Ohne Integrität gegenüber sich selbst gibt es keine gesellschaftliche Integration! Sagt sich Marjane in Wien, wo sie von ihren Eltern am Ende des ersten Bandes hingeschickt wurde, um dem iranisch-irakischen Krieg zu entkommen. Doch nach vier Jahren Zerrissenheit zwischen Heimweh und europäischer Jugendkultur kehrt sie nach Teheran zurück, nachdem sie die letzten drei Monate in Wien als Obdachlose verbracht hatte. Doch im Iran gilt sie nun als dekadent und wird mit den täglichen Widerwärtigkeiten des islamischen Regimes konfrontiert. So beschliesst sie, nachdem sie Kunst studiert hatte und verheiratet gewesen war, Mann und Land zu verlassen, und zieht 1994 wieder nach Europa. Sie ist nirgendwo mehr zuhause.
Elektrisierend: Marjane Satrapis Comicroman "Jugendjahre"
Jetzt ist die Geschichte komplett. Der zweite Teil des Comicromans "Persepolis" der Iranerin Marjane Satrapi ist nun auch in broschierter Form erschienen. Es lohnt sich, dieser außergewöhnlichen Bild-Geschichte noch einmal einen aufmerksamen Blick zu schenken. Nach der "Kindheit im Iran" (F.A.Z. vom 11. März 2004) erzählen nun die "Jugendjahre" von Marji, die als vierzehn Jahre altes Mädchen auf eine französische Schule nach Wien geschickt wird. Der Iran scheint den Eltern für ihre freiheitsliebende Tochter kein sicherer Ort zu sein. Vier Jahre verbringt Marji allein in der Fremde, erlebt den Kontrast der Kulturen am eigenen Leibe und kehrt schließlich um einen guten Kopf größer, mit gewachsenem Busen und voller Heimweh nach Teheran zurück. Doch dort prallen alte und neue Wertvorstellungen aufeinander. Nach dem Krieg mit dem Irak sind die Kontrollsysteme der Machthaber noch radikaler geworden. Da braucht gerade eine junge Frau Selbstbewußtsein und Mut, um das eigene Ich unter dem Schleier lebendig werden zu lassen. Im Spannungsfeld zwischen Integration und Abgrenzung gelingt es Marji schließlich, ihren eigenen Umgang mit der Heimat zu finden und sich dabei selbst treu zu bleiben. Durchblättert man die beiden auffälligen Bände mit den plakativen Schwarzweißillustrationen, dann sieht man die eindrucksvolle Entwicklung vom ernsthaft dreinblickenden, kleinen Mädchen mit Kopftuch (Teil I) zur selbstbewußten, unabhängigen, jungen Frau (Teil II).
Der Comic spricht eine eindeutige Sprache. Ein weinendes Gesicht ist ein weinendes Gesicht, das versteht jeder auf der Welt. Mit Bildern läßt sich Klartext reden und in mancher Hinsicht Mißverständnissen vorbeugen. Satrapis Zeichnungen mögen zunächst gewöhnungsbedürftig sein. Viel Druckerschwärze auf jeder Seite, holzschnittartige Bilder, die hart und manchmal ausgesprochen düster wirken. Zudem ein politisches Thema, das Schwere und Dramatik mit sich bringt: Revolution, Krieg, Unterdrückung, Gewalt. Doch wer weiterliest, entdeckt humorvolle Zwischentöne und vielfältige Nuancen. Ganz ohne bunte Farben gewinnt dieser Comic eine besondere Färbung. Die Bilder sind bis aufs äußerste verdichtet. Als im ersten Teil der Geschichte Marjis Schulfreundin bei einem Bombenanschlag ums Leben kommt, sagt ein durch und durch schwarzes Bild mehr als tausend Worte.
"Persepolis" ist eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der Politik und Lebensweise im Iran. Es ist aber auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Marjis Adoleszenz in der Fremde gestaltet sich alles andere als leicht. Kein Thema der Pubertät wird ausgespart: körperliche Veränderung, Cliquenleben, Eifersucht, Sexualität, Drogen, Männer, Einsamkeit. Schonungslos ehrlich illustriert Marjane Satrapi die innere und äußere Entwicklung. In kleinen Bildern zeigt sie, wie das Mädchen zur Frau wird: der Körper schießt in die Länge, Busen und Po breiten sich aus, die Nase wächst. Und wie alle Heranwachsenden stellt sich Marji die große Frage: Wer bin ich eigentlich?
In Wien, wo alles anders ist, legt sie ihr Kopftuch ab, um sich anzupassen. Sie ahnt nicht, daß sie bei Nonnen einquartiert wird und im Kreise der verhüllten Frauen wiederum eine Außenseiterin ist. Nach und nach blickt Marji hinter die Verkleidungen ihrer Umwelt, wirft selbst immer mehr Haare und Hüllen ab, probiert verschiedene Rollen aus, um schließlich alles zu verlieren und sich dabei selbst zu erkennen. Bis auf die Knochen entblößt steht das Mädchen nach vier Jahren Odyssee in der Fremde hinter der Röntgenmaschine eines Wiener Arztes. Tiefer kann sie nicht blicken. Jetzt weiß sie, was in ihr steckt - und so wirft sie den Schleier wieder über und kehrt nach Hause zurück.
Worte und Bilder ergänzen sich meisterhaft in Satrapis "autofiktiver" Geschichte. Zwischen den einzelnen Textblöcken und dem Schwarz und Weiß der Bilder entsteht eine eigene Welt. Es ist interessant, den Iran aus der Perspektive einer Heranwachsenden zu betrachten. Marji stellt genau die Fragen, die einem beim Lesen auf der Zunge liegen, und hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Aus den aneinandergereihten Episoden entsteht so ein vielschichtiges Bild des Iran, das mit Allgemeinplätzen aufräumt. Vor allem wird deutlich: Hinter jedem Schleier steckt ein Individuum - die Kunst ist, den Blick zu schärfen und ganz genau hinzusehen. Dazu bietet dieser Comic jede Menge Gelegenheit. Beide Bücher enden mit derselben Szene. Der Kreis schließt sich. Wieder steht Marji am Flughafen von Teheran und nimmt Abschied von ihrer Familie. Doch diesmal sehen wir eine erwachsene Frau, die heiter und entschlossen in ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit aufbricht. Marjane Satrapi hat ihre Heimat gefunden, indem sie uns diese Geschichte in ihrer Weise erzählt hat.
CORDULA GERNDT
Marjane Satrapi: "Persepolis. Jugendjahre". Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Pörtner. Ueberreuter Verlag, Wien 2006. 192 S., br., 9,95 [Euro]. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auch der zweite Teil von Marjane Satrapis Comicroman "Persepolis" hat Rezensentin Cordula Gerndt überaus beeindruckt. Sie würdigt das Werk als ebenso differenzierte wie spannungsreiche Auseinandersetzung mit dem von Krieg, Unterdrückung und Gewalt geprägten Leben im Iran - aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens. Der eigene Zeichen-Stil des Comics hat Gerndt besonders gefallen: Die in Schwarz und Weiß gehaltenen, "holzschnittartigen" und oft "düster" wirkenden Bilder lobt sie als intensiv und ausdrucksstark. Auch die Verbindung von Worten und Bildern findet sie hervorragend gelungen. Außerdem hebt Gerndt die zahlreichen "humorvollen Zwischentöne" hervor, mit denen das Buch trotz seiner bedrückenden Themen immer wieder aufwartet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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