22,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 2-4 Wochen
  • Buch mit Leinen-Einband

Zum 80. Geburtstag hat sich Alexander Kluge einen zweiten SALTO-Band gewünscht,um seine Reden über andere große deutsche Öffentlichkeitsarbeiterzu sammeln: Er spricht über G. E. Lessing, Heinrich Böll, Ricarda Huch, FriedrichSchiller, T. W. Adorno, Jürgen Habermas, Heiner Müller, Rudolf Augstein,Günter Gaus und Christoph Schlingensief. Dabei gelingen ihm nicht nur verblüffendzugespitzte Portraits dieser Personen. Kluges Gedanken » durchstreifensein Hirn « und schöpfen - blitzgescheit und haarsträubend assoziativ - auseinem tiefen Fundus von Kenntnissen: Er führt literarische Beispiele…mehr

Produktbeschreibung
Zum 80. Geburtstag hat sich Alexander Kluge einen zweiten SALTO-Band gewünscht,um seine Reden über andere große deutsche Öffentlichkeitsarbeiterzu sammeln: Er spricht über G. E. Lessing, Heinrich Böll, Ricarda Huch, FriedrichSchiller, T. W. Adorno, Jürgen Habermas, Heiner Müller, Rudolf Augstein,Günter Gaus und Christoph Schlingensief. Dabei gelingen ihm nicht nur verblüffendzugespitzte Portraits dieser Personen. Kluges Gedanken » durchstreifensein Hirn « und schöpfen - blitzgescheit und haarsträubend assoziativ - auseinem tiefen Fundus von Kenntnissen: Er führt literarische Beispiele (Ovid,Shakespeare oder David Hume) ebenbürtig mit historischen Ereignissen alsZeugen an, wobei sein Interesse immer den großen Wendepunkten gilt (1945,Tschernobyl oder dem 11. September).Am Ende steht ein für dieses Buch neu geschriebener Text: Ad me ipsum, indem er uns von den ihm wichtigen Produktionsmitteln des Gefühls erzählt: denBüchern, den Bildern und der Oper.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, studierteRechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik inMarburg; Promotion zum Dr. jur. Lehrte in der Abteilung fürFilmgestaltung der Hochschule für Gestaltung in Ulm. ZahlreicheFilme. Lebt als Schriftsteller und Regisseur in München.Im Verlag Klaus Wagenbach erschien von ihm zuletzt"Fontane - Kleist - Deutschland - Büchner".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2012

Die Nachtapotheke der Aufklärung

Gegen Überwältigung durch Kunst: Zum achtzigsten Geburtstag von Alexander Kluge sind Reden und Selbstauskünfte von ihm in einem Band versammelt worden.

Er schreibt keine Gedichte, keine Dramen und keine Romane. Er schreibt nicht einmal Sachbücher, von wissenschaftlichen Texten ganz zu schweigen. Dennoch ist Alexander Kluge der kompletteste Autor als Produzent, den die deutsche Literaturgeschichte seit seinen Büchern "Lebensläufe" von 1961 und "Schlachtbeschreibung - der Untergang der 6. Armee" von 1964 kennt. Zur Gattungsbezeichnung genügt ihm ein Begriff, den wiederum die Poetik nicht führt: Er erzählt - ob in Büchern, Filmen, Hörspielen, Essays oder Fernsehsendungen und ganz gleich, ob sie nun ganz, teilweise oder nicht erfunden sind - Geschichten. Er konkurriert, anders formuliert, nicht mit Dichtern, sondern mit Historikern und Journalisten. Ihnen zeigt er in Form von Literatur, was möglich ist.

