Zum 80. Geburtstag hat sich Alexander Kluge einen zweiten SALTO-Band gewünscht,um seine Reden über andere große deutsche Öffentlichkeitsarbeiterzu sammeln: Er spricht über G. E. Lessing, Heinrich Böll, Ricarda Huch, FriedrichSchiller, T. W. Adorno, Jürgen Habermas, Heiner Müller, Rudolf Augstein,Günter Gaus und Christoph Schlingensief. Dabei gelingen ihm nicht nur verblüffendzugespitzte Portraits dieser Personen. Kluges Gedanken » durchstreifensein Hirn « und schöpfen - blitzgescheit und haarsträubend assoziativ - auseinem tiefen Fundus von Kenntnissen: Er führt literarische Beispiele (Ovid,Shakespeare oder David Hume) ebenbürtig mit historischen Ereignissen alsZeugen an, wobei sein Interesse immer den großen Wendepunkten gilt (1945,Tschernobyl oder dem 11. September).Am Ende steht ein für dieses Buch neu geschriebener Text: Ad me ipsum, indem er uns von den ihm wichtigen Produktionsmitteln des Gefühls erzählt: denBüchern, den Bildern und der Oper.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2012Die Nachtapotheke der Aufklärung
Gegen Überwältigung durch Kunst: Zum achtzigsten Geburtstag von Alexander Kluge sind Reden und Selbstauskünfte von ihm in einem Band versammelt worden.
Er schreibt keine Gedichte, keine Dramen und keine Romane. Er schreibt nicht einmal Sachbücher, von wissenschaftlichen Texten ganz zu schweigen. Dennoch ist Alexander Kluge der kompletteste Autor als Produzent, den die deutsche Literaturgeschichte seit seinen Büchern "Lebensläufe" von 1961 und "Schlachtbeschreibung - der Untergang der 6. Armee" von 1964 kennt. Zur Gattungsbezeichnung genügt ihm ein Begriff, den wiederum die Poetik nicht führt: Er erzählt - ob in Büchern, Filmen, Hörspielen, Essays oder Fernsehsendungen und ganz gleich, ob sie nun ganz, teilweise oder nicht erfunden sind - Geschichten. Er konkurriert, anders formuliert, nicht mit Dichtern, sondern mit Historikern und Journalisten. Ihnen zeigt er in Form von Literatur, was möglich ist.
Heute wird Alexander Kluge achtzig Jahre alt. Das Geschichtenerzählen hat ihm, dem Juristen, der während seines Referendariats Ende der fünfziger Jahre Theodor W. Adorno begegnete, woraufhin er Justitiar des Instituts für Sozialforschung wurde und dann durch den Regisseur Fritz Lang zum Film kam, seine Generationserfahrung nahegelegt. Es waren zunächst Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, die Kluge aufschrieb. Das Verzeichnen der militärischen und biographischen Bewegungen vor Stalingrad, die Berichte vom Luftangriff auf Halberstadt, die unzähligen Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg dienten dabei zunächst dem Versuch zu erinnern, wovon öffentlich fast niemand mehr etwas wissen wollte. Man unterschätze die eigenen Erfahrungen, heißt es an einer Stelle des vorliegenden Bandes mit Reden und Selbstauskünften Kluges, und halte dann leicht fremde Erfahrungen - solche aus dem Kino, den Massenmedien, den offiziellen Erzählungen - für die eigenen.
Zwei Quellen gesellschaftlicher Erfahrung, die auch Lebensläufe durch und durch bestimmen, hebt Kluge hervor: das Liebesleben und die gewerbliche Tätigkeit, die Produktion. Dem gegenüber stehe die Öffentlichkeit mit ihrem Interesse an Staatsaktionen, Großwetterlagen, Zahlenwolken. In diese Öffentlichkeit Berichte aus jenen anderen Erfahrungsquellen einzuführen und damit unter modernen Umständen die Funktionen des Märchens, der Ballade und der Moritat, der Kalendergeschichte und der Anekdote zu wahren gehört zur Absicht dieses Werkes. Die Aufklärung bedarf dabei der Poetik, weil sie auf "private" Beispiele angewiesen ist - man muss hier auch Kempowskis "Echolot" erwähnen - und weil die Qualität der Beispiele eben darin liegt, nicht nur Illustrationen einer These zu sein. Auf die besten Geschichten Kluges reagiert der Leser mit der Gewissheit ihres exemplarischen Charakters bei gleichzeitigem Rätseln, wofür sie exemplarisch sind.
