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Petersburg 1905: vierundzwanzig Stunden aus dem Leben des Revoluzzers und Kant-Adepten Nikolaj Apollonowitsch, der seinen Vater, einen Senator, mit einer Bombe ermorden soll. Aber schon ein lächerlicher Auftritt des Sohnes genügt, um den Vater zu Fall zu bringen. Unnachahmlich hat Andrej Belyj in seinem berühmtesten Roman die vorrevolutionäre Stimmung im alten Petersburg eingefangen.

Produktbeschreibung
Petersburg 1905: vierundzwanzig Stunden aus dem Leben des Revoluzzers und Kant-Adepten Nikolaj Apollonowitsch, der seinen Vater, einen Senator, mit einer Bombe ermorden soll. Aber schon ein lächerlicher Auftritt des Sohnes genügt, um den Vater zu Fall zu bringen. Unnachahmlich hat Andrej Belyj in seinem berühmtesten Roman die vorrevolutionäre Stimmung im alten Petersburg eingefangen.
Autorenporträt
Andrej Belyj (1880–1934) gilt als bedeutendster Vertreter des russischen Symbolismus in der Prosa. Sein frühestes Werk, die Dramatischen Symphonien (1902), steht unter dem Einfluß Richard Wagners und Skrjabins, sein später Roman Kotik Letajew (1926; dt. 1992) ist von anthroposophischen Ideen inspiriert. Belyj, der auch als Essayist und Kritiker tätig war, entwickelte eine Theorie der Verskunst und schrieb eine große Abhandlung über den Stil Gogols. 1921 Emigration nach Berlin, 1923 Rückkehr nach Rußland. Er starb 1934 in Moskau. Gabriele Leupold ist Übersetzerin aus dem Russischen (u. a. Michail Bachtin, Vladimir Sorokin, Michail Ryklin) und Veranstalterin von Workshops für Übersetzer und Studierende. Für ihre Arbeit erhielt sie mehrere Preise, u.a. den Celan Preis (2002) für die Übersetzung von Andrej Belyjs Petersburg, sowie den Johann-Heinrich-Voß-Preis (2012). Geboren am 2.1.1946 in Rimavská Sobota (Slowakei) als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen. Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest. Volksschule und Gymnasium in Zürich, 1964 Abitur. 1965-1971 Studium der Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg. 1971 Promotion (Dissertation: Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur , Herbert Lang Verlag, Bern 1973). 1971-1977 Assistentin am Slawistischen Institut der Universität Zürich. Seit 1977 Lehrbeauftragte der Universität Zürich. Außerdem Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin (Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT). Ilma Rakusa ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt). Sie lebt in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2003

Moskau ist Don Quijote, Petersburg der Hamlet
Vom Rollen- und Ränkespiel der russischen Stadtcharaktere: Die Stadt an der Newa als literarisches Kulturmodell / Von Felix Philipp Ingold

Rußland sei auf Moskau, Petersburg auf Rußland angewiesen, hat einst Nikolaj Gogol in einem launigen Feuilleton notiert ("Petersburger Skizzen", 1836), und er ist damit zum Autor einer Sentenz geworden, die bis heute zum polemischen Arsenal großrussischer Patrioten gehört. Die vertrackte rhetorische Figur hält Petersburgs doppelte Abhängigkeit von der russischen "Mutter Erde" und vom alten "Mütterchen Moskau" fest. Das bunte, dörfliche, hölzerne, bodenständige und rechtgläubige Moskau bildet, nach Gogol, Rußlands geistige und politische Mitte, während die periphere, erst viel später - 1703 - von Peter dem Großen gegründete nördliche Metropole (Regierungssitz seit 1712) lediglich "für Europa sich schön macht und den Ausländern zunickt". Dem traditionsreichen und fortschrittsfeindlichen moskowitischen Rußland setzte der Zar eine moderne, vom Westen geprägte und nach Westen orientierte Reichshauptstadt entgegen, die er in einem ebenso exzentrischen wie gewalthaften, dabei hoch symbolischen Schöpfungsakt aus sumpfigem Gelände entstehen ließ.

Schon ein halbes Jahrhundert nach Baubeginn konnte der Dichter Wassilij Trediakowskij das "prächtige Petersburg" als ein neues, von Menschenhand errichtetes "Paradies" belobigen, "begründet von Peter unserm Zaren, / Erbaut zum Nutzen aller und zu Rußlands Zierde . . . / Ein Paradies, wo Ödnis war und Leere!" - nunmehr zu vergleichen mit den schönsten und ruhmvollsten Städten Europas: Rom und Venedig, Amsterdam, London und Paris. Lange Zeit gehörten der Hinweis auf die wundersame Erschaffung Petersburgs aus unwirtlichem Niemandsland sowie der Vergleich der jüngsten aller europäischen Kapitalen mit der Stadt des heiligen Petrus, mit dem antiken Palmyra oder den Gärten der Semiramis zum guten Ton der russischen Hofdichtung. Noch Puschkin ("Der eherne Reiter", 1833) konnte solcherart in den Lobgesang auf "Peters Schöpfung" und deren "strenge Wohlgestalt" einstimmen: "Aus finstrem Wald, aus schwankem Sumpf / Ist prachtvoll-stolz die Stadt erstanden. / Wo einst als Stiefsohn der Natur / Am flachen Ufer ganz alleine / Der arme Finnen-Fischer nur / In unerforschte Fluten seine / Zerschlißnen Netze warf, drängt heut, / An Uferstraßen aufgereiht, / Großmächtig in belebter Enge / Palast und Turm sich . . . / Und vor der jüngren Hauptstadt bleichet / Die alte - Moskau - und ihr Ruhm . . ."

Auch als dieser Ton - mit Gogol, dann mit Grigorjew und Majkow, Nekrassow und Dostojewskij - allmählich auf das Niveau der Volkssprache heruntermoderiert, ironisch verfremdet, sarkastisch verschärft und schließlich (bei Blok, Belyj, Mandelstam, Georgij Iwanow) tragisch umgestimmt wurde, blieben die genannten Konstanten erhalten: Der Gründungsmythos verkehrte sich dabei in die apokalyptische Vision vom Untergang Petersburgs und der Wiederherstellung der ursprünglichen Ödnis, während das pathetisch antikisierende Stadtlob mehr und mehr dem kritischen Vergleich Petersburgs mit Sodom oder Babylon, mit der Hölle, mit einem Theater, einem Bordell, einer Kaserne, einem Armenhaus, einem Friedhof oder gar (bei Mandelstam) mit einem einzigen gigantischen Sarg weichen sollte. "Adieu, du kalte Stadt, Stadt ohne Leidenschaft", so wurde Petersburg bereits 1846 von Apollon Grigorjew streng verabschiedet: "Grandiose Stadt der Sklaven, leb wohl . . . / Europa gleich zu sein, sich mit ihm zu messen, / Murmelst du, wie ein Araber seine Sure, / Ach, scher dich zum Teufel, ja, Verdammte du!"

In einer historischen Novelle über "Seine Majestät Kneeb Piter Kommandor" (1919) denunziert Boris Pilnjak "das ,Paradies' Peters" als eine "furchtbare Stadt auf todbringenden Sümpfen mit todbringenden Nebeln und brandigen Fieberkrankheiten", und einen alten Gottesnarren läßt er den Stadtgründer wie folgt beschreiben: "Unser Zar hält eine Pfeife zwischen den Zähnen wie ein fremdländischer Maat, trägt ein Gewand wie ein Teutscher, sauft wie ein Büttel, schimpfiert und flucht unflätig wie ein Tatar - der Za-ar! . . . Grachf! . . . Vernimm, was ich dir sag': unser Zar ist unterschoben, ist ein Teutscher!"

Hier wird, zweihundert Jahre nach der Stadtgründung, in prägnanter Raffung noch einmal das Generalthema intoniert, das die einschlägige russische Belletristik und Publizistik zuvor schon höchst variantenreich entfaltet hat - Petersburg als fremdartiges, mit der "russischen Seele" unverträgliches Phantasie- und Kunstkonstrukt, als etwas Aufgepfropftes, Aufgezwungenes, Unnatürliches, wenn nicht Perverses, das der "organischen" Geschichtsentwicklung Rußlands ebenso unversöhnlich zuwiderläuft wie dem "ganzheitlichen" oder "gemeinschaftlichen" russischen Selbstverständnis.

Die glanzvolle, zwischen Rationalität und Phantastik ständig changierende Künstlichkeit Petersburgs bildet den denkbar schärfsten Kontrast zur Natürlichkeit und Gemütlichkeit, zur bergenden und nährenden "Mütterlichkeit" Moskaus. Die alte und die neue, die "natürliche" (gewachsene) und die "künstliche" (erdachte) Hauptstadt stehen denn auch exemplarisch für den Gegensatz von Natur und Kultur, Eigen und Fremd, Mitte und Rand, Ost und West, Volk und Staat, Sein und Schein, in der Literatur werden sie auch nach so unterschiedlichen Kriterien wie weiblich/männlich, synthetisch/analytisch, geschichtsträchtig/geschichtslos, bunt/grau, Herz/Kopf unterschieden, und in bezug auf den jeweiligen städtischen Charakter bekommt Moskau auch schon mal die Rolle des Don Quijote, Petersburg die des Hamlet zugewiesen. "Moskau ist aus russischer Erde emporgewachsen und von russischer Erde - nicht von einem sumpfigen Friedhof - umgeben", heißt es in einem kritischen Versuch von Dmitrij Mereshkowskij ("Winterliche Regenbögen", 1905): "Moskau ist selbst erwachsen, Petersburg aber wurde gezüchtet, aus der Erde herausgezerrt oder einfach ,erfunden'." Der bis heute fortgeführte interurbane Dialog zwischen Moskau und Petersburg ist nichts anderes als eine Kreuzung von zwei monologischen Diskursen, die eher auf Selbstbehauptung und Abgrenzung denn auf Übereinkunft oder Versöhnung angelegt sind. Durch diese kontroverse innere Zwiesprache ist Rußland unausweichlich mit sich selbst ins Gespräch gekommen und hat daraus immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen.

Petersburg hat keine Seele - dafür gab es keine historische Notwendigkeit", konstatierte noch in der frühen Sowjetzeit der Philologe und Kulturpublizist Boris Eichenbaum: "Gerade seine Seelenlosigkeit macht Petersburg so faszinierend - es ist die Stadt des Intellekts, der Fiktion, die so leicht die Gestalt eines steinernen Gespenstes annehmen konnte . . . Moskau wirkt malerisch, wohingegen Petersburg bloß Skizze, Kontur und Schema ist." Die Skizzen- und Schemenhaftigkeit Petersburgs, sein rasterartiger Grundriß, seine gespenstische Kulissenhaftigkeit - all dies trug dazu bei, daß man die Stadt als etwas vernünftig und zielbewußt Geplantes, zugleich aber auch als eine unheimliche, wenn nicht bedrohliche Phantasmagorie wahrnehmen konnte. Gogol: "Alles Trug, alles Phantasterei, alles nicht das, was es zu sein scheint!" Dostojewskij: "Die unwirklichste und ausgeklügeltste aller Städte." Und endlich, im Vorfeld der Revolution, Andrej Belyj: "Petersburg! Petersburg! Auch mich hast du, ein fallender Nebel, verfolgt als müßiges Hirnspiel: Du bist ein unbarmherziger Quälgeist; du bist ein ruheloses Trugbild . . ." Das Phantastische bestand (zumal mit Blick aus Moskau und also in traditioneller russischer Optik) vorab darin, daß Petersburgs Stadtbild wie auch sein soziales Gefüge und seine Geisteswelt aus lauter disparaten Versatzstücken sich zusammensetzte, deren Gesamtheit im vorgegebenen geographischen und geschichtlichen Kontext geradezu exotisch, jedenfalls ganz und gar unrussisch wirken mußte - die junge Reichshauptstadt als erstes Potemkinsches Dorf Rußlands!

"Ich wußte nicht -", so liest man in einem poetischen Sendschreiben Wilhelm Küchelbeckers an Alexander Puschkin (1833): "War's wirklich, war's ein Traum, / was prunkvoll meinen Blicken da erschien. / Begeistert suchte ich die Pracht zu fassen - / ich vermocht' es nicht; ein jedes Haus / kam mir schon fast so vor wie ein Palast, / die Straßen waren breit wie sonst nur Plätze, / die Schneider und die Schuster waren Fürsten / und jeder Offizier ein General . . ."

Nikolaj Gogol glaubte in der "Residenz Rußlands" die Stein gewordene Personifizierung eines "gewandten Europäers", genauer: eines "Menschen von peinlicher Akkuratesse", mithin einen "echten Deutschen" zu erkennen; er fand Petersburg "ganz in kleine Stücke zersplittert" und zersiedelt in zahllose "Läden und Kaufhäuser". Alles hier war fremd, und all die fremden Teilstücke - die unterschiedlichsten ethnischen, gesellschaftlichen, religiösen Ingredienzien - koexistierten weitgehend unverbunden: "Es ist schwer, die allgemeine Physiognomie von Petersburg zu schildern. Es hat etwas, das an eine amerikanische Kolonie in Europa erinnert - ebenso wenig ursprüngliche (d. h. russische) Nationalität und ebenso viel fremdländische Mischlinge, die sich noch nicht zu einer festen Masse zusammengefügt haben. So viele verschiedene Nationen sich hier zusammenfinden, ebenso viele Gesellschaftsschichten gibt es hier - Aristokraten, Beamte im Dienst, Handwerker, Engländer, Deutsche, Kaufleute - sie alle bilden Kreise, die sich nur ganz selten miteinander vereinigen, gewöhnlich aber für sich leben und sich unterhalten, ohne daß einer vom andern etwas weiß."

Besonders augenfällig werden die Fremdartigkeit und die unverbundene Vielfalt Petersburgs im Hinblick auf dessen architektonisches Erscheinungsbild, das - wie ausländische Besucher und russische Patrioten immer wieder betont haben - "nichts Überraschendes biete, nichts Nationales", das vielmehr "eine einzige lächerliche Karikatur einiger europäischer Hauptstädte sei". In Dostojewskijs "Petersburger Chronik" von 1847 heißt es dazu (mit impliziter Anspielung auf einen zeitgenössischen Reisebericht des französischen Marquis de Custine): "Griechische Architektur, römische Architektur, byzantinische Architektur, holländische Architektur, gotische Architektur, unsere orthodoxe Architektur - das alles ist auf das seltsamste zusammengewürfelt, so daß es kein einziges wirklich schönes Gebäude gibt!"

Solch gesichts- und geschichtsloser Stilpluralismus war in Petersburg nur deshalb möglich, weil die Stadt gleichsam aus dem Nichts geschaffen wurde, ihre Erbauer - mehrheitlich Italiener, Franzosen, Deutsche, Schweizer - folglich keine Rücksicht nehmen mußten auf bereits bestehende Bausubstanz. Künstlichkeit und Theatralität konnten deshalb so deutlich hervortreten, weil hier binnen kurzer Zeit Hunderte von repräsentativen Bauwerken in allen möglichen Epochenstilen - von der ägyptischen und griechischen Antike bis hin zum Klassizismus und Rokoko - errichtet werden mußten, um staatlichen wie privaten Interessen zu entsprechen. Bemerkenswert ist, daß selbst ein konservativer, betont europakritischer Autor wie Dostojewskij die kompilative architektonische Szenerie Petersburgs keineswegs nur als Abklatsch westlicher Vorbilder, sondern als durchaus eigenständige Hervorbringung zu würdigen wußte: "Selbst ihre Vielfalt ist ein Zeugnis der Einheit von Denken und Handeln. Diese in holländischer Architektur gehaltenen Gebäude erinnern an die Zeit Peters des Großen. Dieses Bauwerk, im Geschmack eines Rastrelli, läßt an das Zeitalter Katharinas denken, jenes, im griechischen und römischen Stil, an eine etwas spätere Epoche, alles zusammen jedoch erinnert an die Geschichte des europäischen Lebens von Petersburg und ganz Rußland."

Die Kompilation des Fremden, des Unrussischen, soviel kann man Dostojewskijs Kommentar entnehmen, fügt sich in der Summe dann doch wieder zu einem Ganzen, das durchaus russisch geprägt ist. Der oftmals mit kritischem Impetus berufene Nachahmungscharakter russischer Kulturleistungen wird hier ins Positive gewendet - Dostojewskij nimmt damit seine viel späteren Thesen zur "allweltlichen", "allmenschlichen" Resonanzfähigkeit der russischen Seele vorweg, deren unbeschränkte Einfühlungs- und Aneignungskraft jedweden imitativen Akt als eigenständige Leistung beglaubigt. Noch im "Tagebuch eines Schriftstellers" von 1873 rühmt Dostojewskij das Russentum dafür, daß es "die Genien anderer Nationen in seine Seele aufzunehmen" vermag, "ohne irgendwelche Unterschiede zu machen". Und wiederum mit Blick auf Petersburgs architektonisches Weichbild kommt er zu dem paradoxalen Schluß, daß für den Russen eben das Imitative auch das Kreative sei: "Überhaupt ist die Architektur von ganz Petersburg äußerst charaktervoll und originell und hat mich schon immer verblüfft - gerade dadurch, daß sie die ganze Charakterlosigkeit und Unpersönlichkeit dieser Stadt ausdrückt, vom Beginn ihres Bestehens an."

Eine vergleichbare Position hatte Gogol bereits 1833/34 in seinen kaum beachteten Notizen "Über die Architektur unserer heutigen Zeit" ganz nebenbei markiert, dort und damals allerdings ohne expliziten Bezug auf Petersburg. Gogol verwahrt sich gegen die Vorherrschaft eines jeweils "einzigen Stils", der einer ganzen Epoche den Stempel aufzudrücken vermöchte, und er plädiert statt dessen für einen stilistischen Pluralismus, der "mehrere Stilrichtungen in sich vereint": "Soll sich doch in einer und derselben Straße düstere Gotik neben den mit üppigem Zierat beladenen Baustil und den monumentalen ägyptischen oder den von harmonischer Ausgeglichenheit bestimmten griechischen reihen. Möge sie doch alle beieinander den betrachtenden Blicken darbieten: die leicht gewölbte milchige Kuppel ebenso wie die von religiösem Geist geprägte nicht enden wollende Spitze, die orientalische Mitra, das italienische flache Dach, den geschwungenen flämischen Giebel, die vierkantige Pyramide, die runde Säule, den kantigen Obelisken."

Wie ein fernes Echo auf Gogols Vision einer synthetisierenden Baukunst, die sich nicht durch Originalität, sondern umgekehrt durch die Übernahme und Verknüpfung diverser, auch gegensätzlicher Stilformationen auszeichnet, nimmt man die Reflexionen zur Kenntnis, die der Maler und Kunsthistoriker Alexander Benois 1902 dem "Pittoresken Petersburg" gewidmet hat, als auch in Rußland das Wagnersche Konzept des Gesamtkunstwerks zur Diskussion stand und die symbolistische Dichtung sich einer Poetik verschrieb, die mehr auf Übertragung, auf Nachbildung, auf Adaptation denn auf Originalität angelegt war - Übertragung musikalischer Qualitäten auf die Sprachkunst, "schöpferische" Aneignung fremdsprachiger Texte, Vermengung literarischer Genres (Lyrik/Drama, Erzählung/Essay). Wiederum also mit Bezug auf die "grandiose und schöne Stadt" im Norden Rußlands heißt es dementsprechend bei Benois: "Die Art der Häuser, der Kirchen und Paläste, die Ausmaße der Straßen, der Plan - alles war gänzlich eigenständig. Alle Bestandteile waren natürlich entlehnt: die Säulen, Ziergiebel, Pilaster und später die klassizistischen Basreliefs, Attiken und Vasen wurden in Frankreich, Italien und Deutschland geborgt. Dennoch wurde dies alles derart eigenständig gestaltet, daß schließlich etwas Prächtiges und gänzlich Eigenartiges entstand."

