PENELOPE von Judith Vanistendael ist bewegende, entwaffnende und unterhaltsame Lektüre zugleich, ihre Ärztin eine durch und durch menschliche Figur. In leichten und dynamischen Aquarellzeichnungen erzählt die Autorin die Geschichte einer nicht ganz alltäglichen Familie, von Verantwortung und Einsamkeit. Dabei hinterfragt sie Rollenbilder und stellt ganz nebenbei Homers Odyssee auf den Kopf. Penelope ist Ehefrau, Mutter und Chirurgin. Während ihre Tochter zu Hause in Belgien mit der Pubertät zu kämpfen hat, rettet sie Leben in einem Feldkrankenhaus in Aleppo. In der harten Kriegsrealität verliert sie Patienten, zu Hause warten ein liebevoller Ehemann und eine entzückende Tochter. Es fällt ihr zunehmend schwerer, ihre Berufung mit ihrem Familienleben in Einklang zu bringen, denn sie denkt ständig an die Toten, die sie zurückgelassen hat.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Sophia Zessnik ist beeindruckt von Judith Vanistendaels Graphic Novel, die in einer Rückschau erzählt, wie sich eine Ärztin ohne Grenzen namens Penelope entscheidet, ihre Familie für ihre Arbeit in Syrien zu verlassen. Wie die Illustratorin (die selbst nicht in Syrien gewesen sei, aber einen Mediziner aus dem Gebiet interviewt und das Flüchtlingslager Moria besucht habe, so Zessnik) die Zerrissenheit Penelopes zwischen den beiden unvereinbaren Welten rein visuell darzustellen vermöge - über Farbintensitäten oder indem sie die Farben über die Umrisse der Figuren treten lasse - findet die Rezensentin bemerkenswert. Am liebsten möchte sie die Geschichte als Zukunftsszenario lesen - denn Penelopes verlassener Mann unterstützt die Entscheidung seiner Frau. Die letzten Seiten, auf denen Vanistendael ihren Moria-Besuch verarbeitet, hätten Zessnik nach zudem ein eigenes Werk verdient.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2021Das Kind im Gepäck
Judith Vanistendaels Comic „Penelopes zwei Leben“ über eine Ärztin
ohne Grenzen, die Arbeit und Mutterrolle nicht mehr vereinbaren kann
VON MARTINA KNOBEN
Warten und weben, die Freier abwehren, so kennt man Penelope. Lange galt die Ehefrau des Odysseus als Inbegriff weiblicher Tugenden, als besonders sittsam und treu. Immerhin wartete die alleinerziehende Mutter zwanzig Jahre lang auf ihren sich in der Weltgeschichte herumtreibenden Ehemann und hielt sich alle Kerle vom Hals, die es auf sie und ihr Königreich abgesehen hatten.
Judith Vanistendaels Penelope ist anders. „Ich webe nicht. Ich warte nicht“, erzählt sie schon zu Beginn der Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“. Einen Sohn wie im Mythos hat Penelope auch nicht. Ihre Geschichte widmet sie ihrer Tochter, die sie vier Jahre nicht gesehen hat – eine Rückblende erzählt, warum.
Penelope arbeitet als Ärztin ohne Grenzen in Aleppo. Rote Wasserfarbe breitet sich in dem von Judith Vanistendael wie hektisch skizzierten Bild aus. Männer hasten, auf einer Trage liegt ein blutendes Mädchen auf dem Weg in den Operationssaal. Grün ist hier die dominierende Farbe. Grün ist Penelopes OP-Kittel, sind ihre Haube und ihre Handschuhe, die nun im Rot des Blutes schneiden, tupfen und nähen. Grün ist auch die Farbe von Penelopes Augen. Man weiß noch nicht viel über sie, aber schon die Farben erzählen, dass Penelope eine Ärztin mit Leib und Seele ist. Eine Ärztin buchstäblich ohne Grenzen.