Heute wird Alexander Kluge achtzig Jahre alt. Das Geschichtenerzählen hat ihm, dem Juristen, der während seines Referendariats Ende der fünfziger Jahre Theodor W. Adorno begegnete, woraufhin er Justitiar des Instituts für Sozialforschung wurde und dann durch den Regisseur Fritz Lang zum Film kam, seine Generationserfahrung nahegelegt. Es waren zunächst Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, die Kluge aufschrieb. Das Verzeichnen der militärischen und biographischen Bewegungen vor Stalingrad, die Berichte vom Luftangriff auf Halberstadt, die unzähligen Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg dienten dabei zunächst dem Versuch zu erinnern, wovon öffentlich fast niemand mehr etwas wissen wollte. Man unterschätze die eigenen Erfahrungen, heißt es an einer Stelle des vorliegenden Bandes mit Reden und Selbstauskünften Kluges, und halte dann leicht fremde Erfahrungen - solche aus dem Kino, den Massenmedien, den offiziellen Erzählungen - für die eigenen.

Zwei Quellen gesellschaftlicher Erfahrung, die auch Lebensläufe durch und durch bestimmen, hebt Kluge hervor: das Liebesleben und die gewerbliche Tätigkeit, die Produktion. Dem gegenüber stehe die Öffentlichkeit mit ihrem Interesse an Staatsaktionen, Großwetterlagen, Zahlenwolken. In diese Öffentlichkeit Berichte aus jenen anderen Erfahrungsquellen einzuführen und damit unter modernen Umständen die Funktionen des Märchens, der Ballade und der Moritat, der Kalendergeschichte und der Anekdote zu wahren gehört zur Absicht dieses Werkes. Die Aufklärung bedarf dabei der Poetik, weil sie auf "private" Beispiele angewiesen ist - man muss hier auch Kempowskis "Echolot" erwähnen - und weil die Qualität der Beispiele eben darin liegt, nicht nur Illustrationen einer These zu sein. Auf die besten Geschichten Kluges reagiert der Leser mit der Gewissheit ihres exemplarischen Charakters bei gleichzeitigem Rätseln, wofür sie exemplarisch sind.

Kluge sucht insofern nicht die faktische Wahrheit über das von ihm Berichtete, und noch weniger geht es ihm um Kunstschönheit oder gar Stil. Das Urteil, der könne doch gar nicht schreiben, greift am Sinn seiner Geschichten vorbei. Seine Literatur zielt auf das Wiedererkennen des Unbekannten. Die Wirklichkeit, die dieses Unbekannte ist, möchte man fast sagen, kann ja auch nicht schreiben. Dass wir die beste Darstellung der Schlachterfahrung vor Stalingrad von einem haben, der gar nicht dort war, sagt alles über die Erfolgsmöglichkeiten dieses Vorgehens. "Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?"

In seinen Reden auf Lessing und Schiller bezieht sich Kluge folgerichtig auf eine Epoche der deutschen Literatur, in der sie noch einen Moment lang nicht nur Kunst sein zu können schien. Noch standen Schriftsteller in enger Fühlung mit den Seelenlehren ihrer Zeit, der ernüchterten Theologie oder der Medizin, der metaphysischen und der physischen Anthropologie. Dann kamen, sehr verkürzt formuliert, Herder und Goethe, und die Literatur wurde "Ausdruck".

Alexander Kluges Temperament entfaltet sich außerhalb von Weimar. Auch die Romantik interessiert nur dort, wo sie entweder exakt ist - etwa in Goethes "Wahlverwandtschaften" -, oder als Wirkungsphänomen, als etwas, das die Leute als "fremde Erfahrung" konsumieren. Der "Bonapartismus des Geistes", der in Opern des neunzehnten Jahrhunderts und später in Filmen jede Möglichkeit verständiger Gegenwehr unter Schreckens- und Mitleidsmassen begräbt, ist für ihn nur als Objekt der Analyse, aber nicht als Vorbild ästhetischer Organisation von Belang.