Kluge sucht insofern nicht die faktische Wahrheit über das von ihm Berichtete, und noch weniger geht es ihm um Kunstschönheit oder gar Stil. Das Urteil, der könne doch gar nicht schreiben, greift am Sinn seiner Geschichten vorbei. Seine Literatur zielt auf das Wiedererkennen des Unbekannten. Die Wirklichkeit, die dieses Unbekannte ist, möchte man fast sagen, kann ja auch nicht schreiben. Dass wir die beste Darstellung der Schlachterfahrung vor Stalingrad von einem haben, der gar nicht dort war, sagt alles über die Erfolgsmöglichkeiten dieses Vorgehens. "Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?"
In seinen Reden auf Lessing und Schiller bezieht sich Kluge folgerichtig auf eine Epoche der deutschen Literatur, in der sie noch einen Moment lang nicht nur Kunst sein zu können schien. Noch standen Schriftsteller in enger Fühlung mit den Seelenlehren ihrer Zeit, der ernüchterten Theologie oder der Medizin, der metaphysischen und der physischen Anthropologie. Dann kamen, sehr verkürzt formuliert, Herder und Goethe, und die Literatur wurde "Ausdruck".
Alexander Kluges Temperament entfaltet sich außerhalb von Weimar. Auch die Romantik interessiert nur dort, wo sie entweder exakt ist - etwa in Goethes "Wahlverwandtschaften" -, oder als Wirkungsphänomen, als etwas, das die Leute als "fremde Erfahrung" konsumieren. Der "Bonapartismus des Geistes", der in Opern des neunzehnten Jahrhunderts und später in Filmen jede Möglichkeit verständiger Gegenwehr unter Schreckens- und Mitleidsmassen begräbt, ist für ihn nur als Objekt der Analyse, aber nicht als Vorbild ästhetischer Organisation von Belang.
Die Literatur so einzurichten, dass aus ihr gelernt werden kann, sie also kompliziert genug, aber nicht um der emotionalen Überwältigung willen, einzurichten ist seine Maxime. Man hat ihn einmal eine Art literarischen Sozialarbeiter genannt. Nur muss man von diesem Titel alles Therapeutische wegdenken. Kluge resozialisiert private Empirie. Die Montage, notiert er an einer Stelle, sei für ihn, anders als im frühen Film, kein Mittel der Überredung. Er verhalte sich nicht als Dompteur zu seinen Stoffen.
Wie der Arzt, der auch Haus- und Nachtbesuche macht, betreibt Kluge das für ihn allerdings weit einträglichere Geschäft der Nachtaufklärung durch Minutengespräche im Privatfernsehen. Hier möchte er dem alles verschlingenden Chronos Zeitlücken abgewinnen. In den Massenmedien fehle der "Glückswechsel zum Guten", sie tragen für Kluge der Tatsache zu wenig Rechnung, dass der Mensch mehr Glück als Verstand habe. Sie zapft insofern oft schwächere Kräfte - Neugier, Konformismus, Vorurteile - an, als es möglich wäre. Das Privatfernsehen ist gar keines, der Atem des Privaten kommt in ihm und seinen Schablonen so wenig vor wie die Öffentlichkeit im öffentlich-rechtlichen.
Alexander Kluge schreibt das als Angehöriger einer Generation, deren Lehre Menschen waren, die noch ohne Fernsehen aufwuchsen. Der schönste Text des kleinen Bandes - der auch Reden auf Jürgen Habermas, Günter Gaus, Heiner Müller und Christof Schlingensief enthält - ist ein Plädoyer dafür, Kinder mit der Oper in Berührung zu bringen. Nein, hatte sein Vater gemeint, zu Gounods "Margarethe" könne man den Jungen nicht mitnehmen, da gehe es um Abtreibung. So sah er als Erstes "Tosca", in der "an einem einzigen Tag alle Protagonisten aneinander sterben". Bei Humperdincks kindgerechtem Märchen habe er mehr geweint, aber weniger davon gehabt. Will sagen: Es gibt keinen Grund, dem Publikum den Ernstfall zu ersparen. Sei es noch so klein oder noch so zerstreut.
JÜRGEN KAUBE
Alexander Kluge: "Personen und Reden".
Wagenbach Verlag, Berlin 2012. 144 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gegen Überwältigung durch Kunst: Zum achtzigsten Geburtstag von Alexander Kluge sind Reden und Selbstauskünfte von ihm in einem Band versammelt worden.
Er schreibt keine Gedichte, keine Dramen und keine Romane. Er schreibt nicht einmal Sachbücher, von wissenschaftlichen Texten ganz zu schweigen. Dennoch ist Alexander Kluge der kompletteste Autor als Produzent, den die deutsche Literaturgeschichte seit seinen Büchern "Lebensläufe" von 1961 und "Schlachtbeschreibung - der Untergang der 6. Armee" von 1964 kennt. Zur Gattungsbezeichnung genügt ihm ein Begriff, den wiederum die Poetik nicht führt: Er erzählt - ob in Büchern, Filmen, Hörspielen, Essays oder Fernsehsendungen und ganz gleich, ob sie nun ganz, teilweise oder nicht erfunden sind - Geschichten. Er konkurriert, anders formuliert, nicht mit Dichtern, sondern mit Historikern und Journalisten. Ihnen zeigt er in Form von Literatur, was möglich ist.
Heute wird Alexander Kluge achtzig Jahre alt. Das Geschichtenerzählen hat ihm, dem Juristen, der während seines Referendariats Ende der fünfziger Jahre Theodor W. Adorno begegnete, woraufhin er Justitiar des Instituts für Sozialforschung wurde und dann durch den Regisseur Fritz Lang zum Film kam, seine Generationserfahrung nahegelegt. Es waren zunächst Kriegs- und Nachkriegsgeschichten, die Kluge aufschrieb. Das Verzeichnen der militärischen und biographischen Bewegungen vor Stalingrad, die Berichte vom Luftangriff auf Halberstadt, die unzähligen Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg dienten dabei zunächst dem Versuch zu erinnern, wovon öffentlich fast niemand mehr etwas wissen wollte. Man unterschätze die eigenen Erfahrungen, heißt es an einer Stelle des vorliegenden Bandes mit Reden und Selbstauskünften Kluges, und halte dann leicht fremde Erfahrungen - solche aus dem Kino, den Massenmedien, den offiziellen Erzählungen - für die eigenen.
Zwei Quellen gesellschaftlicher Erfahrung, die auch Lebensläufe durch und durch bestimmen, hebt Kluge hervor: das Liebesleben und die gewerbliche Tätigkeit, die Produktion. Dem gegenüber stehe die Öffentlichkeit mit ihrem Interesse an Staatsaktionen, Großwetterlagen, Zahlenwolken. In diese Öffentlichkeit Berichte aus jenen anderen Erfahrungsquellen einzuführen und damit unter modernen Umständen die Funktionen des Märchens, der Ballade und der Moritat, der Kalendergeschichte und der Anekdote zu wahren gehört zur Absicht dieses Werkes. Die Aufklärung bedarf dabei der Poetik, weil sie auf "private" Beispiele angewiesen ist - man muss hier auch Kempowskis "Echolot" erwähnen - und weil die Qualität der Beispiele eben darin liegt, nicht nur Illustrationen einer These zu sein. Auf die besten Geschichten Kluges reagiert der Leser mit der Gewissheit ihres exemplarischen Charakters bei gleichzeitigem Rätseln, wofür sie exemplarisch sind.
Kluge sucht insofern nicht die faktische Wahrheit über das von ihm Berichtete, und noch weniger geht es ihm um Kunstschönheit oder gar Stil. Das Urteil, der könne doch gar nicht schreiben, greift am Sinn seiner Geschichten vorbei. Seine Literatur zielt auf das Wiedererkennen des Unbekannten. Die Wirklichkeit, die dieses Unbekannte ist, möchte man fast sagen, kann ja auch nicht schreiben. Dass wir die beste Darstellung der Schlachterfahrung vor Stalingrad von einem haben, der gar nicht dort war, sagt alles über die Erfolgsmöglichkeiten dieses Vorgehens. "Was ist ein epischer Roman gegen die Entwicklung des Ruhrgebiets im Verlauf vieler Generationen, gegenüber dem Aufstieg und Untergang ganzer Industrien, gegenüber den Geschicken der Stadt Bitterfeld?"