Auf mehreren Seiten, einer ganzen Bilderstrecke, wird Penelopes Arbeit im syrischen Bürgerkrieg mit dem Alltag ihrer Tochter Helena kontrastiert. Jede Seite ist geteilt. Oben auf den Seiten schlummert Helena, eingemummelt in eine Decke wie in einem Kokon in ihrem Kinderbett, während Penelope im unteren Teil auf dem Operationstisch um das Leben eines etwa gleich alten syrischen Mädchens kämpft. Vanistendaels Aquarellzeichnungen sind wunderschön. Und mit dieser beinahe filmischen Parallelmontage setzt die belgische Zeichnerin grafisch eindrucksvoll die Gleichzeitigkeit des kaum zu Vereinbarenden in Szene: den Tod des einen Mädchens mit dem Erwachsenwerden des anderen. Helena bekommt im Verlauf der Bilderstrecke zum ersten Mal ihre Tage.
Penelope verpasst diesen Entwicklungsschritt ihrer Tochter – wie so vieles andere in deren Leben. Der Comic schmälert diesen Verlust nicht, falschen Trost gibt es in der Geschichte nicht. Schon in ihrer Graphic Novel „Als David seine Stimme verlor“ (2014) über einen Krebskranken und seine Patchwork-Familie hatte Vanistendael davon erzählt, wie schwierig es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. In „Penelopes zwei Leben“ schmettert Helena ihrer Mutter „All I want for Xmas ist youuuuu“ ins Ohr, als diese bei ihrem jährlichen Fronturlaub die Familie in Belgien besucht. Wenn Helena allerdings heult und zetert, weil sie den Ablativ nicht kapiert, wo doch in Syrien gerade Kinder verbluten, fühlt Penelope sich fremd in ihrer eigenen Familie. Ihre zwei Leben bringt sie kaum mehr zusammen.
In ihrer Reisetasche ist, eingerollt wie ein Embryo, ein totes Kind mit nach Belgien gekommen. Es ist ein Geist, getaucht in blutrote Wasserfarbe, der mit Penelope und ihrem Mann Otto im Bett liegt, aus einer Tasche ihres Arztkittels lugt oder ihr beim Besuch eines Psychologen auf der Schulter sitzt. Plump ist das nicht, vielmehr ist das Medium Comic hier ganz bei sich, wenn es mit seinen ureigenen Mitteln das Päckchen sichtbar macht, das Penelope mit sich trägt. Ein Arzt würde es eine posttraumatischen Belastungsstörung nennen.
Wenn von der Vereinbarkeit von Kind und Beruf die Rede ist, geht es ja meistens um logististische Fragen. Ob die Öffnungszeiten der Kita mit Konferenzterminen harmonieren oder der Papa das Kind im Krankheitsfall auch mal übernehmen kann. So einfach macht es Judith Vanistendael ihrer Titelheldin nicht. Was tun, wenn sich Kind und Berufung beim besten Willen nicht (mehr) vereinbaren lassen? Vanistendael schenkt ihrer Figur eine Freiheit, wie sie auch heute noch für Frauen nicht selbstverständlich ist. Die Freiheit, sich – nein, nicht gegen ein Kind –, sondern für eine Sache zu entscheiden, vielleicht ja dafür, die Welt zu retten oder wenigstens ein paar Menschenleben. Männer, die so handeln, obwohl auch sie ihre Kinder lieben, bekommen dafür womöglich einen Ehrendoktortitel, bei Frauen sind die Reaktionen immer noch meistens anders.
Dass der Konflikt im Zentrum dieser Graphic Novel nicht konstruiert wirkt, die Geschichte vielmehr ganz lebendig ist, verdankt sie auch den Mitgliedern dieser Familie: Otto ist ein knuffiger und kluger Dichter, der Penelope als diejenige liebt, die sie ist, und außerdem der einfühlsamste Vater ist, den man sich ausdenken kann. In Helena hat Judith Vanistendael wohl ihre eigene Tochter porträtiert, so zärtlich ist ihr Blick. Aber auch Nebenfiguren wie Penelopes Mutter oder ihre Schwester werden so liebevoll wie kritisch-prägnant skizziert.