Die Literatur so einzurichten, dass aus ihr gelernt werden kann, sie also kompliziert genug, aber nicht um der emotionalen Überwältigung willen, einzurichten ist seine Maxime. Man hat ihn einmal eine Art literarischen Sozialarbeiter genannt. Nur muss man von diesem Titel alles Therapeutische wegdenken. Kluge resozialisiert private Empirie. Die Montage, notiert er an einer Stelle, sei für ihn, anders als im frühen Film, kein Mittel der Überredung. Er verhalte sich nicht als Dompteur zu seinen Stoffen.

Wie der Arzt, der auch Haus- und Nachtbesuche macht, betreibt Kluge das für ihn allerdings weit einträglichere Geschäft der Nachtaufklärung durch Minutengespräche im Privatfernsehen. Hier möchte er dem alles verschlingenden Chronos Zeitlücken abgewinnen. In den Massenmedien fehle der "Glückswechsel zum Guten", sie tragen für Kluge der Tatsache zu wenig Rechnung, dass der Mensch mehr Glück als Verstand habe. Sie zapft insofern oft schwächere Kräfte - Neugier, Konformismus, Vorurteile - an, als es möglich wäre. Das Privatfernsehen ist gar keines, der Atem des Privaten kommt in ihm und seinen Schablonen so wenig vor wie die Öffentlichkeit im öffentlich-rechtlichen.

Alexander Kluge schreibt das als Angehöriger einer Generation, deren Lehre Menschen waren, die noch ohne Fernsehen aufwuchsen. Der schönste Text des kleinen Bandes - der auch Reden auf Jürgen Habermas, Günter Gaus, Heiner Müller und Christof Schlingensief enthält - ist ein Plädoyer dafür, Kinder mit der Oper in Berührung zu bringen. Nein, hatte sein Vater gemeint, zu Gounods "Margarethe" könne man den Jungen nicht mitnehmen, da gehe es um Abtreibung. So sah er als Erstes "Tosca", in der "an einem einzigen Tag alle Protagonisten aneinander sterben". Bei Humperdincks kindgerechtem Märchen habe er mehr geweint, aber weniger davon gehabt. Will sagen: Es gibt keinen Grund, dem Publikum den Ernstfall zu ersparen. Sei es noch so klein oder noch so zerstreut.

JÜRGEN KAUBE

Alexander Kluge: "Personen und Reden".

Wagenbach Verlag, Berlin 2012. 144 S., geb., 15,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was ist das für einer, dieser Alexander Kluge, der heute 80 wird? Jürgen Kaube versucht sich in einer Definition jenseits der bekannten Muster. Kein Dichter sei er, kein Dramatiker, kein Romancier, eher ein Historiker. Dass Kluge wenig auf Stil und Kunstschönheit setzt und viel auf die Quellen persönlicher Erfahrung, die für ihn stets exemplarisch sind, weiß Kaube. Und es lässt sich was lernen aus diesen Texten, in denen der Autor das Private resozialisiert, ohne dabei therapeutisch zu sein, wie Kaube es formuliert. Dass Kluge sich auf Menschen bezieht, und nicht nur in den in diesem Band enthaltenen Reden auf Wegbegleiter, wie Habermas, Gaus und Müller, dem widerspricht der für Kaube schönste Text des Bandes wohl auch nur scheinbar: Es ist ein Plädoyer für die Oper als Erfahrungsort für Kinder.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2012

