roman, in dem große Sonderbarkeiten sehr sorgfältig eingerichtet sind. Er besteht aus einzelnen, relativ kurzen Sequenzen, die sich wie Momentaufnahmen aneinanderreihen. Sie erzählen die Geschichte des Rosarius Delamot aus verschiedenen Perspektiven, und auf unterschiedlichen Zeitebenen. Die Montage fügt ein fragiles, brüchiges Bild eines Lebens zusammen. Die Handlung setzt ein, als es schon fast vorbei ist: Ein auktorialer Erzähler stellt den bettlägrigen Rosarius in einem Altersheim vor. Annie, eine junge Pflegerin, empfindet eine besondere Zuneigung zu ihm. Stundenlang sitzt sie an seinem Bett, während seine Finger behutsam über die Raufasertapete tasten, und lauscht seinen mit Hölderlin-Zitaten durchwebten, segmentierten Erinnerungen. Rosarius, der Annie für seine alte Liebe Peeh hält, lässt sie an seinen Geschichten teilhaben.
Auf einer zweiten Ebene berichtet er selbst in der Ich-Perspektive. Mit diesem Rosarius Delamot hat Norbert Scheuer eine literarische Figur geschaffen, an der manches an Oskar Matzerath aus Günter Grass’ „Blechtrommel“ erinnert. Vor allem die Sprachlosigkeit und das Kleinwüchsige, verbunden mit einem plötzlichen Wachstumsschub im jungen Erwachsenenalter, hat Rosarius mit Oskar gemeinsam.
Doch anders als Oskar, der sich oft durch Zufall dort wiederfindet, wo Geschichte geschrieben wird, bleibt Rosarius dem Provinziellen, dem Weltabgewandten verhaftet: Als ein Schelm vom Lande, ein Chronist eines ganz und gar unbedeutenden, geschichtsvergessenen Dorfes und seiner Bewohner. Und wenn Oskar Matzerath unter dem Tisch sitzt und den Nationalsozialisten mit seiner Trommel den Takt einbläut, liegt Rosarius Delamot stundenlang reglos unter einem Berg ungewaschener Wäsche verborgen.
Provinzieller Mief bestimmt dieses Dasein, das merkwürdig unerfüllt bleibt, und doch nicht tragisch ist. Das liegt an der Art und Weise, wie Rosarius die Welt sieht: unschuldig und naiv wie ein Kind, und außergewöhnlich empfindsam für alles Banale, das ihm groß und bedeutsam erscheint. Es ist klar, dass hier einer die Dinge mit besonderem, vielleicht autistischem Blick aufnimmt. In ein paar eindrücklichen, vielleicht seinen besten Passagen macht der Roman das deutlich. Beim Versuch, von der Nordsee in die Eifel zurückzufinden, schickt Scheuer seinen Protagonisten auf eine monatelange, taumelnde Irrfahrt durch das ganze Land. Unwillkürlich gewinnt man den Eindruck, dass sich dabei Rosarius’ Welt umso schneller dreht, je weiter er sich von ihrem Zentrum entfernt.
„Peehs Liebe“ lässt, erstmals in Scheuers literarischem Werk, den Blick weit über die Eifel hinaus schweifen. Eine Landschaftstotale vom Eifelgebirge über das Mittelmeer bis an die Ränder Afrikas tut sich auf. Während nämlich Rosarius in Kall aufwächst, reist sein Vater, ein Archäologe, auf der Suche nach alten Römerstraßen quer durch die nordafrikanische Wüste. Der kartografische Eifer des Vaters findet in den tastenden Versuchen des alten Rosarius, sich Wege durch die Erinnerung zu bahnen, seine späte Entsprechung. Mit der Metaphorik von Spuren, Wegen, verwehtem Sand und nagender Zeit möchte Scheuers Roman etwas über die Wiederkehr des ewig Gleichen erzählen. Am besten gelingt ihm das, wenn er von dem berichtet, das fast vergessen daneben liegt.
Dies ist ein leiser Roman,
in dem große Sonderbarkeiten
sehr sorgfältig eingerichtet sind
Alle Wege führen nach Rom, auch die aus der Eifel. Aber eben deshalb führen auch viele Wege von Rom weg. In Norbert Scheuers Roman will der Vater des Helden eine Kartografie des römischen Wegenetzes erstellen. Hier ein Auszug aus der „Tabula Peutingeriana“, die das im 16. Jahrhundert schon einmal versucht hat.
FOTO: BPK / SBB
Norbert Scheuer: Peehs Liebe. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2012. 223 Seiten, 17,95 Euro.
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