Dabei geht es auch um die diversen Facetten des Weiblichen. In einem Gedicht von Otto ist davon die Rede, in dem er über die Masken spricht, die Frauen tragen, zu denen er auch die Maske der aufopferungsvollen Mutter zählt. In einer meisterhaften, leicht abgehobenen Szene ist tatsächlich zu sehen, wie Penelope eine Maske trägt, während sie mit Otto und Helena zusammensitzt. Nach nur zwei Panels legt Penelope die Maske gleich wieder ab, während eine wieder sehr kindlich wirkende Helena über ihren Geburtstag spricht und sich eine Schokoladentorte wünscht. Doch nun trägt Otto eine freundlich lächelnde Papa-Maske im Gesicht. Nicht jeder Mann möchte heute noch ein Odysseus sein. Was für ein Glück.
Penelope verpasst das Leben
ihrer Tochter – falschen Trost
gibt es nicht
Judith Vanistendael: Penelopes zwei Leben. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitman. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 176 Seiten, 20 Euro.
Wie schwer es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen: Ausschnitt aus „Penelopes zwei Leben“.
Foto: J. Vanistendael/Reprodukt
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Judith Vanistendaels Comic „Penelopes zwei Leben“ über eine Ärztin
ohne Grenzen, die Arbeit und Mutterrolle nicht mehr vereinbaren kann
VON MARTINA KNOBEN
Warten und weben, die Freier abwehren, so kennt man Penelope. Lange galt die Ehefrau des Odysseus als Inbegriff weiblicher Tugenden, als besonders sittsam und treu. Immerhin wartete die alleinerziehende Mutter zwanzig Jahre lang auf ihren sich in der Weltgeschichte herumtreibenden Ehemann und hielt sich alle Kerle vom Hals, die es auf sie und ihr Königreich abgesehen hatten.
Judith Vanistendaels Penelope ist anders. „Ich webe nicht. Ich warte nicht“, erzählt sie schon zu Beginn der Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“. Einen Sohn wie im Mythos hat Penelope auch nicht. Ihre Geschichte widmet sie ihrer Tochter, die sie vier Jahre nicht gesehen hat – eine Rückblende erzählt, warum.
Penelope arbeitet als Ärztin ohne Grenzen in Aleppo. Rote Wasserfarbe breitet sich in dem von Judith Vanistendael wie hektisch skizzierten Bild aus. Männer hasten, auf einer Trage liegt ein blutendes Mädchen auf dem Weg in den Operationssaal. Grün ist hier die dominierende Farbe. Grün ist Penelopes OP-Kittel, sind ihre Haube und ihre Handschuhe, die nun im Rot des Blutes schneiden, tupfen und nähen. Grün ist auch die Farbe von Penelopes Augen. Man weiß noch nicht viel über sie, aber schon die Farben erzählen, dass Penelope eine Ärztin mit Leib und Seele ist. Eine Ärztin buchstäblich ohne Grenzen.
Auf mehreren Seiten, einer ganzen Bilderstrecke, wird Penelopes Arbeit im syrischen Bürgerkrieg mit dem Alltag ihrer Tochter Helena kontrastiert. Jede Seite ist geteilt. Oben auf den Seiten schlummert Helena, eingemummelt in eine Decke wie in einem Kokon in ihrem Kinderbett, während Penelope im unteren Teil auf dem Operationstisch um das Leben eines etwa gleich alten syrischen Mädchens kämpft. Vanistendaels Aquarellzeichnungen sind wunderschön. Und mit dieser beinahe filmischen Parallelmontage setzt die belgische Zeichnerin grafisch eindrucksvoll die Gleichzeitigkeit des kaum zu Vereinbarenden in Szene: den Tod des einen Mädchens mit dem Erwachsenwerden des anderen. Helena bekommt im Verlauf der Bilderstrecke zum ersten Mal ihre Tage.