Die Wirklichkeit ergänzen
Es gilt das Gesetz des Vermischten: In „Das fünfte Buch“ erkundet Alexander Kluge Wendepunkte in Lebensbahnen
Eine nur siebzehn Zeilen umfassende Geschichte in Alexander Kluges „Fünftem Buch“ trägt den Titel „Wie ich Thomas Manns Villa umschlich“. Sie handelt davon, wie der Autor in den frühen 1950er Jahren als junger Mann mit seiner Schwester per Anhalter in die Schweiz fährt, in Zürich das Haus Thomas Manns aufsucht und betrachtet, während seine Schwester an der Straßenecke wartet „wie die Gefährtin eines Verbrechers, die Wache hält“. Weil der junge Mann weiß, wie sorgfältig der große Autor seine Tages- und Lebenszeit verwaltet, erwartet er nicht, dass er mit einem Unbekannten auch nur einige Minuten teilen würde. Er wagt nicht, an der Haustür zu klingeln. So steht im Mittelpunkt der kleinen Geschichte eine nicht gehaltene kurze Vorstellungsrede: „Ich bin mit Erfolg geprüfter Rechtskandidat, bereite mich auf den Referendardienst in der Justizverwaltung des Landes Hessen vor, möchte Dichter werden und erbitte Ihre Ratschläge. Ihre Werke und die von Thornton Wilder habe ich in der Bibliothek des Amerikahauses in Marburg/Lahn vollständig gelesen. Gern würde ich wie Sie schreiben. Versuche haben ergeben, daß mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer.“
Inzwischen ist Alexander Kluge selber ein großer Autor geworden, hat viele Bücher und Filme gemacht, große und kleine, und es ist hinlänglich klar geworden, was der Satz „Meist werden die Texte kürzer“ meinte: Ich schreibe keine Romane. Auch was er stattdessen schreibt, ist hinlänglich klar: Er schreibt Geschichten. Eine der Geschichten, sie erschien in dem Band „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ (1973), hieß „Massensterben in Venedig“, war im drückenden Sommer 1969 angesiedelt, handelte von einer Hungerkrise mit anschließender gewaltsamer Rebellion im Altersheim San Lorenzo und benötigte für die weit über hundert Toten, die sie produzierte, nur wenig mehr als drei Druckseiten. Das musste auch deshalb auffallen, weil ihr Titel so demonstrativ den der sehr viel längeren Novelle „Tod in Venedig“ von Thomas Mann zitierte, in der trotz epidemischen Wütens der Cholera der Tod im Singular, der Tod eines großen Künstlers im Mittelpunkt stand.
Der Berichterstatterton mit eingearbeitetem Zeitungsinterview tat ein Übriges, um jeden, der das mit sich machen ließ, glauben zu machen, hier werde der Aufstand des Dokumentarischen gegen die Fiktionen geprobt und das Zeitalter des bürgerlichen Individualismus polemisch verabschiedet. „Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?“ So fragte Kluge selbst Ende November 1993 in seiner Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, die jetzt in dem schmalen, reichhaltigen Wagenbach-Bändchen „Personen und Reden“ nachzulesen ist, das zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienen ist und von der Rede zum Lessing-Preis über die Schiller-, Ricarda-Huch- und Adorno-Reden bis zu den Trauerreden auf Heiner Müller, Günter Gaus, Rudolf Augstein sowie dem Bericht über die Beerdigung von Christoph Schlingensief lauter Porträts versammelt, die zugleich Selbstauskünfte sind. Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, das Schicksal der Stadt Bitterfeld in DDR und Wendezeit – wer ist dafür zuständig, seitdem der Roman des 19. Jahrhunderts abgedankt hat? Die Zeitgeschichte.