Das "fremdartige", "künstliche", "phantastische" Petersburg wird hier als vertraute Lebenswelt vorgeführt, die von weit her "entlehnten" und souverän arrangierten Einzelteile fügen sich zu einer neuen, durchaus "eigenartigen", "eigenständigen" Ganzheit, die äußerlich völlig "unrussisch" wirkt, ihrem Wesen nach aber als authentisch russisch gelten kann. Die kulturelle "Eigenart" und "Eigenständigkeit" Rußlands erweist sich - und erschöpft sich auch - in ihrer konsequenten Zitathaftigkeit, die Originalität russischer Kulturleistungen ist weniger durch Originale, vielmehr durch originell aufbereitete Imitate und Kompilate belegt. Im Gegenzug zu den Prioritäts- und Innovationspostulaten der frühsowjetischen künstlerischen Avantgarde hat Ossip Mandelstam noch 1923 in einem poetologischen Essay ("Sturm und Drang") darauf hingewiesen, daß die "eigentlich schöpferischen Epochen" in der literarischen Kultur Rußlands "nicht Epochen der Erfindung, sondern der Nachahmung" gewesen seien, und in einer gleichzeitig verfaßten andern Schrift ("Menschen-Weizen") plädiert er generell für die Abschaffung des Konzepts der "Nationalkultur" zugunsten eines ganzheitlichen europäischen Kulturverständnisses: "Der Weg aus der nationalen Zersplitterung, vom Zustand des einzelnen Korns im Sack bis hin zur Welteinheit, zur Internationale führt für uns über die Wiedergeburt des europäischen Bewußtseins, die Wiederherstellung des Europäertums als unserer großen Nationalität."

Petersburg als die "europäischste" Stadt Rußlands - Schmelztiegel der Nationalitäten und nationaler Epochenstile - wäre demnach zugleich eine authentisch russische Stadt. Schon Alexander Herzen, dem eine der klügsten Analysen des Phänomens zu verdanken ist ("Moskau und Petersburg", 1842), hat betont: "Über Rußlands Gegenwart sprechen heißt über Petersburg sprechen, über diese in jeder Hinsicht geschichtslose Stadt . . ." Das eigentlich Russische an dieser Stadt ist die Verknüpfung aller möglichen und beliebig vieler Fremdelemente zu einer "gigantischen Globalkompilation" (Konstantin Leontjew), die in ihrer programmatischen Stillosigkeit eine eigene Physiognomie entwickelt hat, deren überzeitliche und transnationale Charakteristika - hervorgegangen aus dem ingeniösen Spiel mit Zitaten und Allusionen, Kopien und Klischees, Remakes und Übertragungen - die von Dostojewskij propagierte russische "Allweltlichkeit" einlösen und darüber hinaus vieles vorwegnehmen, was erst die sogenannte Postmoderne mit ihrem multikulturellen Aneignungs- und Umsetzungsbegehren als globalen Epochenstil realisiert hat. Kein Wunder also, wenn sich russische Befürworter und Verächter des Postmodernismus heute zumindest darin einig sind, daß dessen Postulate in Rußland - vorab in dessen "zweiter" Hauptstadt St. Petersburg - schon immer erfüllt oder jedenfalls vorgeprägt gewesen seien.

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"Man ist sich nie sicher, was einem aus dieser Aufzeichnung entgegenschallt: Hohngelächter oder Verzweiflungsschrei. Zwar scheint der Versuch zunächst zu ergeben, daß jede Geste zur lächerlichen Verrenkung gerät: Die Lust des Senators an der Geometrie des Newski-Prospekts, dem Inbegriff seines Staatsgedankens, gipfelt im Triumph zweier Kuben - Kutsche und Klosett. Der terroristische Akt seines Sohnes endet wie der amouröse : blamabel für alle Seiten. Sofia Lichtutina, sein Schwarm , findet in ihm nicht den erträumten tragischen Hermann aus Puschkin-Tschaikowskis "Pique Dame", sondern einen Tolpatsch mit Froschvisage, und der Selbstmordversuch ihres Mannes schlägt kläglich fehl - zerstört ist nicht sein Leben, sondern die Zimmerdecke. Die einzige Tat, die wirklich gelingt, ist die Hinrichtung eines Provokateurs mittels einer Nagelschere, aber sie ist das Werk eines Wahnsinnigen - in der Haltung des "Ehernen Reiters" hockt der Rächer Dudkin mit hocherhobener Schere auf dem nackten Leich nam. Doch so unansehnlich und zweideutig die Verrenkungen immer sein mögen, entsprungen sind sie einer Sehnsucht, der Sehnsucht, sich zu übersteigen, die Einsperrung in sich selbst zu beenden, und sei es durch die Explosion einer Bombe." (Fritz Mierau)
»...ein Weltbuch über Europa und Asien.«