Penelope verpasst diesen Entwicklungsschritt ihrer Tochter – wie so vieles andere in deren Leben. Der Comic schmälert diesen Verlust nicht, falschen Trost gibt es in der Geschichte nicht. Schon in ihrer Graphic Novel „Als David seine Stimme verlor“ (2014) über einen Krebskranken und seine Patchwork-Familie hatte Vanistendael davon erzählt, wie schwierig es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. In „Penelopes zwei Leben“ schmettert Helena ihrer Mutter „All I want for Xmas ist youuuuu“ ins Ohr, als diese bei ihrem jährlichen Fronturlaub die Familie in Belgien besucht. Wenn Helena allerdings heult und zetert, weil sie den Ablativ nicht kapiert, wo doch in Syrien gerade Kinder verbluten, fühlt Penelope sich fremd in ihrer eigenen Familie. Ihre zwei Leben bringt sie kaum mehr zusammen.
In ihrer Reisetasche ist, eingerollt wie ein Embryo, ein totes Kind mit nach Belgien gekommen. Es ist ein Geist, getaucht in blutrote Wasserfarbe, der mit Penelope und ihrem Mann Otto im Bett liegt, aus einer Tasche ihres Arztkittels lugt oder ihr beim Besuch eines Psychologen auf der Schulter sitzt. Plump ist das nicht, vielmehr ist das Medium Comic hier ganz bei sich, wenn es mit seinen ureigenen Mitteln das Päckchen sichtbar macht, das Penelope mit sich trägt. Ein Arzt würde es eine posttraumatischen Belastungsstörung nennen.
Wenn von der Vereinbarkeit von Kind und Beruf die Rede ist, geht es ja meistens um logististische Fragen. Ob die Öffnungszeiten der Kita mit Konferenzterminen harmonieren oder der Papa das Kind im Krankheitsfall auch mal übernehmen kann. So einfach macht es Judith Vanistendael ihrer Titelheldin nicht. Was tun, wenn sich Kind und Berufung beim besten Willen nicht (mehr) vereinbaren lassen? Vanistendael schenkt ihrer Figur eine Freiheit, wie sie auch heute noch für Frauen nicht selbstverständlich ist. Die Freiheit, sich – nein, nicht gegen ein Kind –, sondern für eine Sache zu entscheiden, vielleicht ja dafür, die Welt zu retten oder wenigstens ein paar Menschenleben. Männer, die so handeln, obwohl auch sie ihre Kinder lieben, bekommen dafür womöglich einen Ehrendoktortitel, bei Frauen sind die Reaktionen immer noch meistens anders.
Dass der Konflikt im Zentrum dieser Graphic Novel nicht konstruiert wirkt, die Geschichte vielmehr ganz lebendig ist, verdankt sie auch den Mitgliedern dieser Familie: Otto ist ein knuffiger und kluger Dichter, der Penelope als diejenige liebt, die sie ist, und außerdem der einfühlsamste Vater ist, den man sich ausdenken kann. In Helena hat Judith Vanistendael wohl ihre eigene Tochter porträtiert, so zärtlich ist ihr Blick. Aber auch Nebenfiguren wie Penelopes Mutter oder ihre Schwester werden so liebevoll wie kritisch-prägnant skizziert.
Dabei geht es auch um die diversen Facetten des Weiblichen. In einem Gedicht von Otto ist davon die Rede, in dem er über die Masken spricht, die Frauen tragen, zu denen er auch die Maske der aufopferungsvollen Mutter zählt. In einer meisterhaften, leicht abgehobenen Szene ist tatsächlich zu sehen, wie Penelope eine Maske trägt, während sie mit Otto und Helena zusammensitzt. Nach nur zwei Panels legt Penelope die Maske gleich wieder ab, während eine wieder sehr kindlich wirkende Helena über ihren Geburtstag spricht und sich eine Schokoladentorte wünscht. Doch nun trägt Otto eine freundlich lächelnde Papa-Maske im Gesicht. Nicht jeder Mann möchte heute noch ein Odysseus sein. Was für ein Glück.