Nicht erst, seit Kluge aus Bildern, Dokumenten und Zeugenaussagen in seinem großen Text „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“ (1977) die Zerstörung seiner Heimatstadt rekonstruiert hat, teilen die Geschichten, die er erzählt, ihre Stoffe mit der Zeitgeschichte. Aber er ist ihr großer Rivale, nicht ihr Lehrling. Er muss früh begriffen haben, was er in der Böll-Rede en passant formulierte: dass die Zeitgeschichte seit dem 20. Jahrhundert „die Instanz ist, die die Fiktionen herstellt“. Die Zeitgeschichte hat Anteil am großen Singular, der alle Geschichten und alle Quellen in die Geschichte einmünden lässt. Kluges Geschichten kennen nur den Plural, sie treten im Schwarm auf, fallen einander ins Wort, überkreuzen sich und bestehen ebenso sehr im Auflösen wie im Herstellen von Zusammenhängen, gehen aus der Tagesarbeit wie aus der Nachtarbeit Penelopes hervor. Wenn man den großen Singular der modernen Geschichtsschreibung auflöst, kehren die Chroniken, Anekdoten und Kalender wieder, mit Wind und Wetter, Markttagen, Sonnenauf- und Sonnenuntergang.
„Was macht ein literarischer Autor? Er hat in der Kinderzeit Geschichten gehört.“ Was wird er als erstes gehört haben? Geschichten aus der Verwandtschaft, von Nachbarn, Durchgereisten. Und er behält sie, unabhängig davon, ob er sie verstanden hat. Was er nicht verstanden hat, dem geht er nach. So ist es bis heute geblieben, wenn nun „Das fünfte Buch“ den Untertitel trägt: „Neue Lebensläufe. 402 Geschichten.“ Das Nachverfolgen von Lebensläufen ist nicht nur in diesem Buch das wichtigste Format des Geschichtenerzählers Kluge. Er überführt sie nicht in zu Ende erzählte Biographien, sondern in ein Mosaik punktueller Beobachtungen von Wendpunkten, an denen ein Leben entgleist, wieder auf die Bahn gerät oder sich im Ungefähren verliert.
„Nachrichten und Zeitgeschichte sind nicht nur sachlich“, heißt es in der Böll-Rede, lapidar im „Fünften Buch“: „Die Geschichten sind teils erfunden, teils nicht erfunden.“ Was das heißt, erfährt man zum Beispiel in der nicht sehr dokumentarischen Geschichte: „Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon“. Darin begegnet Karl May, der sich in sein Studierzimmer in Radebeul zurücksehnt, im Jahre 1899 in einem Hotelpalast im Süden Persiens dem berühmten Lord, der später ein Grenzzieher im Nahen Osten und in Osteuropa werden wird, und überreicht ihm eine Visitenkarte, auf die er unter den Namen Dr. h.c. Karl May in Handschrift den Titel „Hammurabiforscher“ gesetzt hat. In Klammern fügt Kluge hinzu: „ein Stück Hochstapelei steckte diesem Mann von seiner Herkunft aus dem Eulengebirge her im Blute.“ Das gilt, mit Verlaub, nicht nur für Karl May. Es gilt auch für Kluge selbst, wenn Hochstapeln heißt: die Wirklichkeit ergänzen. So kommt es im „Fünften Buch“ zu einem Abendessen zwischen Niklas Luhmann, der gerade in Frankfurt am Main sein Seminar über „Liebe als Passion“ gibt, und dem liebeskranken Theodor W. Adorno, den er in diesem Wintersemester 1968/69 vertritt, und zu einem denkwürdigen Auftritt einer in London ansässigen deutschen Ausgewanderten bei einem dortigen Auftritt des Buchautors Thilo Sarrazin.
In keinem anderen Buch Alexander Kluges treten in dem weitläufigen Gewebe der Lebensläufe die Momentaufnahmen aus der eigenen Biographie und der näheren und ferneren Familiengeschichte so sehr als roter Faden hervor wie in diesem „Fünften Buch“. In der Geschichte „Entschluß eines aufgeregten Junitages“ verschafft nicht die Macht des Schicksals, sondern des Zufalls dem Gerichtsreferendar Kluge zwischen 14 Uhr und Dienstschluss die Möglichkeit, zum Autor zu werden. Vom Porträt der Nachhilfelehrerin, die den Jungen in Latein unterweist, über die Scheidungsgeschichte der Eltern bis weit hinab in die Napoleonische Ära, wo eine Vorfahrin in die