Perspektive-Deutschland ist das Stimmungsbarometer für Deutschland. Seit 2001 haben jedes Jahr jeweils bis zu einerhalbe Million Menschen ihre Meinung geäußert. Aus den Antworten der Bürger zu den zentralen Themen der aktuellen Reformdiskussion – Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit, Familie und Bildung – ist eine einzigartige und repräsentative Beschreibung der Gemütslage der Deutschen entstanden. Die Autoren belassen es aber nicht bei der Analyse, sondern zeigen auch Wege aus der Krise auf. Viele Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft bezeichnen die Ergebnisse von Perspektive-Deutschland deshalb als eine wesentliche Grundlage ihrer Entscheidungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2006Gar nicht so ängstlich
Die Unternehmensberatung McKinsey findet heraus, daß die Deutschen schmerzliche Reformen als notwendig empfinden
Jammern und Verzagtheit wollen im öffentlichen Gerede kein Ende nehmen. Zwar zeigen nahezu alle Konjunkturbarometer verhalten positive Tendenz, aber das tiefsitzende Gefühl, in einer Krise zu stecken, aus der man nicht herauskommt, will nicht weichen. Jede ganz unvermeidliche Diskussion um eine anstehende Reform weitet sich aus in grundsätzliche Überlegungen, ob das alles wirklich noch verkraftbar ist. Die Botschaft dieses Buches ist hingegen eine ganz andere: Die Deutschen sind gar nicht so verzagt, wie immer glauben gemacht wird. Sie wissen, daß es nicht mehr so wie bisher weitergehen kann. Sie wollen Leistung bringen und sind bereit, sich zu engagieren, sehen ein, daß schmerzliche Reformen notwendig sind, und warten eigentlich nur darauf, daß endlich tatkräftige, wirklich mutige und entschlossene Politiker die Ärmel hochkrempeln und die entscheidenden Maßnahmen treffen, allerdings sozial gerecht und gleichmäßig zu Lasten aller.
Das Buch faßt die Ergebnisse einer Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey zusammen. Sie lief unter dem Motto "Perspektive Deutschland" über mehr als fünf Jahre, und als Besonderheit wurde dabei neben der üblichen Befragung das Internet herangezogen. Dieses inzwischen alltägliche, vor fünf Jahren doch noch etwas neue Medium erlaubte einen breiteren Fragenkatalog, zudem die wiederholte Ansprache von Personen, die sich einmal beteiligt hatten und erneut zur Mitarbeit bereit waren. So haben sich an den fünf Durchgängen zwischen 2001 und 2005 nahezu 1,3 Millionen Menschen beteiligt; Altbundespräsident von Weizsäcker, der dem Projekt als Schirmherr diente, spricht denn auch von der "größten gesellschaftspolitischen Online-Umfrage der Welt".
Glaubt man den ermittelten Aussagen, so hat die Strukturkrise in Deutschland tiefe Spuren hinterlassen. Hedonismus und Spaßgesellschaft mögen den Alltag prägen; in Wirklichkeit aber rangieren in der Wertschätzung Berufserfolg, Arbeit und Familienleben weit vor allem Lebensgenuß. Man weiß, daß die fetten Jahre vorbei sind, aber man ist auch bereit, notfalls mehr zu arbeiten, Einbußen in Kauf zu nehmen und mehr "marktwirtschaftliche Elemente" - sprich: mehr Eigenverantwortung - zu akzeptieren. Die Autoren sprechen hier von einer neuen "sozialen Leistungsgesellschaft".
Kann also die Politik guten Gewissens den Bürgern mehr Eigenverantwortung zumuten? Wenn es konkret um die soziale Sicherung geht, möchte man doch Vater Staat auch künftig hinter sich wissen: "Die große Mehrheit der Deutschen lehnt ein System ab, bei dem an Stelle des Staates jeder frei entscheidet, ob und in welchem Umfang er sich privat absichert." Das gilt besonders bei Kranken- und Arbeitslosenversicherung, bei den Renten und in der Bildung. Die Menschen wollen, so spitzen es die Autoren zu, keinen Systembruch in Richtung einer rein privaten Absicherung, erst recht nicht auf freiwilliger Basis: "Sie möchten im Prinzip an einer staatlichen Absicherung der grundlegenden Bedürfnisse festhalten." An diesem Punkt möchte man den Autoren dann doch nicht so recht glauben, daß in Deutschland die alte Wohlfahrtsmentalität wirklich passé ist.
Die Internet-Befragung erbrachte auch detaillierte Auskünfte. Der im zweiten Teil des Buches wiedergegebene "Regionenatlas" ist ein spannend zu lesender Sozialatlas. Das Territorium der Bundesrepublik wurde in 117 Regionen unterteilt: in 15 Großstädte, in 37 Agglomerationsräume, in 42 verstädterte und in 23 ländliche Räume. Zu jeder Region und dann übergreifend zu allen 16 Bundesländern wurden Einschätzungen zusammengefaßt, was als besondere Stärke angesehen wurde, womit man zufrieden ist und was Unwille und Unzufriedenheit hervorruft.
Vieles davon weiß man natürlich, so daß Baden-Württemberg und Bayern zusammen mit Hamburg ganz vorne liegen, daß München Deutschlands Großstadt Nummer eins ist und daß Sachsen-Anhalt nur schwer vorankommt. Interessanter ist, wo Stärken und Schwächen gesehen werden. Das generell äußerst schlechte Bild der Parteien kann sich rapide ändern, wenn ein tüchtiger Kommunalpolitiker, Bürgermeister oder Landrat mit Energie die Dinge vorantreibt. Fast aus allen Regionen, ob Stadt oder Land, kommen Klagen über ungenügende Bildung, seien es Schulen oder Vorschulerziehung. In fast allen größeren Regionen herrscht Unsicherheit angesichts von Aggression und Gewalt; in den östlichen Bundesländern gibt es mitunter eine deprimierend niedrige Zukunftshoffnung. Die Datensätze dieser vor wenigen Monaten abgeschlossenen Untersuchung wurden dem Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln überlassen. Im Internet sind sie unter www.perspektive-deutschland.de frei zugänglich.
DIRK KLOSE
Heino Fassbender/Jürgen Kluge: Perspektive Deutschland. Was die Deutschen wirklich wollen. Econ Verlag, Berlin 2006. 256 S., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Unternehmensberatung McKinsey findet heraus, daß die Deutschen schmerzliche Reformen als notwendig empfinden
Jammern und Verzagtheit wollen im öffentlichen Gerede kein Ende nehmen. Zwar zeigen nahezu alle Konjunkturbarometer verhalten positive Tendenz, aber das tiefsitzende Gefühl, in einer Krise zu stecken, aus der man nicht herauskommt, will nicht weichen. Jede ganz unvermeidliche Diskussion um eine anstehende Reform weitet sich aus in grundsätzliche Überlegungen, ob das alles wirklich noch verkraftbar ist. Die Botschaft dieses Buches ist hingegen eine ganz andere: Die Deutschen sind gar nicht so verzagt, wie immer glauben gemacht wird. Sie wissen, daß es nicht mehr so wie bisher weitergehen kann. Sie wollen Leistung bringen und sind bereit, sich zu engagieren, sehen ein, daß schmerzliche Reformen notwendig sind, und warten eigentlich nur darauf, daß endlich tatkräftige, wirklich mutige und entschlossene Politiker die Ärmel hochkrempeln und die entscheidenden Maßnahmen treffen, allerdings sozial gerecht und gleichmäßig zu Lasten aller.
Das Buch faßt die Ergebnisse einer Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey zusammen. Sie lief unter dem Motto "Perspektive Deutschland" über mehr als fünf Jahre, und als Besonderheit wurde dabei neben der üblichen Befragung das Internet herangezogen. Dieses inzwischen alltägliche, vor fünf Jahren doch noch etwas neue Medium erlaubte einen breiteren Fragenkatalog, zudem die wiederholte Ansprache von Personen, die sich einmal beteiligt hatten und erneut zur Mitarbeit bereit waren. So haben sich an den fünf Durchgängen zwischen 2001 und 2005 nahezu 1,3 Millionen Menschen beteiligt; Altbundespräsident von Weizsäcker, der dem Projekt als Schirmherr diente, spricht denn auch von der "größten gesellschaftspolitischen Online-Umfrage der Welt".
Glaubt man den ermittelten Aussagen, so hat die Strukturkrise in Deutschland tiefe Spuren hinterlassen. Hedonismus und Spaßgesellschaft mögen den Alltag prägen; in Wirklichkeit aber rangieren in der Wertschätzung Berufserfolg, Arbeit und Familienleben weit vor allem Lebensgenuß. Man weiß, daß die fetten Jahre vorbei sind, aber man ist auch bereit, notfalls mehr zu arbeiten, Einbußen in Kauf zu nehmen und mehr "marktwirtschaftliche Elemente" - sprich: mehr Eigenverantwortung - zu akzeptieren. Die Autoren sprechen hier von einer neuen "sozialen Leistungsgesellschaft".
Kann also die Politik guten Gewissens den Bürgern mehr Eigenverantwortung zumuten? Wenn es konkret um die soziale Sicherung geht, möchte man doch Vater Staat auch künftig hinter sich wissen: "Die große Mehrheit der Deutschen lehnt ein System ab, bei dem an Stelle des Staates jeder frei entscheidet, ob und in welchem Umfang er sich privat absichert." Das gilt besonders bei Kranken- und Arbeitslosenversicherung, bei den Renten und in der Bildung. Die Menschen wollen, so spitzen es die Autoren zu, keinen Systembruch in Richtung einer rein privaten Absicherung, erst recht nicht auf freiwilliger Basis: "Sie möchten im Prinzip an einer staatlichen Absicherung der grundlegenden Bedürfnisse festhalten." An diesem Punkt möchte man den Autoren dann doch nicht so recht glauben, daß in Deutschland die alte Wohlfahrtsmentalität wirklich passé ist.
Die Internet-Befragung erbrachte auch detaillierte Auskünfte. Der im zweiten Teil des Buches wiedergegebene "Regionenatlas" ist ein spannend zu lesender Sozialatlas. Das Territorium der Bundesrepublik wurde in 117 Regionen unterteilt: in 15 Großstädte, in 37 Agglomerationsräume, in 42 verstädterte und in 23 ländliche Räume. Zu jeder Region und dann übergreifend zu allen 16 Bundesländern wurden Einschätzungen zusammengefaßt, was als besondere Stärke angesehen wurde, womit man zufrieden ist und was Unwille und Unzufriedenheit hervorruft.
Vieles davon weiß man natürlich, so daß Baden-Württemberg und Bayern zusammen mit Hamburg ganz vorne liegen, daß München Deutschlands Großstadt Nummer eins ist und daß Sachsen-Anhalt nur schwer vorankommt. Interessanter ist, wo Stärken und Schwächen gesehen werden. Das generell äußerst schlechte Bild der Parteien kann sich rapide ändern, wenn ein tüchtiger Kommunalpolitiker, Bürgermeister oder Landrat mit Energie die Dinge vorantreibt. Fast aus allen Regionen, ob Stadt oder Land, kommen Klagen über ungenügende Bildung, seien es Schulen oder Vorschulerziehung. In fast allen größeren Regionen herrscht Unsicherheit angesichts von Aggression und Gewalt; in den östlichen Bundesländern gibt es mitunter eine deprimierend niedrige Zukunftshoffnung. Die Datensätze dieser vor wenigen Monaten abgeschlossenen Untersuchung wurden dem Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln überlassen. Im Internet sind sie unter www.perspektive-deutschland.de frei zugänglich.
DIRK KLOSE
Heino Fassbender/Jürgen Kluge: Perspektive Deutschland. Was die Deutschen wirklich wollen. Econ Verlag, Berlin 2006. 256 S., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gern würde Dirk Klose die positive Botschaft des Bandes erhören. Allein, was McKinsey mit Hilfe des Internets hier zusammengetragen hat (1,3 Millionen Stimmen zur Lage der Nation) - all der dokumentierte Leistungswille und die Hoffnungsfreude gegen die allseits angenommene Verzagtheit -, will Klose doch nicht ganz für bare Münze nehmen: Die Wohlfahrtsmentalität soll passe sein? Klose bleibt skeptisch. Lieber informiert er sich mit Hilfe des regionalen Sozialatlas' "detailliert" über die Sorgen und Nöte der Menschen in den einzelnen Bundesländern. Wenn ihm auch vieles davon bekannt erscheint, so hält er die Unterschiede bei den aufgezeigten Stärken und Schwächen doch für spannend und aufschlussreich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die Botschaft dieses Buches ist ... eine ganz andere: Die Deutschen sind garnicht so verzagt, wie immer glauben gemacht wird. Sie wissen, daß es nicht mehr so weitergehen kann. Sie wollen Leistung bringen und sind bereit, sich zu engagieren, sehen ein, daß schmerzliche Reformen notwendig sind, und warten eigentlich nur darauf, daß endlich tatkräftige, wirklich mutige und entschlossenen Politiker die Ärmel hochkrempeln und die entscheidenen Maßnahmen treffen, allerdings sozial gerecht und gleichmäßig zu Lasten aller." FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG "Wer die Botschaften aus dem Volk hören will und nach Verbesserungsvorschlägen für den sozialen Leistungsstaat sucht, sollte das Buch lesen." GONG