In seinen Reden auf Lessing und Schiller bezieht sich Kluge folgerichtig auf eine Epoche der deutschen Literatur, in der sie noch einen Moment lang nicht nur Kunst sein zu können schien. Noch standen Schriftsteller in enger Fühlung mit den Seelenlehren ihrer Zeit, der ernüchterten Theologie oder der Medizin, der metaphysischen und der physischen Anthropologie. Dann kamen, sehr verkürzt formuliert, Herder und Goethe, und die Literatur wurde "Ausdruck".
Alexander Kluges Temperament entfaltet sich außerhalb von Weimar. Auch die Romantik interessiert nur dort, wo sie entweder exakt ist - etwa in Goethes "Wahlverwandtschaften" -, oder als Wirkungsphänomen, als etwas, das die Leute als "fremde Erfahrung" konsumieren. Der "Bonapartismus des Geistes", der in Opern des neunzehnten Jahrhunderts und später in Filmen jede Möglichkeit verständiger Gegenwehr unter Schreckens- und Mitleidsmassen begräbt, ist für ihn nur als Objekt der Analyse, aber nicht als Vorbild ästhetischer Organisation von Belang.
Die Literatur so einzurichten, dass aus ihr gelernt werden kann, sie also kompliziert genug, aber nicht um der emotionalen Überwältigung willen, einzurichten ist seine Maxime. Man hat ihn einmal eine Art literarischen Sozialarbeiter genannt. Nur muss man von diesem Titel alles Therapeutische wegdenken. Kluge resozialisiert private Empirie. Die Montage, notiert er an einer Stelle, sei für ihn, anders als im frühen Film, kein Mittel der Überredung. Er verhalte sich nicht als Dompteur zu seinen Stoffen.
Wie der Arzt, der auch Haus- und Nachtbesuche macht, betreibt Kluge das für ihn allerdings weit einträglichere Geschäft der Nachtaufklärung durch Minutengespräche im Privatfernsehen. Hier möchte er dem alles verschlingenden Chronos Zeitlücken abgewinnen. In den Massenmedien fehle der "Glückswechsel zum Guten", sie tragen für Kluge der Tatsache zu wenig Rechnung, dass der Mensch mehr Glück als Verstand habe. Sie zapft insofern oft schwächere Kräfte - Neugier, Konformismus, Vorurteile - an, als es möglich wäre. Das Privatfernsehen ist gar keines, der Atem des Privaten kommt in ihm und seinen Schablonen so wenig vor wie die Öffentlichkeit im öffentlich-rechtlichen.
Alexander Kluge schreibt das als Angehöriger einer Generation, deren Lehre Menschen waren, die noch ohne Fernsehen aufwuchsen. Der schönste Text des kleinen Bandes - der auch Reden auf Jürgen Habermas, Günter Gaus, Heiner Müller und Christof Schlingensief enthält - ist ein Plädoyer dafür, Kinder mit der Oper in Berührung zu bringen. Nein, hatte sein Vater gemeint, zu Gounods "Margarethe" könne man den Jungen nicht mitnehmen, da gehe es um Abtreibung. So sah er als Erstes "Tosca", in der "an einem einzigen Tag alle Protagonisten aneinander sterben". Bei Humperdincks kindgerechtem Märchen habe er mehr geweint, aber weniger davon gehabt. Will sagen: Es gibt keinen Grund, dem Publikum den Ernstfall zu ersparen. Sei es noch so klein oder noch so zerstreut.
JÜRGEN KAUBE
Alexander Kluge: "Personen und Reden".
Wagenbach Verlag, Berlin 2012. 144 S., geb., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Was ist das für einer, dieser Alexander Kluge, der heute 80 wird? Jürgen Kaube versucht sich in einer Definition jenseits der bekannten Muster. Kein Dichter sei er, kein Dramatiker, kein Romancier, eher ein Historiker. Dass Kluge wenig auf Stil und Kunstschönheit setzt und viel auf die Quellen persönlicher Erfahrung, die für ihn stets exemplarisch sind, weiß Kaube. Und es lässt sich was lernen aus diesen Texten, in denen der Autor das Private resozialisiert, ohne dabei therapeutisch zu sein, wie Kaube es formuliert. Dass Kluge sich auf Menschen bezieht, und nicht nur in den in diesem Band enthaltenen Reden auf Wegbegleiter, wie Habermas, Gaus und Müller, dem widerspricht der für Kaube schönste Text des Bandes wohl auch nur scheinbar: Es ist ein Plädoyer für die Oper als Erfahrungsort für Kinder.
© Perlentaucher Medien GmbH
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