unmittelbare Nachbarschaft der Flüchtlingsgeschichten aus Goethes „Hermann und Dorothea“ gerät. Ihre Linie wird sich später mit den Vorfahren aus dem Eulengebirge und denen aus dem Südharz vereinigen, ehe dann die Zuflüsse aus Mittelengland und der Mark Brandenburg hinzustoßen. Je länger man Lebensläufe verfolgt, und je neugieriger man ihren Verzweigungen nachgeht, desto unvermeidlicher verlässt man die Regionen der Zeitgeschichte und landet im Alten Reich, im Alten Europa. Der „Fluß der Gene“ der Familiengeschichte Kluges führt vom alten Europa in die Jetztzeit. Die „Lebensläufe“ sind nicht zuletzt ein Akt der Wiederaneignung der von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Ahnenforschung. Sie machen sie zum Medium der Aufklärung. Der Aufklärung eines Mannes mit Vorfahren im Eulengebirge.
In dem sorgfältig aus Originaltexten und Kommentaren komponierten „Text und Kritik“-Band, der nun das ältere Alexander-Kluge-Heft ergänzt, deutet Gunther Martens im Blick auf die Neigung zu Zahlen, zur Montage von Wissenspartikeln und zum Wuchern der Verweise die Chroniken und Lebensläufe Kluges als eigenwillige Wiedergänger der enzyklopädischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Daher komme es, dass sich Kluges Bücher wie Lexika und Wörterbücher „eher fürs Blättern als für die kontemplative Lektüre eignen“. Es gibt aber noch ein anderes, dem Durchblättern zugewandtes Medium, dem Kluges Bücher ähneln: die Zeitung. So begegnet der Leser in diesem „Fünften Buch“ allenthalben Wiedergängern seiner Zeitungslektüre: dem toten Osama bin Laden auf einem Bild, das man nicht sieht, Dominique Strauss-Kahn, wie er unrasiert abgeführt wird, türkischen Diplomaten, die gegen die Nato-Operationen in Libyen opponieren, und Unterhändlern, die über die Rettung des verschuldeten Griechenland verhandeln, den Bankrotteuren von Lehman Brothers und chinesischen Ingenieuren, die in Bremen die Vulkanwerft abbauen.
Aber auch für sie gilt das Gesetz des „Vermischten“ in Kluges Zeitung: aktuell ist die Berührung der jüngsten Nachricht mit den ältesten Quellen, das Nebeneinander aktueller Erdbeben- und Katastrophenforschung und antiker Mythologie. Und das, was vom Interesse des Redakteurs berührt und dadurch elektrisch aufgeladen wird: So ist der Abschnitt „Menschenfeindliche Kälte“ ein Epitaph für Adorno, der Abschnitt „Die Küche des Glücks“, der vom „Tausendfüßler Liebe“ handelt, ein Epitaph für Niklas Luhmann. Wie gesagt, dies ist ein Buch zum Blättern: eine Weltzeitung, aus der sich ein Selbstporträt ihres Herausgebers und einzigen Autors herausschnippeln lässt.
LOTHAR MÜLLER
ALEXANDER KLUGE: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. 402 Geschichten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 564 Seiten, 34,95 Euro.
ALEXANDER KLUGE: Personen und Reden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 144 Seiten, 15,90 Euro.
HEINZ LUDWIG ARNOLD (Hrsg.): Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 85/86: Alexander Kluge. Neufassung. München 2011. 156 S., 26 Euro.
„Die Geschichten sind
teils erfunden,
teils nicht erfunden“
Allenthalben begegnet
der Leser Wiedergängern seiner
Zeitungslektüre
Bilder aus dem „Fünften Buch“: Ur-Szene eines Großkinos – der Globe Tower in Coney Island (links), Alexander Kluge (oben) acht Tage nach einem Sturz in Princeton; darunter das Sternbild des Nilpferds. Unten: Vermehrfachung der Augen; das von Daedalus für Königin Pasiphaë gebaute Gestell in Gestalt einer Kuh und ein Elefant, aufgestellt unter einem Mastodon. Abb. aus dem besprochenen Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr