Der angesehene Sprachwissenschaftler Philipp Perlmann trifft sich mit einer Gruppe von berühmten Kollegen in einem Hotel an der ligurischen Küste. Konfrontiert mit den hohen Erwartungen der anderen, zieht er sich so sehr in sich zurück, dass er bald in eine ausweglose Situation gerät, die ihn sogar an den Rand eines Mordes treibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.1995Ein Professor auf der Lauer
Pascal Merciers Roman des Geistes und der Geisteswissenschaften
"Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen." Das ist einer der Sätze Ludwig Wittgensteins, die man überwinden soll, um die Welt richtig zu sehen. Ob jedoch die Lösung von Gedankenproblemen etwas für das Leben zu bedeuten hat, läßt der Philosoph dahingestellt. Und für den Fall, es sähe einer die Welt richtig und hätte obendrein das Problem des Lebens gelöst, so würde er vermutlich darüber nicht sprechen können. Aber kann man denn einen Satz besiegen? Diese Frage spielt in der Entwicklung von Pascal Merciers erstem Roman eine wichtige Rolle. Die Antwort ist so einfach wie tiefgründig: Man kann, aber es gibt noch so viele andere. Das macht Perlmanns Schweigen so ausufernd beredt.
Ausdrucksvoll schweigt auch der Klappentext des Buches über die Person des Autors. Er sei in Biel aufgewachsen, sei Dolmetscher gewesen und Dozent für Linguistik und lebe nun in Genua. Das klingt plausibel, denn der Liebhaber von nationalen Stereotypen mag eine gewisse schweizerische Pedanterie in dem Roman entdecken (er spielt hauptsächlich an der Ligurischen Küste), und er enthält lichtvolle Ausführungen über Sprache und Übersetzen. Dennoch kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß der Autorenname zum Rätselcharakter dieses Buches gehört, daß er eine Verdoppelung des Helden oder Erzählers sein könnte. Der nämlich leidet wie der Rationalist Blaise Pascal an der Unzulänglichkeit des Denkens und stürzt sich in den Abgrund der Zeit, um sich zum eigentlichen Sein zu erwecken. Und wie Louis-Sébastian Mercier erfährt er im philosophischen Traum die melancholische Ödigkeit des Wissenden als Groteske der eigenen Existenz.
Philipp Perlmann, Sprachwissenschaftler in Frankfurt, hat das Interesse an seinem Fach längst verloren, und nun leidet er an sich selbst, am unaufhebbar schlechten Gewissen des heutigen geisteswissenschaftlichen Professors und an seiner Zunft, der "Atmosphäre der Konkurrenz und des gegenseitigen Belauerns". Auf einer von einem Konzern geförderten mehrwöchigen Arbeitstagung in einem Luxushotel in Santa Margherita Ligure bei Rapallo erfährt sein unglückliches Bewußtsein, sein Gefühl der Gegenwartslosigkeit eine erhebliche Verschlimmerung.
In zunehmender Angst und Depression entzieht er sich der Auseinandersetzung mit den Kollegen. Er verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, flüchtet sich in Schlaf und in die Übersetzung des Manuskripts seines sonderbaren russischen Kollegen Leskov, der die ganze Härte der gesellschaftlichen Verhältnisse erfahren mußte und der für die Tagung keine Ausreiseerlaubnis bekommen hat. Die Ausarbeitung des eigenen Beitrags verschiebt der Professor dagegen von einem Tag auf den anderen.
In seinem angsterfüllten Bewußtsein verwandeln sich die anderen Teilnehmer der Tagung nun in gefährliche Feinde, denen mit erhöhtem analytischen Aufwand zu begegnen ist. Immer tiefer jedoch verstrickt sich Perlmann in ein "dichtes Netz von verschlungenen, ausweglosen Gedanken". Die Logik geht ihm parallel zu seiner Menschenkenntnis zuschanden, Sätze scheinen als Modell der Wirklichkeit immer weniger zu taugen. "Auf einmal hatte er den Eindruck, von den Menschen und ihren Beziehungen zueinander nicht das geringste zu wissen." Schließlich erscheint dem ehemaligen Spracherotiker die eigene Sprache nunmehr als Mauer vor dem eigentlichen Sein. Die Verpflichtung zu sprechen, die die akademische Welt erfordert, tritt ihm als existentielle Bedrohung entgegen. Als mystischen Ausweg erträumt er sich die Bestimmung, schweigend und mit viel leerem Raum, um zwischen den Sprachen der Welt hin und her zu wandern.
Nur zwei Dinge können seine Aufmerksamkeit noch fesseln. Vor dem bedrängenden Tagungsluxus entflieht er in eine Trattoria der einfachen Leute, wo er in einer der handelsüblichen Chroniken des zwanzigsten Jahrhunderts liest, und im abgedunkelten Zimmer übersetzt er das russische Manuskript. Dieses behandelt ein Problem, das Perlmann zunehmend für sein eigenes hält und das sich mit dem Nachlesen der Chronik der Ereignisse während seiner Lebenszeit eigenartig verschränkt. Es ist zugleich das Problem des Erzählens von Geschichten und der Konstruktion von Geschichte überhaupt. Die Ereignisse haben für sie keinerlei Bedeutung, erst in der sprachlichen Formung von Erinnerungen, so lautet Leskovs These, wird Geschichte erzeugt, eignet sich das Individuum die eigene Vergangenheit an: "Außer den Geschichten gibt es da nichts. Oder besser: niemanden." In Perlmanns Faszination an dieser Theorie fallen seine Selbstfindungsprobleme mit seinem Widerwillen gegen eine Sprachwissenschaft überein, die in Anpassung an naturwissenschaftliche Verfahrensweisen gleichsam "Laborbedingungen mit ruhigen, stabilen Objekten" herstellen will.
Die gedachten und wirklichen Ereignisse entwickeln sich dramatisch, als der russische Wissenschaftler telegraphisch ankündigt, doch noch auf der Tagung erscheinen zu wollen. Die Problematik von Sprache und Identität verwandelt sich nun in einen virtuellen Kriminalfall. Dessen Auflösung kann hier nicht einmal angedeutet werden, denn ohne Spannung stünde der Leser in Gefahr, die Geduld mit den überreflektierten Narreteien dieses Professors von der traurigen Gestalt zu verlieren. Daß er dauernd raucht, obwohl er es eigentlich aufgegeben hat, ist noch verständlich, aber das notorische Duschen und Schlaftablettenschlucken strapaziert irgendwann die Lesernerven. Vielleicht hätte ihm seine Tochter Kirsten, die ihn zu seiner Freude und seinem Schreck auf der Tagung besucht, einmal sagen sollen, daß Barbiturate bei aller Trauer ums Verlorene "mega-out" sind. Aber das hätte wahrscheinlich auch nichts geholfen, die Depression hat ihre Selbststabilisierungsmechanismen.
"Perlmanns Schweigen" ist ein selbstreflexiver, philosophisch-analytischer Kriminal- und Abenteuerroman in bester artistischer Tradition. In der perspektivischen Erzähltechnik nicht neu, aber ohne postmodernes Klittern hervorragend gearbeitet und sprachlich von kristalliner Eleganz. Das Neue darin ist ein Altes: daß nämlich - wie schon am Beginn des neuzeitlichen Romans im Hidalgo Don Quixote - das sonderbare Bewußtsein eines Vertreters einer mäßig privilegierten, aber einflußlosen - angesichts der Demolierung der Humboldtschen Universität -, möglicherweise zum Untergang verurteilten Kaste, als Spiegel der Krisensymptome ausgangs des zwanzigsten Jahrhunderts geschildert wird. Das Bemerkenswerte an diesem Erstling besteht vor allem darin, daß das melancholisch geschärfte Bewußtsein des Helden beziehungsweise des Erzählers die Menschen und die Dinge, auch die Landschaft in einem klaren Licht sieht. Der immense Aufwand an Wissen und Reflexion dringt immer wieder zu präziser Beobachtung auch des Alltäglichen durch.
Und seltsam: Obwohl Philipp Perlmann hauptsächlich denkt und leidet, ist das Buch über weite Passagen anschaulich, anrührend und oft sogar komisch. Und ohne daß es ausgesprochen werden müßte, erspürt der Leser am Ende, was dem Helden wirklich fehlt. Und die anderen? Sie wären gar nicht so anders, würde man sie nur als solche akzeptieren können. Der Trost ist freilich schwach, und mit dem Überwinden von Sätzen kommt man im Leben nicht zu Ende. So widerlegt der Roman erfolgreich seine Ausgangsthese, Scheitern und Gelingen bilden eine ebenso paradoxe Einheit wie Schweigen und Sprechen. FRIEDMAR APEL
Pascal Mercier: "Perlmanns Schweigen". Roman. Albrecht Knaus Verlag, Berlin 1995. 639 S., geb., 49,80 DM.
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Pascal Merciers Roman des Geistes und der Geisteswissenschaften
"Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen." Das ist einer der Sätze Ludwig Wittgensteins, die man überwinden soll, um die Welt richtig zu sehen. Ob jedoch die Lösung von Gedankenproblemen etwas für das Leben zu bedeuten hat, läßt der Philosoph dahingestellt. Und für den Fall, es sähe einer die Welt richtig und hätte obendrein das Problem des Lebens gelöst, so würde er vermutlich darüber nicht sprechen können. Aber kann man denn einen Satz besiegen? Diese Frage spielt in der Entwicklung von Pascal Merciers erstem Roman eine wichtige Rolle. Die Antwort ist so einfach wie tiefgründig: Man kann, aber es gibt noch so viele andere. Das macht Perlmanns Schweigen so ausufernd beredt.
Ausdrucksvoll schweigt auch der Klappentext des Buches über die Person des Autors. Er sei in Biel aufgewachsen, sei Dolmetscher gewesen und Dozent für Linguistik und lebe nun in Genua. Das klingt plausibel, denn der Liebhaber von nationalen Stereotypen mag eine gewisse schweizerische Pedanterie in dem Roman entdecken (er spielt hauptsächlich an der Ligurischen Küste), und er enthält lichtvolle Ausführungen über Sprache und Übersetzen. Dennoch kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß der Autorenname zum Rätselcharakter dieses Buches gehört, daß er eine Verdoppelung des Helden oder Erzählers sein könnte. Der nämlich leidet wie der Rationalist Blaise Pascal an der Unzulänglichkeit des Denkens und stürzt sich in den Abgrund der Zeit, um sich zum eigentlichen Sein zu erwecken. Und wie Louis-Sébastian Mercier erfährt er im philosophischen Traum die melancholische Ödigkeit des Wissenden als Groteske der eigenen Existenz.
Philipp Perlmann, Sprachwissenschaftler in Frankfurt, hat das Interesse an seinem Fach längst verloren, und nun leidet er an sich selbst, am unaufhebbar schlechten Gewissen des heutigen geisteswissenschaftlichen Professors und an seiner Zunft, der "Atmosphäre der Konkurrenz und des gegenseitigen Belauerns". Auf einer von einem Konzern geförderten mehrwöchigen Arbeitstagung in einem Luxushotel in Santa Margherita Ligure bei Rapallo erfährt sein unglückliches Bewußtsein, sein Gefühl der Gegenwartslosigkeit eine erhebliche Verschlimmerung.
In zunehmender Angst und Depression entzieht er sich der Auseinandersetzung mit den Kollegen. Er verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, flüchtet sich in Schlaf und in die Übersetzung des Manuskripts seines sonderbaren russischen Kollegen Leskov, der die ganze Härte der gesellschaftlichen Verhältnisse erfahren mußte und der für die Tagung keine Ausreiseerlaubnis bekommen hat. Die Ausarbeitung des eigenen Beitrags verschiebt der Professor dagegen von einem Tag auf den anderen.
In seinem angsterfüllten Bewußtsein verwandeln sich die anderen Teilnehmer der Tagung nun in gefährliche Feinde, denen mit erhöhtem analytischen Aufwand zu begegnen ist. Immer tiefer jedoch verstrickt sich Perlmann in ein "dichtes Netz von verschlungenen, ausweglosen Gedanken". Die Logik geht ihm parallel zu seiner Menschenkenntnis zuschanden, Sätze scheinen als Modell der Wirklichkeit immer weniger zu taugen. "Auf einmal hatte er den Eindruck, von den Menschen und ihren Beziehungen zueinander nicht das geringste zu wissen." Schließlich erscheint dem ehemaligen Spracherotiker die eigene Sprache nunmehr als Mauer vor dem eigentlichen Sein. Die Verpflichtung zu sprechen, die die akademische Welt erfordert, tritt ihm als existentielle Bedrohung entgegen. Als mystischen Ausweg erträumt er sich die Bestimmung, schweigend und mit viel leerem Raum, um zwischen den Sprachen der Welt hin und her zu wandern.
Nur zwei Dinge können seine Aufmerksamkeit noch fesseln. Vor dem bedrängenden Tagungsluxus entflieht er in eine Trattoria der einfachen Leute, wo er in einer der handelsüblichen Chroniken des zwanzigsten Jahrhunderts liest, und im abgedunkelten Zimmer übersetzt er das russische Manuskript. Dieses behandelt ein Problem, das Perlmann zunehmend für sein eigenes hält und das sich mit dem Nachlesen der Chronik der Ereignisse während seiner Lebenszeit eigenartig verschränkt. Es ist zugleich das Problem des Erzählens von Geschichten und der Konstruktion von Geschichte überhaupt. Die Ereignisse haben für sie keinerlei Bedeutung, erst in der sprachlichen Formung von Erinnerungen, so lautet Leskovs These, wird Geschichte erzeugt, eignet sich das Individuum die eigene Vergangenheit an: "Außer den Geschichten gibt es da nichts. Oder besser: niemanden." In Perlmanns Faszination an dieser Theorie fallen seine Selbstfindungsprobleme mit seinem Widerwillen gegen eine Sprachwissenschaft überein, die in Anpassung an naturwissenschaftliche Verfahrensweisen gleichsam "Laborbedingungen mit ruhigen, stabilen Objekten" herstellen will.
Die gedachten und wirklichen Ereignisse entwickeln sich dramatisch, als der russische Wissenschaftler telegraphisch ankündigt, doch noch auf der Tagung erscheinen zu wollen. Die Problematik von Sprache und Identität verwandelt sich nun in einen virtuellen Kriminalfall. Dessen Auflösung kann hier nicht einmal angedeutet werden, denn ohne Spannung stünde der Leser in Gefahr, die Geduld mit den überreflektierten Narreteien dieses Professors von der traurigen Gestalt zu verlieren. Daß er dauernd raucht, obwohl er es eigentlich aufgegeben hat, ist noch verständlich, aber das notorische Duschen und Schlaftablettenschlucken strapaziert irgendwann die Lesernerven. Vielleicht hätte ihm seine Tochter Kirsten, die ihn zu seiner Freude und seinem Schreck auf der Tagung besucht, einmal sagen sollen, daß Barbiturate bei aller Trauer ums Verlorene "mega-out" sind. Aber das hätte wahrscheinlich auch nichts geholfen, die Depression hat ihre Selbststabilisierungsmechanismen.
"Perlmanns Schweigen" ist ein selbstreflexiver, philosophisch-analytischer Kriminal- und Abenteuerroman in bester artistischer Tradition. In der perspektivischen Erzähltechnik nicht neu, aber ohne postmodernes Klittern hervorragend gearbeitet und sprachlich von kristalliner Eleganz. Das Neue darin ist ein Altes: daß nämlich - wie schon am Beginn des neuzeitlichen Romans im Hidalgo Don Quixote - das sonderbare Bewußtsein eines Vertreters einer mäßig privilegierten, aber einflußlosen - angesichts der Demolierung der Humboldtschen Universität -, möglicherweise zum Untergang verurteilten Kaste, als Spiegel der Krisensymptome ausgangs des zwanzigsten Jahrhunderts geschildert wird. Das Bemerkenswerte an diesem Erstling besteht vor allem darin, daß das melancholisch geschärfte Bewußtsein des Helden beziehungsweise des Erzählers die Menschen und die Dinge, auch die Landschaft in einem klaren Licht sieht. Der immense Aufwand an Wissen und Reflexion dringt immer wieder zu präziser Beobachtung auch des Alltäglichen durch.
Und seltsam: Obwohl Philipp Perlmann hauptsächlich denkt und leidet, ist das Buch über weite Passagen anschaulich, anrührend und oft sogar komisch. Und ohne daß es ausgesprochen werden müßte, erspürt der Leser am Ende, was dem Helden wirklich fehlt. Und die anderen? Sie wären gar nicht so anders, würde man sie nur als solche akzeptieren können. Der Trost ist freilich schwach, und mit dem Überwinden von Sätzen kommt man im Leben nicht zu Ende. So widerlegt der Roman erfolgreich seine Ausgangsthese, Scheitern und Gelingen bilden eine ebenso paradoxe Einheit wie Schweigen und Sprechen. FRIEDMAR APEL
Pascal Mercier: "Perlmanns Schweigen". Roman. Albrecht Knaus Verlag, Berlin 1995. 639 S., geb., 49,80 DM.
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