Penelope verpasst das Leben
ihrer Tochter – falschen Trost
gibt es nicht
Judith Vanistendael: Penelopes zwei Leben. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitman. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 176 Seiten, 20 Euro.
Wie schwer es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen: Ausschnitt aus „Penelopes zwei Leben“.
Foto: J. Vanistendael/Reprodukt
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2021Opfert sie ihre Familie oder ihre Ideale?
Judith Vanistendaels Comic über eine Ärztin im humanitären Einsatz in Syrien
Man täte sich schwer, Homers Penelope eine Heldin zu nennen, aber ist sie nicht viel eher "göttlich duldsam" als ihr im Epos so apostrophierter Gatte Odysseus? Immerhin wartet sie zwanzig Jahre lang tatenlos und damit im Gegensatz zu ihm auch schuldlos aufs Wiedersehen - ein Musterbild an Treue und Entsagung. Aber Vorbild eben auch nur darin, im traditionellen Verständnis von Weiblichkeit, während ihre jüngste literarische Wiedergängerin eine Frau der Tat ist: als Ärztin in humanitärer Mission im syrischen Bürgerkrieg. Und als Titelheldin des Comics "Penelopes zwei Leben" der belgischen Autorin Judith Vanistendael.
"Ich webe nicht. Ich warte nicht." Das sagt die Penelope von heute, die im Jahr 2015 Notoperationen an den zivilen Opfern in der bombardierten Stadt Aleppo durchführt, während Mann und Tochter Helena daheim in Brüssel geblieben sind. Das klassische Geschlechterklischee ist ausgehebelt, die Frau zieht nun in die Welt hinaus, aber diese Penelope hat ein schlechtes Gewissen. Zum vierzehnten Geburtstag der Tochter kehrt sie zurück; kurz vorher hatte Helena ihre erste Periode, und die Abwesenheit der Mutter bei diesem wichtigen Ereignis trägt die Familie ihr nach. Unter der harmonischen Oberfläche brodelt es, und am Ende, nach Weihnachten und 150 psychologisch intensiven Seiten, wird Penelope wieder aufbrechen nach Aleppo, ohne sich zu verabschieden.
Sie war nie wirklich zurückgekommen, denn mit im Gepäck bei der Heimreise hatte sie ein blutrotes Gespenst: die Erinnerung an ein unter ihren Händen gestorbenes syrisches Kind. Judith Vanistendael zeichnet es so, dass wir es mit Penelopes inneren Augen sehen - das kann ein Comic, weil er Dinge nicht nur beschreibt, sondern zeigt. Die junge Helena trägt meistens rote Kleidung, und deshalb wird in Penelope bei jedem Blick auf ihre Tochter die Erinnerung an Aleppo wach. Das ist mehr, als sie ertragen kann. Das schlechtere Gewissen hat sie gegenüber den Kriegsopfern, also kehrt sie ein zweites Mal zurück, dann in ihre neue Heimat. Der Beginn des Comics war bereits aus der Zukunft erzählt: "Ich habe eine Tochter. In einer Woche wird sie achtzehn. Ich werde nicht da sein an ihrem Geburtstag. Ich habe sie seit vier Jahren nicht gesehen." Was wir danach alles sehen werden in "Penelopes zwei Leben", ist der letzte Versuch gewesen, noch einmal das erste zu leben.
Judith Vanistendael, geboren 1974, ist eine dezidiert politische Comiczeichnerin. Leser dieser Zeitung werden sich an ihre Reportage aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos erinnern (F.A.Z. vom 18. April 2018), gezeichnet lange bevor es durch die Brände des vorigen Sommers traurige Berühmtheit errang. Diese Reportage ist dem im Reprodukt Verlag erschienenen neuen Band als Anhang beigegeben. Das ist schlüssig, weil das jeweilige Engagement gegen die humanitäre Katastrophe beide Geschichten - die fiktive wie die erlebte - und beide Protagonistinnen - die ausgedachte Penelope wie ihre Zeichnerin Judith Vanistendael - verbindet. Penelope mag nicht weben, aber sie ist eingesponnen in einen Zwiespalt, der schwerlich bedrückender darzustellen ist.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Judith Vanistendaels Comic über eine Ärztin im humanitären Einsatz in Syrien
Man täte sich schwer, Homers Penelope eine Heldin zu nennen, aber ist sie nicht viel eher "göttlich duldsam" als ihr im Epos so apostrophierter Gatte Odysseus? Immerhin wartet sie zwanzig Jahre lang tatenlos und damit im Gegensatz zu ihm auch schuldlos aufs Wiedersehen - ein Musterbild an Treue und Entsagung. Aber Vorbild eben auch nur darin, im traditionellen Verständnis von Weiblichkeit, während ihre jüngste literarische Wiedergängerin eine Frau der Tat ist: als Ärztin in humanitärer Mission im syrischen Bürgerkrieg. Und als Titelheldin des Comics "Penelopes zwei Leben" der belgischen Autorin Judith Vanistendael.
"Ich webe nicht. Ich warte nicht." Das sagt die Penelope von heute, die im Jahr 2015 Notoperationen an den zivilen Opfern in der bombardierten Stadt Aleppo durchführt, während Mann und Tochter Helena daheim in Brüssel geblieben sind. Das klassische Geschlechterklischee ist ausgehebelt, die Frau zieht nun in die Welt hinaus, aber diese Penelope hat ein schlechtes Gewissen. Zum vierzehnten Geburtstag der Tochter kehrt sie zurück; kurz vorher hatte Helena ihre erste Periode, und die Abwesenheit der Mutter bei diesem wichtigen Ereignis trägt die Familie ihr nach. Unter der harmonischen Oberfläche brodelt es, und am Ende, nach Weihnachten und 150 psychologisch intensiven Seiten, wird Penelope wieder aufbrechen nach Aleppo, ohne sich zu verabschieden.
Sie war nie wirklich zurückgekommen, denn mit im Gepäck bei der Heimreise hatte sie ein blutrotes Gespenst: die Erinnerung an ein unter ihren Händen gestorbenes syrisches Kind. Judith Vanistendael zeichnet es so, dass wir es mit Penelopes inneren Augen sehen - das kann ein Comic, weil er Dinge nicht nur beschreibt, sondern zeigt. Die junge Helena trägt meistens rote Kleidung, und deshalb wird in Penelope bei jedem Blick auf ihre Tochter die Erinnerung an Aleppo wach. Das ist mehr, als sie ertragen kann. Das schlechtere Gewissen hat sie gegenüber den Kriegsopfern, also kehrt sie ein zweites Mal zurück, dann in ihre neue Heimat. Der Beginn des Comics war bereits aus der Zukunft erzählt: "Ich habe eine Tochter. In einer Woche wird sie achtzehn. Ich werde nicht da sein an ihrem Geburtstag. Ich habe sie seit vier Jahren nicht gesehen." Was wir danach alles sehen werden in "Penelopes zwei Leben", ist der letzte Versuch gewesen, noch einmal das erste zu leben.
Judith Vanistendael, geboren 1974, ist eine dezidiert politische Comiczeichnerin. Leser dieser Zeitung werden sich an ihre Reportage aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos erinnern (F.A.Z. vom 18. April 2018), gezeichnet lange bevor es durch die Brände des vorigen Sommers traurige Berühmtheit errang. Diese Reportage ist dem im Reprodukt Verlag erschienenen neuen Band als Anhang beigegeben. Das ist schlüssig, weil das jeweilige Engagement gegen die humanitäre Katastrophe beide Geschichten - die fiktive wie die erlebte - und beide Protagonistinnen - die ausgedachte Penelope wie ihre Zeichnerin Judith Vanistendael - verbindet. Penelope mag nicht weben, aber sie ist eingesponnen in einen Zwiespalt, der schwerlich bedrückender darzustellen ist.
ANDREAS PLATTHAUS
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